Ihr da oben, wir da unten? - War einmal...

Eine Weltkarte mit Bruchlinien

Die Welt zerfällt. Wem das nicht gefällt, sag' an, was sie oder er für besser hält.

Noch weit bis in die europäische Neuzeit gab es in Europa nur ein Problem: Sag' mir, an welchen Gott du glaubst, und ich sage dir, ob du Freund oder Feind bist. Erst seit dem Aufblühen der Industrialisierung in Europa, also ungefähr seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, wurde diese zentrale politische Frontlinie zunächst in Europa, später in der ganzen Welt, grundlegend umgedeutet. Sie wurde nunmehr definiert als die Gegnerschaft zwischen Kapitalisten und Arbeitern. Der Vorwurf Letzerer lautete, von Marx ausführlich kommentiert: Ihr Kapitalisten nehmt uns den Wert unserer Arbeit weg und haltet uns in Armut, um unsere Abhängigkeit von euch und euren Gewinn nicht zu schmälern. Dieser Gegensatz wurde seitdem keineswegs aufgehoben, auch wenn er sich in größeren Teilen der Welt seit dem mittleren 19. Jahrhundert erheblich gemildert hat. Er wurde allerdings überholt, und zwar weder von 'links', noch von 'rechts', sondern von einer neuen, auf viele verschiedene Weisen ausgeprägte Frontlinie, die in zwei Dimensionen definiert ist: (a) dem Gegensatz zwischen Identitären und Universalisten und (b) dem Gegensatz zwischen demokratisch-rechtsstaatlichen und autoritären Regimes. Beide sind sich ähnlicher, als es auf den ersten Blick scheinen mag.

Die Materialisten dieser Welt haben einen neuen Feind

Da die alte, materialistisch definierten Frontlinien nicht etwa verschwunden ist, sondern nur durch viele weitere, inzwischen dominantere überstrahlt werden, ist auch die Auseinandersetzung mit den daraus folgenden ideologischen Konsequenzen deutlich schwieriger geworden. Vor fünfzig Jahren empfand manche Zeitgenoss:in im westlichen Europa noch warme Zuneigung für politische Monster wie Enver Hoxha oder Massenmörder wie Mao Zedong (die geschätzte Zahl politischer Opfer des Letzteren schwankt zwischen siebzig und neunzig Millionen Toten). Selbst Stalin konnte noch bis in die 1960er Jahre erstaunlich Sympathien für sich verbuchen, insbesondere in Frankreich. Alles, was sich das Etikett 'Kommunistisch, deshalb besser als kapitalistisch' ans Revers heftete, war automatisch damit auch politisch legitimiert, oder zumindest besser als der barbarische Kapitalismus. Dann aber verschwommen die politischen Frontlinien zunehmend. Die Globalisierung, der Fall des Eisernen Vorhangs, der Aufstieg Chinas als wirtschaftliche Weltmacht - all das veränderte gründlich das Bild einer manichäisch geordneten Welt, wo hüben immer die Guten und drüben immer die Bösen sind. Inzwischen wissen wir, dass der Kommunismus, wo er praktisch umgesetzt wurde, mindestens genauso mörderisch war wie der Faschismus und der despotische Brutalismus, egal welcher politischen Couleur, insbesondere im Gewande militärischer Gewaltregimes.

Die fundamentale Verschiebung, die hierbei stattfand, betraf den Kern der vorangehenden marxistischen Analyse moderner Gesellschaften. Die besagte, dass die dominante Konfliktlinie in allen Gesellschaften der Welt immer die zwischen Armen und Reichen sei, mithin ein materieller Konflikt. Inzwischen schwingt das Pendel allerdings zurück zu einer älteren Form des Großkonflikts, nämlich dem ideologisch definierten. Nicht einmal der Rückfall in alte, längst tot geglaubte religiöse Glaubenskriege ist davon ausgenommen. Darüber hinaus gibt es unzählige weitere Themen, über die heftig gestritten wird: Geschlechterrollen, sexuelle Vielfalt, ethnische und Hautfarben-Diskriminierung, neokoloniale Spannungen, und natürlich und unvermeidlich die religiösen Grabenkämpfe: Dschihadisten aus dem Dunkel eines islamistischen Herrschaftswahns sind dabei genauso an vorderderster Front wie evangelikale Kreuzritter insbesondere in den USA. Aber auch gewalttätige hinduistische Estremisten in Indien und sogar hochaggressive Buddhisten in Myanmar schwingen sich zu neuen Glaubenskriegen auf. Schaut man aber hinter die Oberfläche solcher partikularen Verirrungen, zeigt sich eine Gemeinsamkeit, die als neu-alte, nicht mehr materialistisch, sondern ideologisch definierte Frontlinie emergiert: Partikularisten gegen Universalisten, und mit ihnen all die alten Wertedebatten, die noch nie zu etwas geführt haben.

Diversität ist ein Problem, aber keines der Inhalte, sondern der Schwierigkeiten einer Einigung

Grundsätzlich ist nichts dagegen einzuwenden, wenn jemand meint, immer die eigene, meist national oder glaubensbasiert definierte Klientel bevorzugen zu müssen. Zum Problem wird eine solche Einstellung, wenn sie die damit aus dem eigenen Begünstigtenkreis Ausgeschlossenen nicht mehr nur als Wettbewerber in Zeiten knapper Ressourcen sieht, die sie dennoch fair zu behandeln verspricht, sondern 'die Anderen' von vornherein als Glaubensgegner, existenzielle Bedrohnung und somit Gefahr für die eigene Identität betrachtet, die es unter Einsatz von Gewalt zu bekämpfen gilt. Spaltungen dieser Art korrespondieren nicht mehr mit Staatsgrenzen; sie verlaufen in zahllosen Ausprägungen mitten durch die davon betroffenen Gesellschaften - und das sind heute praktisch alle jene, die nicht ihrerseits von höchst gewalttätigen Despoten daran gehindert werden, sich solchen 'Nebensächlichkeiten' zu widmen. Diese Despoten rechtfertigen ihre Gewaltregimes indes genau mit diesem Risiko: "Wenn wir nicht knallhart solche Spaltungen verhindern, wird es uns ergehen wie dem dekadenten Westen, der daran zugrundegehen wird." - so ihr Mantra, besonders laut in Russland und China zu hören, aber auch in Saudi-Arabien.

Der Kern der neuen, multiplen Frontlinien, die heute die Welt wie das Netz der Sprünge einer Glasscheibe durchziehen, die von einem Geschoss getroffen wurd, ist folglich ein ideologischer und nicht mehr materialistischer. Unterschiedliche Menschenbilder und Gesellschaftsideale prallen plötzlich mit einer Wucht aufeinander, die gar keinen Kompromiss mehr zulässt. Bereits die aus vernünftiger Sicht geforderte Geduld, derer es bedarf, damit selbst sehr sinnvolle gesellschaftliche Veränderungen ihre Zeit brauchen, wird  häufig schon als Verrat am jeweils eigenen Glaubensdogma denunziert. Es ist nicht der Inhalt dieser Dogmen, der so problematisch ist, sondern die Intenstität ihres Geltungsanspruchs. Jemand kann überzeugt sein, dass der Antichrist bereits auf der Erde gelandet ist und das Jüngste Gericht unmittelbar bevorsteht: Sofern diese Person nur in ihrem einsamen Kämmerlein vor sich hinbrütet und nicht motiviert ist, die ganze Welt in einen Endkampf zwischen Gut und Böse zu stürzen, ist sie zumindest gesellschaftlich kein Problem, auch wenn es ihr persönlich mit einer solchen Einstellung nicht gut gehen mag. Wenn zu solchen, in mannigfachen Variationen heute blühenden, extremen Weltbildern allerdings auch noch die Überzeugung hinzutritt, dass die jeweils an ihre Dogmen glaubenden Personen berufen seien, die Welt zu retten, dann wird es gefährlich. Politologisch bezeichnet man diesen Effekt, egal auf welche Überzeugung er sich bezieht, als Radikalisierung. Es ist also nicht die Vielfalt der Weltbilder, die die gegenwärtige Welt in einen Zustand riskanter Instabilität stürzt, selbst wenn unter diesen Weltbildern sehr realitätsferne sind, sondern die Radikalität der Geltungsansprüche ihrer jeweiligen Anhänger.

Die selten gewordene Kunst des Pragmatismus

Das Gegenteil von Radikalismus ist Pragmatismus. Wer politische Veränderungen will, sollte sich darauf einstellen, dass sehr viele Personen sehr unterschiedliche Veränderungen wollen und schon der Einigungsprozess auf eine bestimmte Entwicklungsrichtung je nach Komplexität der Sache Jahre und Jahrzehnte dauern wird. Weitere Zeit wird selbst nach Einigung auf eine einzelgesellschaftliche oder gar weltweite Veränderung gebraucht, um sie praktisch zu implementieren. Man braucht sich bloß anzuschauen, welchen Umfang die seit dem Zweiten Weltkrieg wirksam geschlossenen völkerrechtlichen Vereinbarungen angenommen haben, und dies mit dem Grad ihrer praktischen Umsetzung zu vergleichen. Das Ergebnis wird viele Menschen nicht nur ernüchtern, sondern zu dem voreiligen Schluss verleiten, dass 'das alles doch keinen Sinn' habe. Doch, es hat Sinn, und vieles hat sich z.B. seite dem Zweiten Weltkrieg auch schon in Richtung des weltweit als gut Anerkannten verändert. Aber noch nicht genug, und es wird auch nie genug sein.

In Anbetracht dieser Ablösung der für zweieinhalb Jahrhunderte geltenden Überzeugung, dass das Hauptproblem der Menschheit das Gefälle zwischen Armen und Reichen sei, durch die neuen, multiplen ideologischen Schismen, könnte man sich tatsächlich eine Rückkehr in eine materialistisch definierte Weltsicht wünschen. Immerhin lässt sich Geld zählen, die Grade anderer Formen von Unordnung, insbesondere von Ungerechtigkeiten, dagegen nicht. Da es jedoch hoffnungslos erscheint, alle emotional höchst aufgebrachten Extremisten dieser Welt um Beruhigung zu bitten, scheint es mir die zweitbeste Lösung, diese Personen darauf hinzuweisen, vielleicht etwas mehr auf die alten, häufig abgedroschenen Ungerechtigkeiten zu schauen, die man in Heller und Pfenning ausrechnen und korrigieren kann. Vielleicht hatten Marx und Engels in ihrer Betonung dieses merkwürdigen Metakriteriums Recht: Genauso, wie der Wechsel von ewigen Kriegen zwischen Protestanten und Katholiken zu einer überwiegend mit Worten geführten Auseinandersetzung über die Verteilung gesellschaftlichen Reichtums zumindest eine Befreiung von ungreifbaren ideologischen Forderungen mit sich brachte und an ihre Stelle greif- und zählbare ideologische Forderungen setzte, sollte alle Glaubenskämpfer dieser Welt sich vielleicht etwas mehr darauf besinnen, wie man die materiellen Differenzen der Kampfparteien wieder etwas mehr in den Vordergrund rücken kann. Da sind nämlich reale Kompromisse erzielbar. Und das ist, neben allen immer noch möglichen zukünftigen Veränderungen, vielleicht das Wichtigste. (ws)

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