Wer bin ich? Wer sind wir?

 

Graffite 'Ich bin, weil du bist'

Graffiti in einer norddeutschen Kleinstadt: Metaphysik in Aktion

Das problematische Erbe der Aufklärung

Die Frage der individuellen und kollektiven Identität gehört zu den fundamentalen heutigen Herausforderungen der westlichen Gesellschaften. Dies ergab sich, seit vor ungefähr dreihundert Jahren das gemeinsame Band einer allumfassenden, religiös definierten Bindung zerriss. Lange galt es als eine der größten Errungenschaften des Westens, das Individuum 'entdeckt' und in den Mittelpunkt seines Menschenbildes und Gesellschaftsideals gestellt zu haben. Doch zunehmend entpuppt sich das Verhältnis von Individuum und sozialem Ganzen als schwierig, zerbrechlich, undurchschaubar. Daran zu arbeiten ist vielleicht die erste intellektuelle Aufgabe unserer Zeit.

Die großen Köpfe der europäischen Aufklärung entdeckten das Individuum als die grundlegende Urteilsinstanz der Vernunft und damit aller sozialen Ordnung. Wenn Kant in seiner berühmten Definition der Aufklärung proklamierte, dass sie der Ausgang des Menschen aus selbstverschuldeter Unmündigkeit sei, so ist von der gesellschaftlichen Rückbindung des Iindividuums keine Rede mehr. Die einzelne Person wird von ihm nicht nur aufgefordert, endlich Verantwortung für sich zu übernehmen, sondern wird  sogar hilfsweise angeklagt, an ihrer weiteren Unmündigkeit selbst schuld zu sein. Doch in diesem Vorwurf fehlt offensichtlich etwas: Denn die moralische Schuld einer Person kann nur gegenüber jemand anderem als ihr selbst bestehen. Dieses Andere war bis zur Aufklärung der christliche Gott. Aber nun? Da 'die Gesellschaft' in dieser Frage schlecht als Ersatz für Gott in Frage kommt, musste eine andere, leider ziemlich fiktive Enttiät herbeigeschafft werden, die urteilsberechtigt ist, uns die ersehnte Mündigkeit zu bescheinigen. Dies sollte die Vernunft sein.

Nun will ich nicht gegen die Vernunftfähigkeit des Menschen anreden. Im Gegenteil, ich glaube an sie in gewisser Weise so, wie andere und vor allem frühere Personen an ihren Gott glaubten. Das Problem ist nicht die Vernunft an sich, sondern (a) wer bestimmt, was vernünftig ist und (b) was daraus für unsere individuelle und kollektive Identität folgt. Nach allem, was uns hierzu die noch jungen wissenschaftlichen Disziplinen der Psychologie und der Soziologie bisher gelehrt haben, lassen sich diese beiden Fragen nur aus einer Einsicht in die Wechselbeziehung von Individuum und Kollektiv beantworten: Ich bin, weil du bist und du mir sagst, wer ich bin - und umgekehrt. Oder besser gesagt: Wir alle sagen uns permanent gegenseitig, wer wir im Einzelnen und als Ganzes sind. Ohne diesen permanenten kommunikativen, gleichermaßen privaten und öffentlichen Aushandlungsprozess gäbe es weder ein Ich noch ein Wir.

'Mensch' und 'Person' sind etwas Verschiedenes

Im Zuge dieser Erkenntnis entstand allerdings auch ein weiterer, eher ideolgischer Konflikt. Die europäische Aufklärung brachte nämlich nicht nur so fantastische Ideen wie das moderne Menschenbild, die moderne Demokratie und die Freisetzung ungeheurer politischer und technischer Energien mit sich. Sie förderte in ihrer Abkehr von den christlichen Dogmen auch die technische Umsetzung eines naturwissenschaftlichen Denkens, das schon einige Jahrhunderte zuvor seine mächtigen Flügel ausgebreitet hatte. Im Zuge dessen verweigerte sie jedoch auch jeglicher Metaphysik die Teilnahme am öffentlichen, 'rationalen' gesellschaftlichen Diskurs. Der naturwissenschaftliche Blick auf den Menschen und seine Gesellschaft(en) verleitet dadurch zu dem Fehlschluss, dass wir, die Menschen, 'in Wirklichkeit' weitgehend biologisch bestimmte Wesen seien, wenn nicht sogar biologische, neuronal gesteuerte Automaten. Es drägt sich der Verdacht auf, dass dieses Menschenbild auch am Grunde der gesamten Begeisterung für die so genannte Künstliche Intelligenz liegt. Ein solcher Irrtum kann allerdings nur dort Fuß fassen, wo übersehen wird, das 'der Mensch' und 'die Person' etwas Verschiedenes sind.

Der Ausdruck 'Mensch' bezeichnet ein biologisches Wesen, darin mit allen anderen Lebewesen auf diesem Planeten eng verwandt. Der Ausdruck 'Person' beschreibt dagegen die Teilhabe einzelner Menschen an einem über die Biologie und das individuelle Lebewesen hinausgehenden Ganzen, dass nicht mehr biologisch definiert ist, sondern symbolisch, mithin kulturell Nur die Person steht deshalb im Mittelpunkt der Frage nach ihrer Identität, denn nur sie ermöglicht den Brückschlag zum sozialen Ganzen und der Frage seiner Identität. Wenn wir also die vielleicht wichtigste Doppelfrage unserer Zeit, nämlich 'Wer bin ich?' und 'Wer sind wir?' neu und gewinnbringend beantworten wollen, müssen wir uns wohl oder übel etwas von dem aufgeklärten Dogma distanzieren, dass es bei meiner Selbstauffassung nur um meine eigene Herrlichkeit geht, also von einem extermen Individualismus. Stattdessen müssen wir uns in das tatsächlich schwierige Gewebeder gegensetigen Abhängigkeit von Individuum und Gesellschaft hineinbegeben.

Eigentlich sollte dies die Aufgabe der Soziologie sein. Teilweise erfüllt sie diese Aufgabe auch. Einen wesentlichen Teil ihrer Kräfte verwendet sie - um nicht zu sagen: verschwendet sie - allerdings durch die Übernahme eines Axioms aus der Nationalökonomie des 19. Jahrhunderts als ihren eigenen Gründungsmythos. Der besagt, dass der Mensch 'im Grunde' ein egoistisches Wesen und alle sozialen Bemühungen 'in Wirklichkeit' nur Variationen des praktizierten Eigennutzens seien: Das ist das Erste Gebot der so genannten neoklassischen Soziologie. Selbst die größte altruistische Aufopferung ist diesem Menschenbild zufolge nur Ausdruck der Bemühung um Anerkennung usw. Leider führt ein solches Menschenbild jedoch am Ende zur Auflösung von Gesellschaft, oder wie Margaret Thatcher es mit umwerfender Radikalität formulierte: "There is no such thing as society." Wenn wir uns von diesem Irrtum nicht endlich distanzieren, steuert der gesamte Westen tatsächlich auf seine Auflösung zu.

Die Arbeit an der individuellen und kollektiven Identität bedeutet Freiheit, nicht Zwang

Dies ist freilich kein Plädoyer zur kulturellen Engführung gesellschaftlicher Identität zweck Diskriminierung von 'Ausländern', Personen mit anderer Hautfarbe oder mit anderen weltanschaulichen, religiösen und ethnischen Hintergründen. Es mahnt vielmehr zunächst nur eine Veränderung der Aufgabenstellung an, zu deren Lösung wir aufgerufen sind. Das bedeutet, dass wir uns über neue Methoden der Möglichkeit zur Gewinnung sozialer Identität Gedanken machen und diese öffentlich vortragen sollten. Sowohl die individuelle als auch die kollektive Identität sind kein fixierter Zustand, sondern ein fortwährender Prozess immer provisorischen Gestaltung und Anpassung des Selbstbildes an sich laufend verändernde Verhältnisse. Der Gewinn einer solchen - zugegeben anstrengenden - Bemühung ist aber kein geringer: Wir erlangen damit wieder eine existenzielle Gewissheit unseres individuellen und kollektiven Selbst und damit begründbare Handlungsorientierungen, fern aller Dogmen und Gewalt. Dies ist die Frucht des Aushandlungsprozesses, auch wenn sie immer nur eine kurze Mindesthaltbarkeit hat. (ws)

Frühere Leitartikel

Visionen ./. Illusionen

Von dem früheren deutschen Bundeskanzler Helmut Schmidt ist der Spruch überliefert: "Wer Visionen hat, sollte zum Augenarzt gehen". Er meinte dies zwar nur im Hinblick auf die politische Sphäre, aber selbst dort ist der Spruch inhaltlich schlicht falsch. Viel treffender wäre es gewesen, wenn Schmidt von Illusionen geredet hätte, die sich Politiker:innen aus dem Kopf schlagen sollten. Dann aber wäre der sarkastische Verweis auf die Augenärzt:innen nicht mehr passend gewesen, sondern eher auf Psycholog:innen. Doch wie sieht es eigentlich mit dem gesellschaftlichen Wert von Illusionen aus? Sind sie womöglich wirklich wertlos oder sogar gefährlich?

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Über den Unterschied von Leid und Empörung

Leid und die Empörung sind vielfach miteinander verbunden. Im Grunde sollte es niemandem schwerfallen, zwischen beidem zu unterscheiden. Ein Problem entsteht allerdings dann, wenn Personen das Leiden anderer benutzen, um damit ihre eigenen Ziele zu verfolgen. Das kann einfach eine seltsame Lust an der Empörung sein; es kann aber auch andere Zwecke hinter der Empörung geben, vor denen man sich in Acht nehmen sollte.

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Ihr da oben, wir da unten? - War einmal...

Seit dem Aufblühen der Industrialisierung in Europa, also ungefähr seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, wurde die wichtigste politische Frontlinie zunächst in Europa, später in der ganzen Welt, definiert als die Gegnerschaft zwischen Kapitalisten und Arbeitern. Der Vorwurf Letzerer lautete, von Marx ausführlich kommentiert: Ihr Kapitalisten nehmt uns den Wert unserer Arbeit weg und haltet uns in Armut, um unsere Abhängigkeit von euch nicht zu schmälern. Dieser Gegensatz wurde seitdem keineswegs aufgehoben, auch wenn er sich in größeren Teilen der Welt erheblich gemildert hat. Er wurde allerdings überholt, und zwar weder von 'links', noch von 'rechts', sondern von einer neuen Frontlinie, die in zwei Dimensionen definiert ist: (a) dem Gegensatz zwischen Nationalisten und Universalisten und (b) dem Gegensatz zwischen demokratisch-rechtsstaatlichen und autoritären Regimes.

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Künstliche Ethik / Artificial Ethics

Die wirtschaftlichen Eliten aller großen Länder der Welt wenden zur Zeit ungeheure Mittel und Mühen auf, um logische Automaten zu konstruieren, die nicht nur künstlich intelligent sind, sondern auf frappierende Weise auch die menschliche Intelligenz nicht nur zu simulieren, sondern zu überholen. Hier tut sich die Frage nach den Motiven einer solchen Ekstase auf. Einerseits geht es hierbei sicherlich um wirtschaftliche und politische Konkurrenzen, denn die ganze Unternehmung verspricht enorme Gewinne an Kapital und sogar internationaler politischer Macht. Dies ist aber, wenn man die Geschichte der westlichen Bemühungen um den für ihn so wichtigen Fortschritt anschaut, nicht der einzige Grund für den nun schon seit Jahrzehnten immer noch zunehmenden KI-Taumel. In welchem Umfange nützen solche Anstrengungen überhaupt den heutigen menschlichen Lebensverhältnissen?

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The economic elites of all the world's major countries are currently expending tremendous resources and effort to construct logical automata that are not only artificially intelligent but also strikingly capable of not only simulating but surpassing human intelligence. This raises the question of the motives for such an ecstasy. On the one hand, this is undoubtedly about economic and political competition, since the whole enterprise promises enormous gains in capital and even international political power. However, looking at the history of Western efforts to achieve the progress that is so important to it, this is not the only reason for the AI frenzy, which has been growing for decades now. To what extent do such efforts benefit today's human living conditions?

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Was bedeutet es, ein Mensch zu sein?

In der Frage, die der Titel dieses kleinen Essays ist, steckt bereits in Teil der Antwort, wenn auch vielleicht nur ein kleiner Teil. Auf jeden Fall ist uns, den Menschen, bisher kein Tier bekannt, das imstande ist, eine solche Frage zu stellen. Und damit sind wir bereits mitten im Problem.

Schon seit knapp einhundert Jahren bemüht sich die seinerzeit noch junge Verhaltenspsychologie, mit naturwissenschaftlicher Methodik beispielsweise herauszufinden, ob man bestimmten, kognitiv sehr entwickelten Tieren das Sprechen beibringen kann. 'Sprechen' muss hier nicht unbedingt bedeuten, akustische Sprachlaute produzieren zu können. Der Ausdruck meint eher, sich in sprachartiger Form verständigen zu können, z.B. durch Tippen auf Geräten, die sprachartige Konstrukte erzeugen. Sprechen hat offenbar viel mit Denken zu tun. Folglich verschob sich die Frage, was Menschen von Tieren unterscheidet, recht schnell auf die Frage, ob Tiere denken können. Diese Frage stellte sich jedoch als zu unpräzise heraus, weil viele Tiere offensichtlich zu komplexen Denkoperationen einschließlich Werkzeugproduktion und Lösungen von Problemen mittels Versuch und Irrtum imstande sind, und dennoch unendlich weit vom menschlichen Umgang mit der Welt entfernt zu sein scheinen.

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Wenn die Zeit stehenbleibt

Normalerweise gehen wir davon aus, dass die Zeit gerade das ist, was NICHT stillstehen kann. Ob das stimmt, hängt aber gerade davon ab, ob man sie nicht auch anders verstehen kann.

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Die Sehnsucht der Blume nach der Blüte

Aristoteles war die erste Person der westlichen Hemisphäre, der den vermutlich schon viel älteren Gedanken ausarbeitete, dass alles, was es gibt, vom Streben auf ein inneres Bestimmungsziel hin angetrieben sei. Dieser mächtige Gedanke konnte selbst aus der heutigen Evolutionstheorie nicht ganz ausgetrieben werden, obwohl zumindest die physische und biologische Evolution theoretisch als reines Zufallsereignis beschrieben werden. Doch was ist Zufall? Und wer soll all die Ziele erfunden haben, auf die angeblich jeder Gegenstand der Welt und die Welt als Ganzes hinstreben?

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Was heißt 'Frieden'?

Der gemeinsame, soziale Frieden ist ein hohes Gut. Es wäre allerdings ein Fehler, ihn lediglich mit eiem Zustand der Gewaltlosigkeit zu verwechseln. Zwar ist das Verstummen der Waffen das äußerlich wichtigste Zeichen eines Friedens, insbesondere nach einem Krieg. Der einfache Verzicht auf Gewalt kann aber keinen Frieden begründen, wenn zuvor Unfrieden herrschte, z.B. als Krieg oder permanent hin und her wogende Blutrache. Was aber begründet dann einen Frieden?

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Weibliche Schönheit

Der folgende Text versucht zu erklären, warum das Ideal weiblicher Schönheit ein uraltes, biologisch begründetes Zeichen für die soziale Unterwerfung der Frau unter die Herrschaft zunächst biologischer Männer, heute indessen unter die Herrschaft gesellschaftlich-struktureller Männlichkeit ist.

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Fühlen & spüren

Spüren und fühlen mögen oberflächlich so klingen, als ginge es dabei um dasselbe. Das ist jedoch nicht der Fall, wie der folgende Beitrag erklärt. Im Gegenteil, ihr Unterschied ist so groß, dass er sogar eine gesellschaftliche Bedeutung hat, besonders in Gesellschaften, deren Mitglieder so versessen auf ihre Individualität sind, wie dies im globalen Westen der der Fall ist.

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