From Anthropology to Social Theory. Rethinking the Social Sciences
In ihrem 2019 bei Cambridge University Press erschienenen Buch From Anthropology to Social Theory. Rethinking the Social Sciences unternehmen Arpad Szakolczai und , beide Professoren der Soziologie in Irland bzw. Dänemark, eine fundamentale Neubewertung etablierter Auffassungen der modernen Sozial- und Gesellschaftswissenschaften. Für diesen Angriff auf jene etablierten Auffassungen haben sie zwei Gründe. Zum Einen präsentieren sie wichtige Aspekte in der Entwicklungsgeschichte der modernen Anthropologie und Sozialwissenschaften, die nahelegen, dass durch zeitgeschichtliche Zufälle vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wesentliche Erkenntnisse der damals bereits sehr entwickelten Ethnologie keinen Eingang in die Soziologie und die Gesellschaftswissenschaften fanden. Zum Anderen folgt aus diesen wissenschaftshistorisch negativen Umständen, dass sehr spezfische Umstände der gegenwärtigen globalen Krise vor allem der westlichen politischen Systeme in eine Art wissenschaftlichen 'blinden Fleck' fallen und folglich beharrlich ignoriert werden.
Der größte Teil ihres Buches beschäftigt sich mit jenen von den Autoren so genannten Maverick Anthropologists, also Außenseiter-Anthropologen, deren Erkenntnisse nicht den ihnen gebührenden Eingang in den Kanon der akuellen Gesellschaftswissenschaften fanden. Dies betrifft Arnold van Gennep, der den Begriff der Liminalität prägte und als erster die rites de passages (Übergangsriten) erforschte, die offenbar nicht nur in den von ihm besuchten Naturvölkern gepflegt wurden, sondern in mehr oder weniger unauffälliger Form sich auch in vielfacher Form noch in den heutigen modernen Gesellschaften finden. Als zwei weitere, halb vergessene Autoren nennen sie Gabriel Tarde und René Girard, die die Rolle der Nachahmung von Verhalten als wesentlichen Faktor der Stabilisierung sozialer Identität benannten. Der vierte Autor, dem sie zu neuerlicher Anerkennung verhelfen wollen, ist Marcel Mauss, der zwar keineswegs vergessen wurde, nach Auffassung von Szakolczai und Thomassen aber nicht mit der eigentlichen Bedeutung seiner Erforschung der 'Gabe' als funktionale Grundlage des gesellschaftlichen Zusammenhanges anerkannt wurde. Der fünfte der von Szakolczai und Thomassen rehabilitierten Autoren ist Lucien Lévy-Bruhl (zusammen mit Colin Turnbull) mit ihren Beiträgen zur Rolle der sozialen Teilhabe und der Bindung an ein 'Zuhause' als Bedingung einer gelingenden sozialen Ordnung. Daran schließt sich ein besonders wichtiges Kapitel über den Ethnologen Paul Radin und seinen Begriff des 'Tricksters' an. Auf Radin wiederum beziehen sich Gregory Bateson und Johan Huizinga, die die Entstehung gesellschaftlicher Spaltungen unter dem Begriff der 'Schismogenese' untersuchten. Die Besprechung all dieser Maverick Anthropologist endet mit einer Würdigung von Victor Turner, der wiederum an Arnold van Genneps Theorie der Liminalität, der daran anschließend den Begriff der communitas als Bedürfnis einer Befreiung von den Lasten sozialer Ordnung prägte.
Szakolczai und Thomassen fügen die Erkenntnisse all dieser Autoren zu einer faszinierenden und unorthodoxen These über die Ursachen der aktuellen Spaltungsphänomene gerade in den Kernländern der westlichen Demokratien zusammen. Die betrifft vor allem die USA, Großbritannien, aber auch Frankreich. Ihre These läuft darauf hinaus, dass a) die westlichen Gesellschaften, also historisch das westliche Europa (exkl. Russland), sich in einer nicht endenden Folge liminaler Übergänge zu immer neuen Gesellschaftsformen befindet, und b) diese endlose, liminale Übergangsphase im destabilisierenden Sinne begünstigt wird von speziellen politischen Akteuren. Die nutzen die dabei entstehenden Unsicherheiten und Spannungen aus, indem sie sie durch Aufhetzung und falsche Versprechungen noch verstärken und damit ihren eigenen Aufstieg an die politische Spitze befördern. Obwohl die Autoren ihn nicht beim Namen nennen, ist Donald Trump, unter dessen Amtsführung das Buch geschrieben wurde, offenbar das Musterbeispiel ihrer Beweisführung. Solche bösartigen, weil gesellschaftlich zersetzenden Akteure bezeichnen Skacolczai und Thomassen als 'Trickster'. Diese Figuren werden in den Mythologien vieler alter Kulturen allerdings nicht vorrangig als bösartig charakterisiert, sondern eher als Außenseiter, die gerade dadurch qualifiziert sind, beispielsweise zwischen der göttlichen und menschlichen Sphäre zu vermitteln. Szakolczai und Thomassen sehen die politischen Trickster in der europäischen Geschichte seit dem Ausgang des Mittelsalters (von denen sie einige aufzählen) dagegen als Soziopathen, die infolge ihrer Außenseiterstellung und ihrer ungewöhnlichen Begabung zur Imitation des Habitus von Kollektiven, zu denen sie gerade nicht gehören, als besonders gefährliche Spieler im politischen Wettbewerb. Sie seien also Hochstapler mit ungewöhnlichem, aggressivem Geltungsdrang, die auf dem Wege zur Befriedigung ihres unendlichen Appetits auf Macht und Anerkennung jedes soziale Gefüge zerstören, in das sie einzudringen vermögen.
Diese Perspektive auf aktuelle politische 'Spieler' der gobalen Politik, von Donald Trump über Joan Bolsonaro und Viktor Orban bis hin zu Boris Johnson wirkt psychologisch und gesellschaftspolitisch zunächst sehr erklärungsstark. Es drängt sich allerdings die anschließende Frage auf, wie die davon betroffenen westlichen Gesellschaften aus der endlosen Spirale ständiger Selbst-Infragestellung und der daraus folgenden permanenten Liminialität ihres gesamten Kulturraums wieder herauskommen können. Denn die Erfolgsaussichten der geschilderten Trickster-Figuren sind ja - Szakolczais und Thomassens These folgend - nur deswegen so hoch, weil die gesellschaftliche Entwicklung sich ingesamt in einem Delirium ständiger Destabilisierung und Versuchen der Neubestimmung ihrer kollektiven Identität bewegen. Die Grundfrage ist folglich, wie man aus diesem kollektiven Taumel instabil aufeinander folgender Identitäten herauskommen kann. Hierauf haben Szakolczai und Thomassen leider keine Antwort. Ihre diesbezüglichen Versuche laufen auf eine etwas undeutliche Empfehlung der Besinnung auf etablierte, bewährte Lebensformen und Überzeugungen hinaus. Das wirkt etwas altbacken und stellenweise sentimental, letztlich wenig hilfreich in der konkreten Suche einer Strategie zur Änderung des unbestritten riskanten Entwicklungsweges, auf dem sich die westlichen Demokratien derzeit bewegen.
Den Autoren dieses Buches geht es in dieser Hinsicht am Ende nicht viel anders als Karl Marx, der brillierte, solange er die gesellschaftlichen und politischen Zustände seiner Zeit kritisierte, aber kläglich versagte, sobald es darum ging, den als Paradies auf Erden angepriesenen Kommunismus näher zu beschreiben. Insbesondere Arpad Szakolczai ist ohnehin kein Sympathisant des Kommunismus, insbesondere nicht in der Form des untergegangenen Sowjetimperiums. Es bleibt folglich offen, wie die von ihm und Thomassen sehr treffende Analyse der krisengeschüttelten westlichen gesellschaftlichen Gegenwart zu einer positiven Aussicht künftiger Entwicklungen gewendet werden kann. Doch auch ohne eine solche, sehnlichst herbeigewünschte, positive Perspektive ist dieser Beitrag zum gegenwärtigen, globalen politischen Diskurs sehr empfehlenswert. Er zeigt mit ganz anderen als den üblichen Gründen auf, warum wir uns in der gegenwärtigen Situation befinden und welche Art politischer Akteure in einer solchen Lage besonders gefährlich sind. (ws)