Über den Unterschied von Leid und Empörung

Weinendes Kind und schreiender Mann

Was haben diese beiden Ausdrucksformen miteinander zu tun?

(Vorweg: Es ist keine inhaltliche Absicht damit verbunden, dass auf dem vorstehenden Bild nur biologisch männliche Personen weißer Hautfarbe abgebildet sind. Es könnten dort genauso gut Personen mit anderen Merkmalen, und was die linke Person angeht, sogar Tiere abgebildet sein; den Inhalt des folgenden Textes würde dies nicht berühren.)

Leid und die Empörung sind vielfach miteinander verbunden. Eigentlich sollte es niemandem schwerfallen, zwischen beidem zu unterscheiden. Ein Problem entsteht allerdings dann, wenn Personen das Leiden anderer benutzen, um damit ihre eigenen Ziele zu verfolgen. Das kann im einfachsten Falle einer seltsamen Lust an der Empörung entspringen; es kann aber auch andere Zwecke hinter der Empörung geben, vor denen man sich in Acht nehmen sollte. Insbesondere im Zusammenhang politischer Auseinandersetzungen ist die Instrumentalisierung von Leid zu einer allgemein verwendeten Waffe im Kampf gegen die jeweiligen Gegner geworden.

Leidenserfahrung und Empörung treten selten gemeinsam auf

Leid ist die Folge eines erlittenen Schmerzes; Empörung ist die moralische Reaktion auf das Verhalten anderer Personen (Empörung über sich selbst gibt es nicht). Die Möglichkeit, beiden in Beziehung zueinander zu setzen, hat jede Person, nicht nur die leidende und auch nicht nur die empörungsbereite. Es ist allerdings ein psychologisch und soziologisch vielfach bewiesener Fakt, dass aktuell leidende Personen in der Regel weder über die Verursacher ihres Leidens empört sind noch ein Interesse daran haben, in anderen Personen eine Empörung hervorzurufen. Die leidenden Personen sind, insbesondere wenn der Leidensdruck stark ist, viel zu stark mit dem Aushalten ihres Leidens beschäftigt, um sich auch noch moralisch ereifern zu können. Bei ihnen setzt die Empörung meist erst nach der unmittelbaren Leidenserfahrung ein, wenn der aktuelle Leidensdruck zumindest schon soweit nachgelassen hat, dass sich die betroffene Person wieder mit moralischen Überlegungen befassen kann.

Sehr eindrucksvoll beschreibt das der ungarische Schriftsteller Imre Kertesz in seinem Buch Roman eines Schicksallosen. Er schildert dort, wie er als Jude von den Nazis aus Budapest nach Auschwitz deportiert wurde und zunächst sogar von dem schnieke uniformierten SS-Personal beeindruckt war. Als es ihm im Zuge seines KZ-Aufenthaltes immer schlechter ging, kämpfte er schließlich um das nackte Überleben. Schließlich lag er in einer Krankenbaracke mit schweren körperlichen Wunden, dem Tod nahe. Aus seiner Bauchdecke krochen bereits die Maden. Er hatte aber nicht geringsten Vorwurf, weder gegen seine Peiniger noch gegen sein Schicksal. Vielmehr schaute er nur an sich herunter und war auf eine seltsame Weise vollkommen abgeklärt und gelöst. Dann aber wurde er auf wunderbare Weise doch gerettet, gesundete und gelangte nach Kriegsende schließlich zurück nach Budapest. Dort ging er an die Tür seiner alten Wohnung, und weil dort inzwischen jemand anderes wohnt, klingelte er bei den Nachbarn, die noch die alten waren. Bei deren Anblick überfällt ihn plötzlich ein unglaubliche Wut. Er gibt ihnen die Mitschuld daran, dass solche Dinge, wie sie ihm passierten, überhaupt geschehen konnten. Seine Empörung überwältigt ihn.

Achtung: Schwere Missbrauchsgefahr

Damit ist der Zusammenhang von Leid und Empörung allerdings noch nicht erschöpft. Die Geschichte von Imre Kertesz steht nur für den Zusammenhang des Leidensopfers und seiner berechtigten Empörung, wenn dieses Leiden von Dritten verursacht wurde und vermeidbar war. Der gesellschaftlich wichtige Zusammenhang von leidenden und empörten Personen wird allerdings erst durch eine öffentliche Moral gestiftet, die beliebige Dritte zu Empörten von fremdem Leid machen kann. Eine solche Empörung muss nicht immer die Folge einer kalkulierten Instrumentalisierung durch wieder andere Interessenten sein. Sie ist dies aber leider häufig. Die Moral arbeitet auch bei einer solchen Anstifung äußerst wirksam. Die Empathie spielt hier eine große Rolle. Denn die gefühlte Not anderer Personen löst nicht nur Mitgefühl, sondern auch Vorwürfe gegen die Verursacher dieser Not aus. Und nicht selten werden Personen, die unter eigenen Problemen leiden, durch fremdes Leid in eine Empörung getrieben, deren usprüngliches Motiv in der eigenen Lebenszufriedenheit liegt. Es sind vor allem diese Kreise eigener Betroffenheit, die sich politisch leicht instrumentalisieren, d.h. für fremde Zwecke einspannen lassen.

Eine solche Instrumentalisierung ist eine Form von Missbrauch. Wo sie stattfindet, bedienen sich ihre Akteur:innen noch eines weiteren psychologischen Tricks: Jede Person ist nämlich dafür anfällig, von erlittenem Leid darauf zu schließen, dass sie durch das erlittene Leid auch zur moralisch guten Person qualifiziert sei. Leid und moralische Qualität einer Person haben allerdings nichts miteinander zu tun. Ein brutaler Gangster, der in einem Bandenkrieg von seinen Gegnern verletzt wird, ist allein deshalb sicherlich keine moralisch gute Person. Gleichwohl kann man auch mit dem Leiden einer solchen Person starkes Mitgefühl empfinden. Dieses Mitgefühl ist allerdings sehr schwer von dem moralisch aufwertenden Urteil über eine solche Person zu treffen. Das menschliche Urteilsvermögen ist in dieser Hinsicht kaum zu einer entsprechenden Unterscheidung imstande.

Gewaltbereitschaft und Empörung hängen eng zusammen

Benutzen nun interessierte Personen das Leiden anderer Personen entweder geschickt zur Aufstachelung der Empörung Dritter oder schaffen es - was ebenfalls nicht selten ist - das eigene, insbesondere psychische Leiden von Personen als Auslöser zur Empörung zu nutzen, so kann diese Dynamik eine außerordentlich starke politische Wirkung entfalten. Bekanntlich nutzten die Präsidenten der USA zur Zeit des Kriegseintritts der USA in den Ersten und Zweiten Weltkrieg vorangehende Kriegsereignisse (im Falle des Ersten Weltkriegs: die Versenkung eines Passagierdampfers durch ein deutsches U-Boot, im Falle des Zweiten Weltkriegs: der Angriff der Japaner auf Pearl Harbour), um die gesamte Öffentlichkeit ihres Landes auf den Kriegseintritt vorzubereiten. Nun ist das Problem solcher Fälle, dass es aus übergeordneter moralischer Perspektive durchaus gerechtfertigt sein kann, diese Empörung auszulösen, weil sich bestimmte, politisch ansonsten breit unterstützte Ziele einfach nicht erreichen lassen. Der völkerrechtswidrige Angriff Russlands auf die Ukraine ist hierfür ein ganz aktuelles Beispiel. Die enorm teure Unterstützung der Ukraine, diese Aggression abzuwehren, wird ohne eine allgemeine Empörung des Publikums des jeweils unterstützenden Landes über diesen Angriff politisch nicht durchsetzbar sein.

Lasst euch nicht fremdgesteuert empören

Wir haben es also gerade in Fällen politischer Spannungen häufig mit sehr komplexes Situationen zu tun, die in jedem Einzelfall genau analysiert und das Für und Wieder abgewogen werden müssen. Mit dem verantwortungslosen, weil vollkommen indifferenten Aufruf "Indignez-vous!" ("Empört euch!", Ullstein 2010) des französischen Philosophen und Diplomaten Stéphane Hessel ist es deshalb nicht getan. Im Gegenteil; da war der ebenfalls französische Philosoph Jean Baudrillard mit seinem schon 1983 erschienen Essay "Lasst euch nicht verführen" (Merve, Berlin) viel aufrichtiger. Er sah, dass das politische Spiel mit den moralischen Empfindungen des Publikums sehr trickreich ist und schnell in die Ausbeutung emotional aufgeheizter Schattenarmeen führen kann. Es gibt keine allgemeine Weisheit, bei deren Beachtung man sich in solchen Situationen 'automatisch' richtig verhält. Hier ist vielmehr ein kühler Kopf gefragt. Und wenn das anschließende, nüchterne Urteil tatsächlich lautet: 'Hier wurde moralisch schweres Unrecht begangen', dann sollte man dies auch sagen. Aber Vorsicht vor einer Stampede der Gefühle! Wenn die Empörung über eigenes oder fremdes Leid die Vernunft niedertrampelt, wird dies den eingetretenen Schaden wahrscheinlich nur erhöhen. (ws)

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