Die Demokratie als Wettbewerb der politischen Ideen

Zeitgenössischer Stich von der Paulskirchenversammlung

Die erste deutsche Verfassung wurde bereits 1849 in der Frankfurter Paulskirche beschlossen. Sie trat aber nie in Kraft.

Die Demokratie ist nicht nur - wörtlich übersetzt - 'Volksherrschaft'. Es wäre eine ziemlich untaugliche Idee, die frühere Herrschaft des Adels oder eines Tyrannen einfach durch die Herrschaft eines Volkes zu ersetzen. Denn 'das Volk' ist undefiniert, sowohl hinsichtlich seiner Mitglieder als auch hinsichtlich seiner inneren Struktur. Die Herrschaft des Volkes - heute: einer diversen Gesellschaft, die sich ihren Staat gibt - ist nur möglich, wenn ihre Freiheit der Ausdruck ihrer inneren Vielfalt ist.

Die zentrale Idee der Demokratie erschöpft sich also nicht darin, dass nun statt eines Königs oder Kaisers das Gemeinwesen selbst die Herrschaft über sich innehat. Dies jetzt auch eine ganz neurartige Entscheidungsfindung voraus, wer und auf welche Weise jemand das Gemeininteresse vertreten soll. Die Lösung dieser Aufgabe ist der eigentliche Beginn der europäischen Moderne: Statt der traditionellen Erbfolge an der Spitze eines Staates gibt es nunmehr Wahlen, und die Wettbewerber:innen um die höchsten Regierungsämter müssen um die Gunst des Wahlpublikums werben. Als Mittler zwischen der Regierung und der Gesellschaft steht ein Parlament, in dem alle relevanten politischen Strömungen des Gemeinwesens vertreten sind, und aus dessen Mitte in regelmäßigen Abständen in freier und geheimer Wahl die Regierung hervorgeht.

Das eigentliche Wunderkind der Demokratie ist aber noch ein anderes, nämlich die Ersetzung des früher oft physischen Machtkampfes der jeweiligen Thronanwärter:innen durch einen Kampf der politischen Gestaltungsideen. Plötzlich geht es nicht mehr darum, die Gegner einfach physisch auszuschalten - wovon noch ein Großteil des Shakespear'schen Werkes handelt - sondern das wählende Publikum von den Vorstellungen der jeweiligen Wettbewerber:innen zu überzeugen. De alte politische Dynamik des reinen Machtkampfes verwandelt sich damit in einen Wettbewerb der politischen Gestaltungs- und Entwicklungsideen. Damit werden in der Demokratie also nicht nur die Träger der politischen Herrschaft anders definiert, sondern der Begriff 'Politik' bekommt überhaupt erst seine heutige Bedeutung. Es ist kein Zufall, dass bis zu den politischen Umwälzungen des 19. Jahrhunderts praktisch nirgends von Politik die Rede war. Es gab nur Herrschaftshandeln. Mit dem Aufstieg der Demokratie ändert sich folglich die gesamte Entwicklungsdynamik eines Gemeinwesens: Im Grunde sind wir jetzt alle Politkiker. Der Wettbewerb der Ideen verweist den alten Machtkampf auf den zweiten Platz. Wer ein hohes politisches Amt anstrebt und das noch nicht verstanden hat, sollte besser nicht gewählt werden.

Die finale Abtimmung über das deutsche Grundgesetzes 1949

Die finale Abtimmung über das deutsche Grundgesetzes durch den Parlamentarischen Rat im Jahr 1949

Diese Idee des primären politischen Ideenwettbewerbs, so umwälzend sie ist, bringt freilich erhebliche Komplikationen mit sich: Ständige Diskussionen, mancherlei Unaufrichtigkeiten der Wettbewerber, schlussendlich enttäuschende Wettbewerbssieger, eine Flut von Gesetzes und vieles Unbequeme mehr.

Die Demokratie ist dennoch eine gute Idee, auch praktisch. Unter ihrer Führung hat der Wohlstand der demokratischen Staaten sprunghaft zugenommen (allerdigs, was hier nicht verschwiegen werden sollte, auch durch den parallelen Kolonialismus). Doch ist der jugendliche Schwung der Demokratie mittlerweile in die Jahre gekommen, das lässt sich kaum leugenen. Das liegt nicht zuletzt daran, dass mit dem immens gewachsener Reichtung auch ein ungehemmter Konsumismus einhergeht. Viele Mitglieder der demokratischen Gesellschaften verfolgen hauptsächlich ihre privaten Interessen und zeigen entweder zu wenig oder ein fanatisches, häufig unzufrieden-intolerantes Engagement in allen politischen Fragen. Immer mehr Personen gerade in der westlichen Welt haben deshalb Zweifel, ob die Demokratie überhaupt noch die beste Regierungsform für ihre Gesellschaft ist. Dabei erscheint ihnen häufig genau das besser, wovon die Europäer vor 250 Jahren endgültig die Nase voll hatten, nämlich ein absoluter, autoritärer Herrscher, der 'für Ruhe und Ordnung' sorgt.

Moderne Zweifler an der Demokratie äußern ihre Unzufriedenheit zusammengefasst häufig so:

(1) Die Demokratie sei eigentlich nur eine Maske, unter der sich rücksichtslose Profiteure zu einer neuen Elite zusammentun und die übrige Bevölkerung zum eigenen Vorteil übers Ohr hauen. Die kleinen Leute seien die Opfer dieser Entwicklung; das ganze System sei sehr ungerecht.

(2) Es gebe keine soziale Identität mehr. Die Demokratie sei wegen ihrer ideologisch verblendeten Offenheit gegenüber anderen Kulturen zu einem chaotischen Ramschladen unterschiedlichster Vorstellungen über die gemeinsame Zukunft verkommen, was letztlich zum Zerfall der jeweiligen Gesellschaft führe.

(3) Die Demokratie sei wegen wuchernder gesetzlicher Regelungen und Behörden unfähig, ihre tatsächlichen Probleme zu lösen. Sie bleibe zunehmend im Chaos ihrer ideologischen Streitereien stecken. Die Bürger:innen würden im überbordenden Behördenwust vollkommen untergehen und den Sinn vieler Regeln auch nicht mehr verstehen.

(4) In der Demokratie würden wegen fehlender moralischer Autoritäten und Vorbiler die Sitten allgemein verkommen. Egoismus und Rücksichtslosigkeit würden die natürliche
Solidarität der Gesellschaft zerstören, die nur mit gemeinsamen und öffentlich respektierten Sitten aufrecht erhalten werden könne.

Allen drei Punkten gemeinsam ist, dass sie auf sehr einseitig gewählten Tatsachen beruhen. Nur deshalb können sie so stark die Gefühle der Kritiker ansprechen. Man könnte an den heutigen gesellschaftlichen Zuständen auch ganz andere Dinge hervorheben. Eine langsame, aber stetige Veränderung der Einstellung der demokratischen Individuen gegenüber ihrer Gesellschaft  und ihrem Staat, beschleunigt seit den 1980er Jahren, haben dieses Verhältnis insgesamt ins negative Gefühlsspektrum abgleiten lassen. Schimpfen ist ohnehin einfacher als sich zu beteiligen und es besser zu machen. Das wiederum schwächt die demokratische Idee nochmals. Wir stehen hier also vor einer Abwärtsspirale in der öffentlichen Empfindung der politischen Verhältnisse, obwohl hierzu objektiv, d.h. in Anbetracht messbarer Entwicklungsdaten z.B. der deutschen Gesellschaft, kein Anlass besteht.

Gefühle sind jedoch weder falsch noch richtig. Sie sind eine subjektive Tatsache. Personen mit starken Gefühlen lassen sich diese in der Regel auch nicht ausreden. Nachdem sich nun die Verabschiedung des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland dieses Jahr zum 75. Mal jährt, sollte man aber daran erinnern, welche grundlegenden Freiheiten eine Gesellschaft bietet, damit man sich überhaupt öffentlich in solchen Gefühlen ergehen kann - und die betreffende Gesellschaft daran nicht gleich zugrunde geht. Zu bedenken ist ferner, dass die Idee der Demokratie, wie sie vor mehr als 200 Jahren in den USA und Frankreich plötzlich aufkam, von einem sehr anspruchsvollen Menschenbild ausgeht, das offenbar so schnell nicht zu erfüllen ist: Menschen sind nicht immer vernünftig, selbstlos nur dem Gemeinwohl verpflichtet, vorsichtig ihren eigenen Gefühlen gegenüber und tolerant gegenüber Andersdenkenden und -fühlenden und um objektive Gerechtigkeit bemüht. Das heißt jedoch nicht, dass der Versuch, eine große Gesellschaft auf dieses Ideal hinzubewegen, von vornherein zum Scheitern verurteilt ist. Es dauert nur offensichtlich sehr lange, bis hier selbst kleine Schritte vorwärts gelingen, vielleicht sogar noch einige Jahrhunderte, gar Jahrtausende?

Also: Ecce homo! Habe Geduld, Mensch, auch wenn dein Traum von einer guten Welt wahrscheinlich nicht mehr in deinem Leben wahr werden wird. (ws)

Frühere Leitartikel

Was ist ursprünglicher: Qualität oder Quantität?

Zu den nicht gerade dringendsten Fragen unserer Zeit gehören metaphysische Grundprobleme. Deren gibt es in allen Kulturen und Gesellschaften nicht wenige. Weil leider die meisten von ihnen trotz Jahrhunderte langer Behandlung immer noch nicht eindeutig beantwortet wird, verlieren viele Menschen schnell das Interesse daran. Ich wende mich hier nun an diejenigen Untentwegten, die sich bisher nicht haben abschrecken lassen. Es geht im Folgenden um etwas sehr Grundsätzliches. Die Frage lautet: Was ist ontologisch vorgängig, die Qualität oder die Quantität (von Dingen, Prozessen oder was auch immer)?

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Künstliche Unvernunft

Im aktuellen Heft des Economist (Heft vom 21.04.2018, S. 14 oder online hier) wird berichtet, dass die Techniker von IKEA unter großem Aufwand es geschafft haben, einen Roboter so zu programmieren, dass er einen IKEA-Stuhl zusammenbauen kann. Oh Mann! Er braucht dafür allerdings 20 Minuten und somit ein Mehrfaches der Zeit, die ein durchschnittlich begabter Mensch für die Aufgabe benötigt. Auch Tesla, so wird berichtet, schafft seine Produktionsversprechen nicht, weil Elon Musk sich mit der Automatisierbarkeit im Autobau immer wieder massiv verschätzt. Inzwischen gibt er es sogar öffentlich zu. Irgendetwas stimmt nicht mit der Künstlichen Intelligenz.

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Freiheitssehnsucht und Lebenssinn

Es dürfte für wenig Aufregung sorgen zu behaupten, auch wenn es nicht beweisbar ist, dass 'der Mensch' nach Freiheit strebt, und dass er aber auch nach Sinnhaftigkeit seines Daseins verlangt. Diese Auffassung entspringt aber keineswegs nur privaten Empfindsamkeiten. Im weitesten Sinne kann man wohl sagen, dass es in den modernen westlichen Gesellschaften geradezu das oberste Staatsziel ist (neben der materiellen Grundversorgung der Bevölkerung), genau dieses Streben nach Freiheit und Lebenssinn zu befriedigen.

An einer solchen Forderung ist gleichwohl so ziemlich jedes Wort fraglich. Steckt hinter dem Ausdruck 'der Mensch' nicht bereits eine ungeheure Anmaßung, so als ob irgend jemand wissen könne, was für alle einzelnen Menschen gleichermaßen gelte? Streben wirklich alle Menschen nach Freiheit? Und wenn sie das tun, nach welcher? Handelt es sich bei dem Begriff der Freiheit nicht womöglich eine Bedeutungswolke im Wittgenstein'schen Sinne, deren einzelne Felder oder Bereiche nur eine Familienähnlichkeit aufweisen, aber keinen gemeinsamen Bedeutungskern? Und was ist 'Sinn' mehr als eine weitere solche Bedeutungswolke, die kaum zu klarerer extensionaler und intensionaler Vorstellung von ihr zu bringen ist?

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Emergenz: Hoppla, was ist denn das?

Die Einsicht ist inzwischen unvermeidlich, dass die Welt sich entwickelt haben muss, und zwar nicht nur im Bereich des Lebendigen auf unserer heiß geliebten Erde, sondern auch das Universum insgesamt. Denn selbst seit dem Big Bang, also dem Urknall, bis zur Bildung der ersten Atomkerne vergingen in den Zeitbegriffen der modernen Physik bereits Millionen Jahre. Diese kosmische Fähigkeit zur Entwicklung mag uns fröhlich machen, denn immerhin legt sie nahe, dass wir zur Krone einer solchen Schöpfungspotenz gehören. Sie ist aber auch ein tiefes Rätsel, denn der alte Satz "Ex nihilo nihil fit", zu deutsch: "Aus Nichts entsteht nichts", lässt derlei eigentlich nicht zu. Wie kann es also sein, dass sich in einer Ursuppe plötzlich einzelne Elementarteilchen mit Eigenschaften bilden, die in der Ursuppe noch nicht vorhanden waren?

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Der seltsame Hype um die Künstliche Intelligenz

Seit Jahren nun schon steigt die Aufregung: Die Über-Maschinen kommen! Sie kommen aber nicht nur einfach so daher, das tun sie ja schon lange. Nein, sie drängeln sich mit algorithmisch hochfrisierten Elektronengehirnen in jeden Winkel unseres Lebens, schaffen es gar bis auf den Wohnzimmertisch und in die Nachttischlampe. "Igitt, wie schlimm!" schreien die einen, "Ihr seid meine Erlösung und die der ganzen Welt obendrein!" die anderen. Beide Auffassungen und die ganze emotionale Begleitmusik dazu sind einfach kindisch, meint Wolfgang Sohst.

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Der Nomos des Geistes

Die ideologische Erhöhung partikularer Gewalt, gar zur Notwendigkeit des Krieges und als ein Recht der Völker zum Krieg stilisiert  ist nicht diskursfähig, wenn es um den neuen "Nomos der Erde" im Sinne einer geistig universellen Ordnung der Menschheit, trotz aller kulturellen Differenzen, geht. Doch was setzt ein solcher universeller "Nomos des Geistes" in Anbetracht kultureller Vielfalt minimal voraus?

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Der diskrete Charm der Theorie

In seinem umwerfenden Buch "Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte 1960 - 1990" beschreibt Philipp Felsch die intellektuelle Entwicklung Deutschlands jener Epoche. Er verfolgt sie am roten Faden der Geschichte des Merve Verlags im kaputt-kreativen Soziotop des alten West-Berlin. Es ist über weite Strecken die Geschichte einer Kaskade von Enttäuschungen: Gesucht wurde nach dem Ende der Nazizeit und mitten im Kalten Krieg jener Archimedische Punkt, von dem aus sich diese Gesellschaft überhaupt noch verstehen und womöglich sinnvoll verändern lässt. Gefunden wurde am Ende - nichts. Es begann mit strammer Marx-Lektüre und dem Versuch, 'die Arbeiter' an den Fabriktoren zu agitieren, und lief auf Grund in hysterischer Quacksalberei von allem und nichts. Am Ende war da nur noch ein Regen aus pessimistischem Konfetti atomarer Sinnsucher samt ihren Gurus aller nur erdenklichen Couleur. Das ist aber nicht das Ende der Geschichte.

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Christlicher Dschihadismus

Die zur Zeit allerorten stattfindenden Feierlichkeiten zum Gedenken an Martin Luther haben mich als historisch und an der Person des bekannten Reformators interessierten Menschen etwas Zwiespältiges, das schon weit in den Selbstbetrug hineinragt. Ich erspare mir die Wiederholung historischer und biographischer Details der Zeit Luthers, die überall im Überfluss zu finden sind.

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Gullivers Trauma

In seiner Metaphysik, die er vor mehr als 2.300 Jahren schrieb, verurteilt Aristoteles den "Extremisten" Heraklit (4. Buch, 1010a5), dessen Nachfolgern er unterstellt, sie würden der fließenden, sich ständig verändernden Welt jegliche Erkennbarkeit absprechen. So ganz mag Aristoteles dem nicht zustimmen, konzediert aber immerhin, dass "es einen gewissen Grund zu der Meinung gibt, dass es [d.h. das Fließende, sich Verändernde] nicht existiert." Welch sonderbares Statement. Befinden wir uns nicht in dieser sich ständig verändernden Welt? Was in dieser Welt steht eigentlich so still, dass wir es wie den armen Gulliver am Boden unserer Erkenntnis mit absoluter Gewissheit festnageln können?

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Platon on the run

Seit dem Aufstieg so genannter Populisten in vielen Ländern der Welt fragt sich das erschütterte andersdenkende Publikum, wie der Aufstieg z.B. eines Donald Trump, der überraschende Ausgang des Brexit-Votums und der Machtzuwachs aggressiv-nationalistischer Politiker vom Schlage Recep Tayyip Erdoğans oder Jarosław Kaczyńskis möglich waren. Eine der naheliegendsten, wenn auch wohl unzureichenden Erklärungen macht die angeblich zunehmenden wirtschaftlichen Verwerfungen in den betroffenen Ländern dafür verantwortlich. Tatsächlich ist die Situation in den vielen betroffenen Ländern jedoch sehr unterschiedlich; nicht einmal bei der Mehrheit von Ihnen passt das ökonomische Erklärungsmuster.

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