Rita Floyd: The Duty to Secure
Rita Floyd: The Duty to Secure. From Just to Mandatory Securitization
Cambridge University Press, Cambridge (UK) 2024, ISBN: 978-1-00946894-7 (siehe hier)
Es dürfte wohl kaum ein Thema des heutigen Völkerrechts geben, das kontroverser diskutiert und gleichzeitig globalpolitisch relevanter ist als die Möglichkeit und damit auch das Recht – vor allem von Staaten – , in fremden Krisen und Konflikten zu intervenieren, insbesondere aus humanitären, aber auch aus anderen, völkerrechtlich gebotenen Gründen. Die britische Politikwissenschaftlerin Rita Floyd hat kürzlich einen wichtigen Beitrag mit dem Titel The Duty to Secure. From Just to Mandatory Securitization vorgelegt, in dem sie dafür eintritt, dass die bisher bestehende Erlaubnis und damit Rechtfertigung einer solchen Intervention zu einer Interventionspflicht ausgebaut werde sollte, und zwar mit einem Fokus auf der nicht-militärischen Konfliktlösung. Sie untersucht darin detailliert die moralischen, rechtlichen und praktischen Aspekte einer solchen Erweiterung der völkerrechtlichen Konfliktlösungsmöglichkeiten, was aber auch eine Hochstufung der bisher nur moralischen Verantwortung zur völkerrechtlichen Handlungspflicht mit sich bringt. Ihr Buch schließt an ihre vorangehende Monographie von 2019 mit dem Titel The Morality of Security. A Theory of Just Securitization (Cambridge University Press, 2019) an.
Um die Komplexität des Themas zu verstehen, ist es zunächst notwendig, sich mit dem völkerrechtlichen Hintergrund des gesamten Fragenkomplexes zu beschäftigen. Grundlage der bisherigen Interventionserlaubnis ist ein völkerrechtliches Konzept mit dem Titel Responsibility to protect (häufig abgekürzt als ‚RtoP‘ oder ‚R2P‘), das bisher nur auf staatliche Akteure anwendbar ist. Nach der bahnbrechenden Befürwortung dieses Prinzips der Schutzverantwortung durch alle Staats- und Regierungschefs im Schlussdokument des UNO-Weltgipfels im Jahr 2005 wurde zunächst ein Sonderberater für diese Schutzverantwortung nominiert, dessen Hauptaufgabe in der konzeptionellen Weiterentwicklung und Konsensbildung bestehen sollte, um die Kluft zwischen den bereits bestehenden Verpflichtungen der Mitgliedstaaten nach dem humanitären Völkerrecht und der Realität der von Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnischer Säuberung und Verbrechen gegen die Menschlichkeit bedrohten Bevölkerungsgruppen zu verringern. Die RtoP sieht vor, dass UNO-Mitgliedsstaaten in einer Reihe von Fällen nach vorangehender Genehmigung des UN-Sicherheitsrates mit wirtschaftlichen und sogar militärischen Mitteln intervenieren dürfen, wenn Ereignisse eingetreten sind oder drohen, die als schwere Verletzungen des Völkerrechts, insbesondere der anerkannten Menschenrechte qualifiziert sind. Ein verbreiteter Irrtum ist es, die RtoP mit anderen, völkerrechtlich sanktionierten, vor allem militärischen Interventionsformen zu verwechseln und sie dadurch dem Vorwurf auszusetzen, neokolonialer Aggression Vorschub zu leisten. Rita Floyd arbeitet hier den wesentlichen Unterschied zwischen der RtoP und anderen völkerrechtlich vorgesehenen Interventionsformen heraus.
Insbesondere der Libyen-Konflikt, in dem Frankreich und Großbritannien, später auch die USA, mit Erlaubnis des UN-Sicherheitsrates, humanitäre Hilfe auch unter Einsatz militärischer Mittel im Jahr 2011 im libyschen Bürgerkrieg leisten durften, lief vollkommen aus dem Ruder. Denn die eingreifenden Mächte überschritten das Mandat umgehend, indem sie den Sturz von Muammar al-Gaddafi anstrebten, was von dem Beschluss des UN-Sicherheitsrates nicht gedeckt war. Dieser Vorfall diskreditierte nachhaltig, allerdings zu Unrecht, auch das Konzept der RtoP.
Rita Floyd geht den sich in der internationalen Dynamik auftuenden, von extremen Widersprüchen geprägten Fragenkomplex in ihrem neuen Buch zunächst und konsequent von einer universalistisch-moralischen Seite an, nicht von der rechtlichen. Sie begründet dies mit den moralischen Grundlagen des gesamten humanitären Völkerrechts. Eine von vornherein rechtlich fokussierte Betrachtung würde das Problem auf formale Aspekte verkürzen. Mit dem substanziellen Tiefgang, den Floyd vornimmt, zeigt sich aber auch die gesamte, manchmal fast undurchdringlich scheinende Komplexität des Themas. Denn Moral ist in vieler Hinsicht kulturrelativ, das moralische Konzept der Menschenrechte hat jedoch einen universal Geltungsanspruch. Hinzu kommt, dass jede moralisch begründete Einmischung eines Staates in die Angelegenheiten eines anderen Staates unvermeidlich auf Gegner trifft, die eine solche Begründung als scheinheilig, neokolonial und eigennützig motiviert angreifen werden. Hier tut sich, neben der Frage einer universellen Moral, folglich auch die Frage nach den Grenzen der Staatensouveränität auf, die seit dem Westfälischen Frieden bis heute der sakrosankte Mittelpunkt des gesamten Völkerrechts ist. Floyd vertritt aber auch hier den Vorrang einer universellen Moral vor dem Recht; die Staatensouveränität findet bei ihr und ihren akademischen Streitgenoss:innen folglich dort ihre Grenze, wo ein Staat seiner Pflicht zum Schutz seiner Bürger:innen nicht mehr nachkommt. Floyd schließt damit an das frühneuzeitliche Konzept des Hobbes’schen Gesellschaftsvertrages an, demzufolge der jeweilige Souverän, also heute die Staatsgewalt, nur solange das Gewaltmonopol besitzt, wie dies zugunsten des Staatsvolkes ausgeübt wird. Wo dies nicht mehr erfüllt wird, ist auch der Gesellschaftsvertrag null und nichtig.
Auch dies klingt in der Theorie richtig, ist aber praktisch kaum durchsetzbar. Zunächst wird es in jedem Konfliktfall dieser Art unklar sein, wem die Schuld für den jeweiligen Konflikt zuzuweisen ist. Die Schwierigkeiten multiplizieren sich noch erheblich, wenn man Dritten die Erlaubnis erteilt, ersatzweise den Schutz der bedrohten Bevölkerungsgruppen (Ethnien, politische Akteure etc.) zu übernehmen. Wir haben es hier, in einer physikalischen Metapher, mit einem Vielkörperproblem zu tun, wo sich die Einflüsse der einzelnen Akteur:innen kaum noch objektiv auseinanderhalten lassen. Moral und Recht bauen in erheblichem Umfange auf ihrer Einbettung in kausal eindeutigen Ereigniszusammenhängen auf, um die Zuweisung von Verantwortung begründen zu können. Dies ist in komplexen politischen Situationen allerdings bestenfalls schwierig, wenn nicht unmöglich.
Floyd schlägt sich tapfer durch diesen Dschungel der moralischen, rechtlichen und praktischen Fragen, indem sie – in gewisser Weise überraschend – eine Steigerung der gesamten RtoP-Idee von der bisherigen gerechten Erlaubnis zur Eingriffspflicht vorschlägt und obendrein gleichzeitig eine Erweiterung der Eingriffsgründe auf beispielsweise ökologische oder Cyber-Bedrohungen befürwortet. Und noch in einer dritten Hinsicht erweitert sie die alte Idee der RtoP: Die ist nämlich im Korsett einer Genehmigung durch den UN-Sicherheitsrat gefangen, was schon seit Jahrzehnten eine ständige Blockade selbst in den dringendsten internationalen Notfällen mit sich bringt. Denn die Großmächte als ständige Mitglieder des Sicherheitsrates mit Vetorecht tragen ihre politischen Rivalitäten ohne Rücksicht auf die jeweils bedrohten Menschen aus. Indem Floyd strikt die Moral zur Grundlage jeglicher internationaler Intervention macht, kann sie allerdings auch begründen, warum unter bestimmten Umständen, die sie genau bestimmt, auch ohne einen entsprechenden Beschluss des UN-Sicherheitsrates ein Eingriff nicht nur gerecht und damit erlaubt, sondern sogar verpflichtend sein kann.
Eine solche erhebliche Ausweitung und Verschärfung der Interventionserlaubnis zur Pflicht setzt besonders strikte Kriterien voraus, unter welchen Umständen diese Pflicht entsteht, und zwar sowohl hinsichtlich der Qualifikation des jeweiligen Konflikts als auch hinsichtlich der Qualifikation der Verpflichteten. Denn die sind, Floyds Konzeption zufolge, nicht mehr nur Staaten, sondern gegebenenfalls sogar substaatliche Akteur:innen. Die Interventionspflicht hat überdies eine positive und eine negative Komponente, nämlich positiv: wer ist verpflichtet? und negativ: unter welchen Umständen endet die jeweilige Schutzpflicht für grundsätzlich schutzverpflichtete Akteur:innen? Wir stehen hier also vor einem multidimensionalen Entscheidungsraster.
Man kann den Versuch von Rita Floyd nur bewundern, die gesamte Problematik der internationalen Machtkonkurrenz, die so häufig im krassen Widerspruch zum humanitären Völkerrecht seht, wie den sprichwörtlichen Stier bei den Hörnern zu packen, indem sie konzeptionell nach vorne stürmt, statt im Gewirr der Widersprüche steckenzubleiben,. Praktisch jedes Argument, dass sie zur Rechtfertigung ihres Ansatzes vorträgt, wird von ihren ideologischen und politischen Gegnern mit Sicherheit erbittert bekämpft werden. Der Mut ihres Ansatzes besteht jedoch gerade darin, vor der übermächtigen Hydra dieses globalen Streites nicht in die Knie zu gehen, sich nicht zu fürchten, sondern unbeirrt dem Ariadnefaden einer globalen moralischen Einigung zu folgen, an dem wir, die gesamte Menschheit, schließlich aus dem Irrgarten unserer selbstverschuldeten Not herausfinden. Sapere aude! Von ferne leuchtet aus diesem neuen Buch von Rita Floyd die europäische Aufklärung und das kantische Fanal, dass es uns, den vernünftigen Wesen auf dieser Welt, doch möglich sein sollte, unser eigenes Schicksal zum Wohle aller in die Hand zu nehmen. Die hierfür grundlegenden Standards des gegenseitigen Umgangs sind im humanitären Völkerrecht bereits gesetzt. Es bedarf aber auch des internationalen Bekenntnisses, dass wir diese Standards im Sinne einer allseitigen Handlungspflicht durchzusetzen bereit sind. Dies ist der eigentliche Denkanstoß, den uns Rita Floyd in ihrem Buch gibt.
Wolfgang Sohst (Berlin)