Künstliche Unvernunft
Im aktuellen Heft des Economist (Heft vom 21.04.2018, S. 14 oder online hier) wird berichtet, dass die Techniker von IKEA es unter großem Aufwand geschafft haben, einen Roboter so zu programmieren, dass er einen IKEA-Stuhl zusammenbauen kann. Wow! Er braucht dafür allerdings 20 Minuten und somit ein Mehrfaches der Zeit, die ein durchschnittlich begabter Mensch für diese Aufgabe benötigt, von den Kosten ganz zu schweigen. Auch Tesla, so wird berichtet, schafft seine Produktionsversprechen nicht zu erfüllen, weil Elon Musk sich mit der Automatisierbarkeit im Autobau immer wieder massiv verschätzt.
Diese Beispiele sind kein Einzelfall. Die allseits mit viel Aufregung besprochene sog. Künstliche Intelligenz tut sich ziemlich schwer im Umgang mit den alltäglichen Aufgaben der Menschen, um nicht zu sagen: Sie kann nahezu nichts dazu beisteuern (einmal abgesehen vom Aufruf von Musikstücken oder der Bestellung von Pizza). Darauf könnte ein Enthusiast der KI (oder englisch: AI für 'Artificial Intelligence') nun entgegnen: "Dafür brauchen wir sie auch gar nicht! Wir wollen uns ja gar nicht von einem Roboter die Nase putzen oder die Frühstücksbrote für die Kinder schmieren lassen." Ja, aber wofür brauchen wir sie dann? Hier ein paar 'hübsche' Beispiele, die bereits realisiert wurden oder in der Erprobungsphase sind:
- Automatisch fahrende Autos (Insider geben zu, dass es wohl noch eine ganze Weile dauern wird, bis die fahrenden Automaten mit der hässlich komplexen Strassenwelt zurecht kommen)
- Perfektes Micro-Targeting im kommerziellen Marketing und bei politischen Wahlen (nach dem Motto: nichts ist schlimmer als Verbraucher oder Wähler, die selber nachdenken, was sie wollen oder brauchen)
- Früherkennung von Kriminellen und Terroristen (die Schwerstkriminalität, um die es hier geht, nimmt in den Industriestaaten seit Jahrzehnten auch ohne KI kontinuierlich ab, und Terrorismus bekämpft man nachweislich am besten, indem man die gefährdeten Kreise besser integriert statt marginalisiert)
- Erstellung kompletter Persönlichkeitsprofile zur totalen kommerziellen und/oder polizeilichen Überwachung (Facebook und China sind hier ganz groß. Russland würde gerne auch den Hyper-Orwellstaat einführen, hat aber noch Schwierigkeiten damit. In den USA gibt es offenbar eine seltsame Konkurrenz zwischen den staatlichen Überwachungsanstalten und den privatwirtschaftlichen Datensammlern, wer die Nase vorn hat. Beide kämpfen mit, äh, "ethischen" Argumenten um ihren Vorteil.)
- Altenpflege-Roboter (in Japan angeblich der große Hit. Hm, es ist auf jeden Fall besser, mit einem Automaten am Morgen holperige Floskeln auszutauschen als gar nichts zu reden. Angeblich freuen sich alte Menschenv auch, sofern sie dement sind, von einem Roboter gestreichelt zu werden.)
- Elektronische Börsenkurs-Wahrsager (schön wär's. Leider erzeugen Prognosen dieser Art unvermeidlich Rückkoppelungsschleifen, die todsicher das vorausgesagte Ergebnis desavouieren. Die Menschen sind halt nicht so dumm, wie manche zu glauben scheinen.)
- Unschlagbare Go- und Schachspielautomaten (allerdings spielen die Menschen, soviel ich weiß, lieber mit anderen Menschen und nicht mit Automaten. Hier geht es offenbar gar nicht um eine reale Anwendung künstlicher Intelligenz, sondern eher um eine Art von Wichtigtuerei, zu was die jeweiligen Computer-Hersteller schon alles imstande sind.)
Und ähnliches mehr. Ich gebe zu, ich muss immer gähnen, wenn Leute über diese Dinge entweder in irre Begeisterung oder ebenso irre Angst verfallen. Die Wirklichkeit schaut profaner aus.
Des Pudels enttäuschender Kern
Wie funktioniert eigentlich Künstliche Intelligenz? Im Prinzip ganz einfach: eine Maschine durchsucht eine große Menge vorgeordneter Daten und stöbert darin nach Mustern, d.h. nach wiederkehrenden Datenfolgen. Sobald sie ein solches Muster gefunden hat, sucht sie weiter nach übrigen Merkmalen z.B. einer Person, um daraus abzuleiten, mit welcher Wahrscheinlichkeit diese zu dem gefundenen Muster führen. Und schon haben wir eine Entwicklungsprognose. Entwicklungsprognosen wiederum werden zu Zukunftsvoraussagen, sobald man sie auf gegenwärtigen Verhalten von Dingen oder Menschen anwendet. Daraus folgt nun allerdings genau das, was die bedeutenderen der obigen Anwendungsbeispiele bereits zeigen: Künstliche Intelligenz ist dort am stärksten, wo es um Kontrolle geht, z.B. von Straßenverkehr, Konsumenten oder Wählern, oder gleich ganzer Gesellschaften (allen hier weit voraus: China). Und selbst dort tut sich die KI schwer, sobald sie wirklich etwas tun soll, siehe das Beispiel der IKEA-Stühle. Ein chinesisches Totalüberwachungsnetz mag per Cyber-Brillen auf den Nasen chinesischer Polizisten zwar ziemlich genau sagen, ob dort gerade ein Krimineller (oder gar ein Systemkritiker!) über die Straße geht; festnehmen müssen ihn allemal noch menschliche Polizisten. Und erst die schönen Künste! Haben Sie schon einmal eine automatisch erzeugte 'Symphonie' oder andere von Automaten komponierte Musik gehört? Grauenhaft. Künstlerisch einfach nur Müll.
Es gibt aber auch ganz alltägliche Beispiele, die zeigen, wie es mit der sog. Künstlichen Intelligenz tatsächlich bestellt ist. Wer mit Texterkennungs-Software zu tun hat, merkt schnell, dass solche Programme buchstäblich gar nichts verstehen. Die Erkennungsgenauigkeit ist zum einen viel abhängiger als ein menschlicher Leser von der Qualität der Vorlage, zum anderen sind die unvermeidlichen Erkennungsfehler so kurios und wiederholen sich so penetrant, dass man nur den Kopf schütteln kann. Nicht viel besser steht es mit der Spracherkennung. Klar, wir passen uns an: Ich spreche meine WhatsApp-Nachrichten inzwischen schon nach Maßgabe der grammatischen Kompetenz eines Sechsjährigen ins Gerät und vermeide jedes schwierige Wort, damit nicht völliger Murks auf dem Display erscheint. Der ist nämlich nur manuell und sehr umständlich zu korrigieren. Überhaupt der Umgang mit Sprache: Alle Versuche, auch nur simpelste Support-Fälle von Automaten statt von Call-Centern bearbeiten zu lassen, sind kläglich gescheitert, teilweise unter grotesken Fehlleistungen der damit betrauten Algorithmen.
Allgemeine Abregung
Meine gänzlich ohne maschinelle Hilfe erstellte Prognose lautet deshalb: Manches mag ja ganz schön sein. Bestimmte Wundnähte in Operationssälen werden Roboter künftig vermutlich präziser hingkriegen als Menschen. Im klagebegeisterten US-Amerika werden womöglich Roboter künftig schneller als die unerschwinglich teuren Anwälte vergangene Präzedenzfälle zusammensammeln, um irgendwelche monströsen Schadenersatzforderungen zu begründen. Und richtig: Sehr zu hoffen wäre auch, dass zahlreiche stumpfsinnige Fabrikarbeiten endlich durch Maschinen ersetzt werden. Aber alle jene Bereiche unseres Lebens, die das Leben überhaupt erst lebenswert machen, sind noch sehr weit entfernt davon, automatisiert zu werden. Sie müssen es auch gar nicht.
Dies gilt insbesondere für alle jene Bereiche, wo auch nur ein Funken weiterreichende Intuition, schöpferisches Vorstellungsvermögen, Einfühlung, ethisches Urteilsvermögen oder gar politisches Handeln erforderlich sind. Das sind nämlich genau die Dinge, die in mal größerem, mal geringerem Umfange unser aller täglichen Leben tatsächlich spannend machen. In Anbetracht solcher Aufgaben, die wir alle im Kleinen ständig zu lösen haben und keineswegs nur die Künstler, Psychologen und Politiker, erscheint mir der heutige Stand der künstlichen Intelligenz ungefähr so aufregend wie die Erfindung des Rades vor einigen tausend Jahren: Ja, das war eine enorm wichtige Erfindung. Aber unseren sozialen Alltag müssen wir heute immer noch genauso bewältigen wie die Menschen vor füneinhalbtausend Jahren im Lande Sumer, wo das Rad vermutlich zum ersten Male erfunden wurde.
Man verschone uns also bitte mit Vorschlägen (was tatsächlich schon geschah!), wie z.B. jenen, dass Kleinkinder besser von Robotern erzogen und neuronale Netze bessere Gesetze machen würden als selbst das demokratischste Parlament. Wer so etwas ernstlich behauptet, kann selbst nicht mehr ernst genommen werden.
Wir dürfen uns also alle getrost abregen: Die Menschheit wird so schnell nicht von ihren Maschinen überholt werden. Zum Glück für die einen, leider für die anderen. (ws)