Die Demokratie und der Teufel
Ein kurzer Blick zurück
Wenn wir die Entstehung des modernen Verhältnisses von Individuum, Gesellschaft und Staat betrachten, so ist ein Blick in die zahlreichen Äußerungen der Philosophen der europäischen Aufklärung hilfreich. In dieser Zeit, grob zwischen 1700 und 1800, festigte sich die Vorstellung von jenem politischen Modell, das wir heute 'Demokratie' nennen. Der zentrale Begriff, der wie ein Generalschlüssel dieses ganze Modell auf einen Schlag öffnete und mit einem seinerzeit berauschend neuen Pathos erhellte, ist jener der Vernunft. "Aufklärung ist", in jenem berühmten Satz von Kant, "der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit." ("Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung", in: Berlinische Monatsschrift, 2. Stück, Dezember 1784). Dies ist nur möglich, so wiederum Kant, der die Epoche der Aufklärung bereits von ihrem Ende her sieht, sofern a) sich der Mensch zu seiner Vernunftfähigkeit bekennt und b) sich in seiner Natur allein der Vernunft unterwirft, siehe dazu seine "Grundlegung der Metaphysik der Sitten", ein bis heute unübertroffen radikales Werk in Anspruch und Kühnheit. Es ist aber nicht nur der Entwurf einer neuen Ethik, sondern damit auch der Entwurf einer neuen Gesellschaft - nämlich jener, deren politische Machtverteilung ausschließlich durch Argumente der Vernunft legitimiert werden kann.
Vernunft als Maxime
Nun ist der kantische Entwurf in seinem Kern von vornherein nur als Maxime zu verstehen d.h. als ein immer-fernes Ziel am Horizont, auf das wir zwar hinarbeiten sollen, es aber nie wirklich erreichen werden. Das heißt dennoch, dass "uns" (im Sinne aller Mitglieder eines sozialen Kollektivs) die Vernunft bereits jetzt gegeben ist und wir die Aufgabe haben, zumindest ihre Vorherrschaft im politischen Diskurs durchzusetzen und zu stärken. Das Unglück unserer aktuellen Zeit scheint zu sein, dass dieser helle Leitstern offenbar im Sinkflug begriffen ist. Überall auf der Welt, auch in Deutschland, greift ungezügelte Willkür und auftrumpfende Selbstgerechtigkeit um sich, und dies keineswegs nur bei einigen despotischen Führern, sondern gerade im großen Publikum, das ja solchen Führern erst zu ihrer unbegründeten Macht verhilft.
Seit Kant hat der Teufel also einen neuen oder zumindest zweiten Namen: Unvernunft. Diese zeigt sich in verschiedenen Formen, z.B. der einfachen Unwissenheit, der unüberlegten Affekthandlung, der Übertreibung und der maßlosen Eitelkeit. Mit all diesen Subteufeln ist die erstarkende Pflanze der Demokratie gerade auch nach 1945 gut zurechtgekommen. Die weltweite Gemeinde der Vernünftigen war immer klar in Führung, gab den Ton an und setzte sich selbst in solchen Großkonflikten wie jenem zwischen den Atommächten USA und Sowjetunion letztlich durch. Wie kommt es, dass ihr jüngst mit rasender Geschwindigkeit so viele Mitglieder abhanden kommen, so dass wir womöglich sogar mit einer Machtübernahme der rasend Unvernünftigen rechnen müssen?
Eine andere Erklärung des Problems
Ich wage auf diese viel gestellte Frage eine neue Antwort: Unter den bekannten Formen der Unvernunft breitet sich eine nur vorübergehend (für ungefähr zwei europäische Jahrhunderte) untergeordnete Form mit neuer Kraft aus. Ihre heutige Gestalt ist die unkorrigierbare ideologische Fixierung im Modus affektiver Ekstase. Sie erscheint öffentlich als Hassmails, Morddrohungen, abstruse Verschwörungstheorien, aggressive Diskriminierung, soziale Isolation, am Ende als blanke Gewalt ohne wirklichen Grund noch Ziel.
Nun sind viele Zutaten dieses ungenießbaren Gebräus nicht neu. Immerhin hat das ideologisch in vieler Hinsicht sehr aggressive und intolerante europäische Mittelalter sich häufig genauso gezeigt, wogegen die Aufklärer schließlich opponierten. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert versuchten die europäischen Großmächte dann unter dem Banner nationalistischer Identitätsraster einen Export dieser Idee in die aus ihrer Sicht "übrige" Welt, was wegen des dabei leitenden wirtschaftlichen Ausbeutungswillens nicht nur in einem politischen Desaster endete, sondern auch hinsichtlich der versuchten Vernunftverbreitung leider nur selten Erfolg zeitigte. Indien und Südamerika sind heute die einzigen ehemaligen kolonialen Großräume, wo die Idee einer vernunftbasierten Legitimation politischer Macht zumindest noch theoretisch anerkannt ist. In Russland, China und der Türkei blüht offener Führerkult, jede Art von Dissidenz wird mit breiter Unterstützung der Mehrheit der Bevölkerung radikal bekämpft. Und was in den meisten Staaten Afrikas unterhalb der Sahara geschieht, ist in der Sprache der europäischen Aufklärer einfach unbeschreiblich.
Rührt sie sich noch, die Demokratie?
Ist die Aufklärung und damit die Idee vernunftbasierter Sozialität nur eine kurze historische Ausnahme von der Regel allgemeiner kollektiver Unvernunft gewesen? Ist die Demokratie als das Modell des Zusammenlebens überwiegend reflektierter, informierter, bescheidener, toleranter Menschen in Wirklichkeit längst tot? Wir werden sehen, wie man in einigen Jahrzehnten darüber redet, auf wann man womöglich den Todeszeitpunkt datiert - oder ob sie überraschenderweise doch überlebt hat, schwer geschunden zwar, ächzend unter der Last der Gemeinheiten und Willkür ihrer Gegner, dennoch am Ende wieder auferstanden, bereit, ihre Vorstellungen zu verteidigen. Ihr Problem ist, dass ihre Waffen einer anderen ontologischen Ebene entstammen als jene ihrer Feinde. Vernünftige Menschen kämpfen mit Worten, die anderen mit Schusswaffen und Bomben. Die Vernünftigen kämpfen um das Primat der symbolischen Ordnung vor der physischen unter den Menschen. Das hat schon die Katholische Kirche eingesehen; deswegen und überraschenderweise steht sie heute firm auf der Seite der Vernünftigen, die doch einst, in den Zeiten der Aufklärung, ihre Todesengel waren.
Wenn plausibel ist, was hier gesagt wird, so sind alle gängigen Erklärungen der gegenwärtigen Krise der Vernunft und der Demokratie unzureichend. Weder hat diese Krise primär ökonomische Gründe, noch geht es um eine Revolte der angeblich Ohnmächtigen gegen die angeblich Mächtigen, noch geht es um die nie abgeschlossene Suche nach sozialer Identität. All das spielte sich schon immer und auch noch nach 1945 ab. Ich denke vielmehr, es geht um die anstrengende Anerkennung der zunehmenden Dominanz und zunehmende Komplexität der symbolischen Sphäre einer globalen Gesellschaft über alles Physische, nenne man dies Arbeit, Kapital, Biologie oder Energie. Für sehr viele Menschen scheinen diese Gedanke schlicht unbegreiflich zu sein. Sie deuten den Begriff 'Rechtsstaat' als Betrugsversuch der jeweils Herrschenden an den von ihnen Beherrschten oder bestenfalls als eine leere Illusion. Sie empfinden Toleranz als eine Schwäche, die nur dazu führt, dass sie ausgeraubt werden. Sie sind nicht bereit, die notwendige Repräsentation politischer Macht auch für sich selbst als verbindlich anzuerkennen. Mit einem Wort: Sie sind überfordert.
Sokrates, der irdische Engel
Ich spreche hier aus der Perspektive des Sokrates. Er meinte, dass in Wirklichkeit kein Mensch böse sei, sondern sie oder er nur irgendetwas nicht verstanden habe. Damit kündigte er ein riesiges antikes Bildungsprogramm an, in den Worten von Jürgen Mittelstraß die "erste Aufklärung", das bis heute nicht vollendet ist. Der Teufel saß nie in der Hölle; er lauerte von Anfang an tief in unser aller Köpfe. Ich bin wahrlich kein Katholik, sondern bekennender Atheist. Aber das muss man dieser Religion lassen: Sie hat's trotz aller Gewalttätigkeiten in ihrem Namen schon lange gewusst. Geben wir also die Hoffnung nicht auf, dass jenes mit Sokrates begonnene Bildungsprogramm am Ende doch wieder auf die Beine kommen wird, auch wenn seine Lehrer gerade ein paar blutige Hiebe einstecken müssen. Die Geschichte gibt ihnen Recht. Unvernunft hat auf lange Sicht die geringeren gesellschaftlichen Erfolgschancen. Aber die Aufrechterhaltung des Primats der Vernunft kann uns alle noch teuer zu stehen kommen. Seien wir darauf vorbereitet. (ws)