Freiheitssehnsucht und Lebenssinn

Wie Katz und Maus sind sie, der Lebenssinn und die Freiheit
Wie Katz und Maus sind sie, der Lebenssinn und die Freiheit

Am Anfang war die Zweiheit

Es dürfte für wenig Aufregung sorgen, wenn man behauptet - auch wenn es nicht beweisbar ist -, dass der Mensch nach Freiheit strebt, und dass er andererseits auch nach Sinnhaftigkeit seines Daseins dürstet. Diese Auffassung entspringt keineswegs nur privaten Empfindsamkeiten, die in den gehobenen Smalltalk gehören. Wohl ganz im Gegenteil: Im weitesten Sinne kann man sagen, dass es in den modernen westlichen Gesellschaften geradezu das oberste Staatsziel ist (neben der materiellen Grundversorgung der Bevölkerung), genau dieses Streben nach Freiheit und Lebenssinn zu befriedigen.

An einer solchen Forderung ist gleichwohl so ziemlich jedes Wort fraglich. Steckt hinter dem Ausdruck 'der Mensch' nicht bereits eine ungeheure Anmaßung, so als ob irgend jemand wissen könne, was für alle einzelnen Menschen gleichermaßen gelte? Streben wirklich alle Menschen nach Freiheit? Und wenn sie das tun, nach welcher? Handelt es sich bei dem Begriff der Freiheit nicht womöglich eine Bedeutungswolke im Wittgenstein'schen Sinne, deren einzelne Felder oder Bereiche nur eine Familienähnlichkeit aufweisen, aber keinen gemeinsamen Bedeutungskern? Und was ist 'Sinn' mehr als eine weitere solche Bedeutungswolke, die kaum zu klarerer extensionaler und intensionaler Vorstellung von ihr zu bringen ist?

Im Zwielicht der Widersprüchlichkeit

Die Undeutlichkeit solcher Forderungen und Behauptungen hat allerdings, und das macht die Sache interessant, offenbar keinerlei Rückwirkung auf die Dringlichkeit dessen, um was es dabei geht. Wir spüren nur, dass etwas ständig drängt, mal stärker, mal schwächer, aber doch zu allen Zeiten und zumindest in allen größeren Kollektiven, Gesellschaften und ganzen Kulturen, vielleicht mit Ausnahme kleiner Stammesgesellschaften. Manchmal, nämlich in revolutionären Zeite, sogar ungeheuerlich stark. Dann aber kann es, wenn man sich über die Natur dieses Drängens etwas klarer werden will, nur um zwei seiner Aspekte gehen: Wieso drängt uns Menschen eigentlich über die materiellen Grundbedürfnisse hinaus überhaupt so grundsätzlich etwas? Und worin liegt die besondere Dringlichkeit dessen, was uns zur Gewinnung und Erhaltung von Freiheit und Lebenssinn treibt? Dies sind vielleicht die tiefsten Fragen, die man sich als Mensch je stellen kann.

Natürlich drängt uns im Alltag auch vieles anderes, z.B. die Bürokollegen, der Staat, der Hunger nach Nahrung und Anerkennung, das Schlafbedürfnis und manches mehr. Solche ebenfalls drängenden Alltagserscheinungen erscheinen doch aber recht nüchtern, greifbar, kommunizier- und erklärbar, also objektiv und damit relativ leicht zu befriedigen. Sie sind in gewissem Umfange sogar justiziabel. Nun ist auch das Bedürfnis nach Freiheit, im verfassungsrechtlichen Sinn zumindest, durchaus rechtlich greifbar, dort im Wesentlichen aber nur als Abwehrrecht gegenüber einem zudringlichen Staat anerkannt. Es ist hierin dem Isaiah Berlin'schen Freiheitsbegriff recht nahe. Aber ein Recht auf Lebensinn? Das kann es nicht geben. Und genauso wenig lässt er sich verallgemeinern, objektivieren und womöglich in konkrete Handlungsvorschriften fassen, wie man ihn generiert und erhält. Wer unter starkem Mangel an Lebenssinn leidet, hat in indessen ein sogar medizinisch anerkanntes Problem, auch wenn sich häufig nicht recht ergründen lässt, wie man einer solchen Person helfen kann. Hat sie ein psychisches Problem, eines am Arbeitsplatz, in der Ehe oder gar mit unserem gesamten politischen System? Schwierige Frage.

Nun werden viele Menschen vielleicht einwenden, dass die Freiheit gar kein Antagonist des Lebenssinns sei, sondern vielmehr ihre wichtigste Voraussetzung. Schon richtig; wenn es nur so einfach wäre. Es geht hier offensichtlich um ein dynamisches Gleichgewicht zweier Grundbedürfnisse, die einander genauso gut ergänzen wie auch scharf widersprechen können.

Ein Balanceakt

Ich meine, dass wir in die hier beschriebenen Schwierigkeiten zumindest etwas Licht bringen können, wenn wir überhaupt anerkennen, dass unser Bedürfnis nach Freiheit nicht nur positiv (im Sinne einer Voraussetzung), sondern auch negativ (als Widerspruch) stark mit unserem Bedürfnis nach Lebenssinn verbunden ist. In der kürzesten mir hier möglichen Form möchte ich 'Lebenssinn' als das Ziel aller Bemühung um existenziell bestätigende Integration beschreiben. Der innige Zusammenhang von Freiheit und einem solchem Sinn ist infolge ihrer tie gehenden Entgegensetzung keineswegs banal. Man bedenke beispielsweise, dass mit einem nur negativen Freiheitsbegriff, der uns die Freiheit vor allem als Abwesenheit äußeren Zwanges erklärt, noch kein Wort darüber gesagt ist, wie man allein unter dieser Voraussetzung auch einen Sinn in seinem Dasein entdecken können soll. Offenbar bedarf es dazu am Ende doch einiger positiver Vermögen, um die gegebenen Freiheit überhaupt zur Erzeugung von Lebenssinn nutzen zu können. Da endet sie nun, die Weisheit des negativen Freiheitsbedürfnisses, ja strandet geradezu kläglich. Es ist nicht einmal unwahrscheinlich, dass ein negativ-freier Mensch seine Sinnleere überhaupt erst entdeckt oder einen Sinnmangel zumindest viel stärker empfindet als jemand, der als Unfreier zwar von seiner Freiheit träumt, innerhalb seiner Unfreiheit aber zumindest einen funktionalen Sinn seiner Existenz erfährt, auch wenn dieser Sinn ein ihm fremder ist. So zugespitzt ist die Frage gar nicht absurd, wer unter solchen Umständen überhaupt noch das Risiko absoluter sozialer Freiheit eingehen möchte. Tyrannen aller Couleur unserer Zeit nutzen genau diese Ängste, um ihre Herrschaft zu stabilisieren. Denn schon die milde Form der dann auftretenden Anschlussprobleme kann unangenehm sein: Wer frei von allen äußeren Zwängen ist, langweilt sich bekanntlich schnell, kann im Weiteren schrullig, gefühlskalt, gar asozial werden und am Ende in schwere, depressive Orientierungslosigkeit verfallen.

Die Balance zu halten in jenem Antagonismus von Freiheit und Lebenssinn ist freilich ein anstrengendes und empfindliches Unternehmen. Ständig müssen wir das Verhältnis beider Bedürfnisse austarieren. Nicht selten übrigens fühle ich mich am wohlsten, wenn ich im Zustand des berühmten Flow aufgehe, d.h. wie von selbst in einer Aufgabe schwimme und sich die Grenze zwischen mir und der dynamischen Umwelt ganz und gar auflöst. Dann bin ich in jenem von vielen Kulturen geradezu als ideal gepriesenen Zustand, der sich dadurch auszeichnet, dass die Differenz von Freiheits- und Sinnbedürfnis plötzlich aufgehoben ist, und zwar in Gestalt einer aktuellen Vollzugseinheit, die vor dynamischer Kraft nur so zu strotzen scheint. So betrachtet geht es womöglich gar nicht um die Aufklärung der Begriffe 'Freiheit' und 'Sinn' in ihrem Verhältnis zueinander, sondern vielmehr um die Einsicht, dass ihre intrapsychische und binnensoziale Differenz, ihr Auseinanderklaffen in und zwischen unseren Köpfen, das eigentliche Problem und damit die eigentliche, fortgesetzte Aufgabe ist. Damit scheidet sich auch vollständig die ganz andere Frage ab, was politische Freiheit als der sozusagen öffentliche Bereich der negativen Freiheit eigentlich ist. Diese Frage ist eine geradezu sonnenklare und gehört deshalb auch woanders besprochen, nämlich in der politischen Arena. Der Mensch mag ein primär soziales Wesen sein. Aber Sozialität und Politik sind dennoch etwas Verschiedenes, auch wenn dies von Leuten wie Niccolò Machiavelli bis Panajotis Kondylis häufig und beharrlich geleugnet wurde.

Wer hat Angst vor der großen Kluft?

Doch kommen wir noch einmal zurück zu jenem Drängen, jener schwer begreifbaren Dynamik, die das häufig gespaltene Duo aus Freiheits- und Sinnbedürfnis überhaupt erst hervorbringt. Wir haben es hier offenbar mit einer Differenzierung zu tun, die allen nichtmenschlichen Lebewesen fremd sein dürfte. Nun sagen die klugen Leute fast einer jeden Kultur und zu fast allen Zeiten zwar immer, dass der Mensch sich durch seine Fähigkeit zu denken, zu sprechen, d.h. durch sein Vermögen, symbolisch mit seiner Umwelt zu interagieren, von den übrigen Kreaturen dieser Welt unterscheide. Schon richtig, allein: Ist dies nicht nur eine Art Technik, um mit jenem viel tieferen Problem der Spaltung dieses in der übrigens Flora und Fauna noch ungeschiedenen Lebensdranges in Freiheits- und Sinnbedürfnis zurecht zu kommen? Mit anderen Worten, ist jenen Fähigkeiten zur symbolischen Kommunikation etc. nicht etwas vorgängig, was am Ende viel wichtiger ist als meine Fähigkeit zu denken und zu sprechen? Diese Frage kann ich hier nur aufwerfen. Sie ist aber weder trivial noch allgemein bewusst. Im Gegenteil, mir ist speziell diese Fragestellung in den großen Schriften der religiösen und philosophischen Literatur immer nur implizit oder am Rande begegnet.

Auf philosophischem Terrain war es vielleicht einzig Hegel, der diese Fragestellung ausdrücklich zum Zentrum seines ganzen Systems erhob. Leider ist das Ergebnis seiner Bemühungen, abgesehen von aller methodischer Genialität und einer Unzahl von Partialeinsichten, insgesamt nicht nur wenig überzeugend, sondern geradezu abstrus: Die Aufgabe der Menschen soll es sein, den gesamten Kosmos zu sich selbst zu bringen, indem der Mensch sich und damit den ganzen Kosmos obendrein auf seinen endgültigen Begriff bringt? Doch genau in der Abstrusität des Hegelschen Unternehmens zeigt sich die Dringlichkeit seines Anliegens: So intensiv wir diese Abstrusität empfinden, so stark drängt es uns 'dahin', d.h. zur Bewältigung jener schwierigen dynamischen Differenz zwischen Freiheit und Sinn. Die Erfüllung dieser Aufgabe wird sicherlich nicht in der regressiven Rückkehr vor den dynamischen Spaltungspunkt erreichbar sein. (Das hat wohl niemand besser formuliert als Eric Voegelin in der tiefgründigen und selbstkritischen Einleitung zum 8. Band seines opus magnum "Ordnung und Geschichte", in der er auch Hegel scharf angreift. Und umgekehrt hat wohl niemand Hegel in dieser Angelegenheit besser verteidigt als Charles Taylor in seinem Hegel-Buch.)

An die Realisierbarkeit der Regression zu glauben wäre nun aber wahrlich reiner Mystizismus; die großen Mystiker des Morgen- und Abendlandes haben oft in dieser Vorstellung geschwelgt. Nein; mit der Spannung dieser Differenz zu leben heißt, sich von der Hoffnung auf eine Wiedervereinigung des existenziell grundlegend Verschiedenen endgültig zu verabschieden. Stattdessen bleibt uns wohl nur die Mühe des Sisyphos, ständig neu an den Formen der Vermittlung zwischen diesen Gegenpolen zu arbeiten, also den Spannungsbogen etwas erträglicher zu machen. Hauptsache, er stürzt nicht ein.

Fortschritt als existenzielles Rettungsmanöver

Mit der Erträglichkeit stellt sich übrigens, so vermute ich, auch die typisch menschliche Produktivität ein, d.h. das Bedürfnis, selbst gesteckte Ziele zu erreichen und sich die Mittel dafür zutrechtzulegen, sie teilweise auch zu erreichen. Andererseits bedeutet die Aufrechterhaltung des Spannungsbogens zwischen Freiheit und Sinn auch die Genese des Gespenstes ewiger Fortschrittssucht, die ein so markantes Kennzeichen unserer heutigen, globalisierten Befindlichkeit ist. Diese wäre für mich sonst ganz und gar unerklärlich und folglich ideologisch zu bekämpfen. Täuschen wir uns also nicht: Das Erreichen aller unserer individuellen und kollektiven Ziele wäre der allgemeine psychosoziale GAU, es wäre das Ende unserer Existenz als Menschen. Das Aushalten des besagten Spannungsbogens zwischen Freiheits- und Sinnbedürfnis gleicht deshalb einem unbedingt notwendigen Stolpern vorwärts, um ihrer Spannung zu entkommen. Tatsächlich ist es nur ein Voranschreiten in immer neue Formen der ursprünglich selben Differenz, deren dynamischer Vorrat unerschöpflich ist. Nun denn, lasst uns also vorwärts stolpern und dabei möglichst nicht fallen. (ws)

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