Was ist ursprünglicher: Qualität oder Quantität?
Ein bisschen Metaphsyik
Zu den nicht gerade dringendsten Fragen unserer Zeit gehören metaphysische Grundprobleme. Deren gibt es in allen Kulturen und Gesellschaften nicht wenige. Weil aber leider die meisten von ihnen trotz Jahrhunderte währender Behandlung immer noch nicht eindeutig beantwortet sind, verlieren viele Menschen schnell das Interesse daran. Ich wende mich hier nun an diejenigen Untentwegten, die sich bisher nicht haben abschrecken lassen. Es geht im Folgenden, eben weil Metaphysik, um etwas sehr Grundsätzliches. Die Frage lautet: Was ist ontologisch vorgängig, die Qualität oder die Quantität (von Dingen, Prozessen oder was auch immer)?
Erst Aristoteles...
Von den vielen Leuten, die sich mit dieser Frage über die Jahrtausende beschäftigt haben, will ich nur zwei erwähnen, weil sie besonders einflussreich waren: Aristoteles und Hegel. In seiner Kategorienschrift (Organon) bestimmt Aristoteles die Qualität als abstrakte Eigenschaft, die einem oder mehrere) qualitativ bestimmten Konkreta zukommt: "Unter 'Qualität' verstehe ich das, aufgrunddessen Leute irgendwie beschaffen genannt werden" (Kategorien 8b, s. auch Ritter et al.: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Stichwort Qualität; Bd. 7, S. 1749). Etwas später (Kategorien 10b, Ende) weist er auch darauf hin, dass alle Qualitäten ein Mehr oder Minder zulassen. Dennoch ist der jüngere Aristoteles noch stark von der ursprünglich mathematischen Ordnung der Welt überzeugt, so dass er die Quantität für ursprünglicher hält als die Qualität. Beiden voraus gehe angeblich lediglich die Substanz (siehe hierzu die sehr detaillierte Darstellung der aristotelischen Position in der Stanford Encyclopedia of Philosophy). Diese Auffassung nimmt Aristoteles in seinen späteren Metaphysik zurück. Dennoch bleibt es über die folgenden anderthalb Jahrtausende im europäischen Kulturraum zunächst bei der Auffassung, die Quantität der Dinge sei ontologisch ursprünglicher als ihre Qualität.
... dann Hegel
Erst mit dem Auftritt Hegels auf der Bühne der Ideengeschichte kommt Bewegung in die Frage. In dem mit "Qualität" überschriebenen Abschnitt seiner Wissenschaft der Logik (G.F.W. Hegel: Werke, Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Bd. 5 S. 117ff.) und in §254 der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften lesen wir, dass der Qualität der (onto)logische Vorrang gegenüber der Quantität gebühre. Hegel ist leider auch hier, wie an vielen Stellen seiner verschlungenen argumentativen Pfade, nicht widerspruchsfrei. Denn die erste Naturkategorie ist für ihn der Raum, und dieser sei rein quantitative Verschiedenheit. In der Wissenschaft der Logik hatte er zuvor aber noch der Qualität eindeutig den ersten Rang eingeräumt. Diesen Widerspruch hat Hegel selbst ebenfalls gesehen und mit etwas verquasten Richtigstellungen dahingehend zu lösen versucht, dass die Natur halt nicht anders könne als sich mit der realen Räumlichkeit zu zeigen zu beginnen. Tatsächlich oder prinzipiell sei aber die Qualität vorrangig vor der Qualität (siehe §271 der Enzyklopädie; hilfreich dazu die Erläuterungen von Vittorio Hösle: Hegels System. Der Idealismus der Subjektivität und das Problem der Intersubjektivität, Hamburg 1988, S. 300ff.).
Beide Positionen, also sowohl die aristotelische als auch die hegelsche, sind nicht gerade überzeugend. Dies liegt daran, dass sie die ontologische Beziehung von Quantität und Qualität gar nicht an sich selbst untersuchen, sondern lediglich auf dritte Begriffe (bei Aristoteles: sein System der ontologischen Gattungen, bei Hegel: seine Auffassung von Raum und Zeit) Bezug nehmen, um zu ihren verschiedenen Schlussfolgerungen zu kommen. Die Frage ist folglich: Wie kann man die begriffliche Beziehung von Quantität und Qualität so beschreiben, dass sich daraus etwas plausibler ontologische Rückschlüsse ziehen lassen?
Bitte die reine Methode
Ich möchte hier eine Methode und ihre Anwendung vorschlagen, die auf diese Frage eine direktere Antwort gibt und deshalb beanspruchen kann, zumindest ein bessere Begründung für die Reihenfolge der ontologischen Ursprünglichkeit von Qualität und Quantität zu geben, als sie uns von Aristoteles und Hegel hinterlassen wurden. Das Verfahren hierzu ist ein ganz einfaches: Wir gehen prozesslogisch vor und fragen, ob sich eher aus der Gegebenheit einer beliebigen Qualität auf die Quantität von etwas schließen lässt oder umgekehrt. Um diese Methode anwenden zu können, müssen wir allerdings noch eine kleine Vorabunterscheidung treffen. Wenn wir im Folgenden von Etwas als dem Träger sowohl von Qualität als auch von Quantität sprechen, so meinen wir damit noch nichts quantitativ Bestimmtes, sondern lediglich die 'nackte' Einheit dieses Etwas, d.h. ohne jegliche Relation auf eine eventuelle Mehrheit davon, ja nicht einmal klärend, ob eine solche Mehrheit überhaupt möglich ist. Das Etwas unserer Betrachtung ist also lediglich die Einheit einer Zuschreibung, nämlich entweder einer quantitativen oder einer qualitativen.
Unter dieser einzigen Prämisse müssen wir nunmehr jede der beiden Entscheidungsoptionen daraufhin prüfen,
- ob sich aus der alleinigen Annahme entweder verschiedener Qualitäten (die noch nicht numerisch verschieden sind, sondern tatsächlich nur als eine qualitative Verschiedenheit gegeben sind) die Quantität herleiten lässt,
- oder ob sich umgekehrt aus verschiedenen Quantitäten irgendeine Qualität herleiten lässt.
Wäre dies für beide Prüfvorgänge möglich, so müssten weitere Überlegungen zur Entscheidung eines Vorrangs unter ihnen herangezogen werden. Glücklicherweise wird sich aber, wie ich im Folgenden zeige, ergeben, dass nur aus der Begegnung verschiedener Qualitäten ihre quantitative Beziehung abgeleitet werden kann, umgekehrt aus der Begegnung verschiedener Quantitäten aber keinerlei Qualität der beteiligten Quantitäten folgt.
1. Proband: Die Qualität
Nehmen wir nun an, wir betrachten irgendeine Qualität, z.B. 'das Blaue'. Ferner nehmen wir an, dass wir uns umschauen und feststellen, dass es unterschiedliche Qualitäten des Blauen gibt; manches Blaue ist beispielsweise heller anderes. Hier nun hat bereits Aristoteles gesehen, dass ein Mehr oder Minder nicht nur des Blauen und einer jeglichen Qualität möglich ist. Ein Mehr oder Minder kann allerdings zwecks Vergleichbarkeit auf einer Skala der Einheiten der Bläue gemessen und somit quantifiziert werden. Ergo: Aus verschiedenen Intensitäten einer Qualität kann die Quantität kategorial abgeleitet werden. Dies gilt a fortiori beim Vergleich grundsätzlich verschiedener Qualitäten, z.B. beim Vergleich von etwas Blauem mit etwas Kaltem. Da beide Qualitäten an sich etwas vollkommen Verschiedenes sind, ist ihr Vergleich nur über eine mittlere Skala möglich, auf die beide Qualitäten abgebildet werden. Diese mittlere Skala kann wiederum nur eine quantitative sein, z.B. der Intensität, damit eine solche Abbildung zu dem gesuchten Vergleich führt. Dies würde beispielsweise zu dem Ergebnis führen, dass irgendetwas stärker blau ist als warm. Es könnte beispielsweise etwas Dunkelblau-Eiskaltes sein. Auf der gemeinsamen Skala intensiver Quantität, sie mag von 1 bis 10, reichen, käme diesem Etwas dann beispielsweise für seine Bläue der Wert 8, für seine Wärme dagegen nur der Wert 2 zu. In beiden Beispielen folgt also aus dem Umgang mit primär und ausschließlich qualitativ Gegebenem, dass dessen Qualitäten aus sich heraus die Quantität hervorbringen. Ergo: Aus Qualität folgt Quantität; die Qualität hat ontologischen Vorrang.
2. Proband: Die Quantität
Nun der umgekehrte Fall. Nehmen wir an, wir hätten es mit irgendetwas der Anzahl fünf und noch einmal mit etwas der Anzahl 7 zu tun. Um was es dabei geht, also deren qualitative Unterschiede, bleibt genauso ohne Belang wie im Falle der verschiedenen Qualitäten deren Quantität. Kann ich nun von den elementaren Einheiten des Fünfachen oder des Siebenfachen auf irgendeine Qualität ihrer Elemente schließen? Das scheint nicht möglich zu sein, woher auch. Können wir aber vielleicht, wenn wir das Fünffache mit dem Siebenfachen in Beziehung bringen, auf irgendeine Qualität zumindest aus dieser Begegnung schließen? Dazu müssen wir zunächst fragen, was es heißen soll, zwei Quantitäten in Beziehung zueinander zu setzen. Dies kann offensichtlich auf verschiedene Weise geschehen. Allein in der Arithmetik kennen wir bereits die vier Grundrechenarten mitsamt ihren Operatoren, die letztlich nichts anderes als verschiedene Formen der Begegnung unterschiedlicher Quantitäten sind. Selbst wenn man die Multiplikation und die Substraktion (mit einigen zusätzlichen Annahmen wie z.B. der Erweiterung der natürlichen Zahlen auf den Raum der positiven und negativen ganzen Zahlen) auf die Grundoperation der Addition anwendet und nur die Division, weil sie mit vorher nicht vorhandenen, also neuen Resteinheiten arbeitet, als zweite arithmetische Grundoperation zulässt, ergibt sich, dass solche arithmetisch-operativen Begegnungen immer nur wieder quantitative Ergebnisse zeitigen: 5 + 7 = 12 und 5 / 7 = 0,71428... Nirgends zeigt sich ein Weg, aus der reinen Quantität oder aus der Begegnung mehrerer reiner Quantitäten auf irgendeine Qualität ihrer elementaren Einheiten schließen zu können.
Entscheidung der Jury
Damit scheint mir die Wette entschieden, und zwar - mehr zufällig - zugunsten der hegelschen Intuition. Der vorstehende 'Beweis', der natürlich nur ein modelltheoretisches Argument liefert, um überhaupt methodisch eine alte ontologische Frage zu entscheiden, zeigt also, dass zumindest in der begriffsimmanenten Untersuchung der ontologischen Konkurrenten Quantität und Qualität die Qualität ursprünglicher sein muss als die Quantität: Aus ihr folgt das andere, aus dem anderen aber nicht sie. (ws)