Visionen ./. Illusionen

 

Eine Frau mit großen Augen und Brille vor einer künstlichen Landschaft

Wollen wir wirklich nur die gegenwärtigen Tatsachen sehen?

Von dem früheren deutschen Bundeskanzler Helmut Schmidt ist der Spruch überliefert: "Wer Visionen hat, sollte zum Augenarzt gehen". Er meinte dies zwar nur im Hinblick auf die politische Sphäre. Doch selbst dort ist der Spruch unangebracht. Viel treffender wäre es gewesen, wenn Schmidt von Illusionen geredet hätte, die sich Politiker:innen aus dem Kopf schlagen sollten. Dann aber wäre der sarkastische Verweis auf die Augenärzt:innen nicht mehr passend, sondern eher auf Psycholog:innen. Doch wie sieht es tatsächlich mit dem gesellschaftlichen Wert von Illusionen aus? Sind sie womöglich wirklich wertlos oder sogar gefährlich?

Der Unterschied

Visionen sind etwas anderes als Illusionen. Die sprachgeschichtliche Herkunft von 'Illusion' ist das lateinische Nomen 'illusio' = 'die Täuschung'. Dies ist wiederum abgeleitet von dem Verb 'illudere' = 'täuschen, in die Irre führen', dessen Stamm 'ludere' = 'spielen' auf ein aktives kommunikatives Betrugsmanöver hinweist. Wer Illusionen hat, ist folglich das Opfer einer Täuschung, auch wenn hieran nicht unbedingt eine Täterin oder ein Täters schuld sein muss. Die Vision ist dagegen das psychologische Phänomen einer inneren, d.h. nicht von äußeren Sinneseindrücken verursachten Bilderscheinung, häufig ausgebaut zu Ereignisvoraussagen. Eine Vision ist folglich die aktive, kognitive und psychologische Leistung einer Person, die meist von gegenwärtigen Zuständen ausgehend motiviert ist, einen warnenden oder optimistischen 'Blick in die Zukunft' zu tun.

Semantisch verwandt mit 'Illusion' und 'Vision' sind Begriffe wie 'Halluzination', 'Hoffnung' und sogar 'allgemeiner Plan'. Während die Halluzination jedoch eine pathologische Sinnestäuschung ist, haben Hoffnungen und allgemeine Pläne eher etwas mit der Gestaltung von Zukunft zu tun und sind deshalb dem Bedeutungshof von 'Vision' zuzuschlagen. Im Folgenden soll es nicht mehr um Illusionen und Halluzinationen gehen, sondern um die gesellschaftliche Potenz politischer Visionen, aber auch um deren Risiken.

Gute und schlechte Visionen

Politische Visionen sind schon aus alter Zeit bekannt. Die israelitischen Propheten, später auch die islamischen, wurden sehr ernst genommen und hatten nicht selten großen Einfluss auf die Geschicke ihrer Gesellschaften. Häufig waren ihre Visionen - im Sinne einer kollektiven Bestimmung des betroffenen Stammes oder Volkes - keineswegs positiv in dem Sinne, dass sie ihren Adressat:innen großes Glück verhießen. Im Gegenteil, ein erheblicher Teil der Prophetien bestand aus schweren Warnungen, was passieren würde, wenn sich die Angesprochenen nicht grundlegend bessern. Positiv waren sie dennoch in dem Sinne, dass sie zu einer Umkehr aufforderten, die dann auch zu einer entsprechenden Erhörung durch Gott führen würde.

Politische Visionen sind ihrem Wirkungstypus zufolge spezielle politische Imperative: Sie fordern die Adressat:innen auf, ihren gegenwärtigen Lebenswandel zu überdenken und früher an religiös, heute oft technisch begründeten, allgemeinen Verhaltensleitlinien auszurichten. Sie unterscheiden sich von allgemeinen Ratschlägen politischer Berater jedoch erheblich durch die Intensität ihres Vortrages. Ohne eine solche intensive Inszenierung der Vision, die eine entsprechende Persönlichkeit und Autorität voraussetzt, sind Visionen lediglich irrelevante private Phantasien ohne jegliche öffentliche Wirkung. Visionen setzen folglich eine sehr spezielle Rollenverteilung innerhalb der jeweiligen politischen Sphäre voraus, nämlich eine Mehrheit von Personen, die sich in einem trägen main stream der Meinungen und des politischen Establishments bewegen, und eine herausragende Person, die sich auf häufig radikale Weise von diesem main stream absetzt und mit ihren politischen Imperativen, verpackt als Vision, das Publikum aufrüttelt. Dieses Verhältnis lässt sich nicht umgekehren: Eine Gesellschaft, die mehrheitlich aus Visionären besteht und nur einige wenige, nicht-visionäre Mitglieder hat, dürfte eher einem psychotischen Kollektiv ähneln als einem an der gegenwärtigen Wirklichkeit orientierten Kollektiv.

Visionäre sind nicht nüchtern; sie strahlen mit der Intensität ihres Vortrags eine Erregung aus, die sie mit aller Kraft zu verbreiten versuchen, um damit die Wirkung ihrer Forderungen zu erhöhen. Sie denunzieren deshalb die Nüchternheit und angebliche Selbstverständlichkeit des Lebens der großen Mehrheit als Illusion, d.h. als Selbsttäuschung über den angeblich sehr kritischen Zustand der aktuellen Gesellschaft. Gute und schlechte Visionen sind deshalb sehr schwer voneinander zu trennen. Greift eine Visionär:in die aktuell herrschenden Eliten an, wie Jesus dies gegenüber den Pharisäern tat, wird er bei den Angegriffenen sicher nicht auf Gegenliebe stoßen, sondern im schlimmsten Falle sogar als krimineller Aufwiegler hingerichtet werden. Die geschichtliche Qualität einer Vision ist deshalb oft erst an ihrer langfristigen Wirkung messbar und kann sich, je nach herrschender Gesinnung einer Epoche, auch schnell wandeln.

Braucht eine Gesellschaft Visionär:innen?

Heutige Visionäre (meistens biologische Männer) entstammen häufig nicht mehr der politischen, gar religiösen, sondern der wirtschaftlichen Sphäre. Insbesondere die gigantischen Tech-Unternehmen der letzten Jahrzehnte werden häufig von visionären Gründern und CEO's geführt. Von solchen Personen wird wie selbstverständlich eine visionäre Strahlkraft verlangt, die man früher nur von religiösen Propheten kannte.

Eine solche Fähigkeit sollte man weder naiv verherrlichen, noch sie einfach als gefährlich abtun. Es ist kein Zufall, dass schon die alten, aber auch die modernen Visionäre sich als die Speerspitze menschliche sozialer Entwicklung sahen, früher im Dienste ihres Gottes, heute im Dienste der Rettung der gesamten Menschheit. Der jüdische deutsche Philosoph Karl Löwith hat in einem Buch mit dem Titel Weltgeschichte und Heilsgeschen bereits im Jahr 1949, also kurz nach dem Untergang des 'Dritten Reichs' mit seinem Wahnsinns-Visionär Hitler an der Spitze gezeigt, dass politische Visionen eng mit kollektiven Heils- und Erlösungserwartungen verbunden sind. Dieser spezielle Zug des europäischen Kulturraums war anderen Kulturen fremd. Nicht nur China, sondern auch viele andere große Kulturräume pflegten zwar eine sehr entwickelte Orakeltechnik, die von ausgebildeten Spezialisten ausgeübt wurde und entsprechend großen politischen Einfluss hatte. Diese Leute waren aber keine Visionäre, sondern wichtige Wahrsager in politischen Entscheidungsfragen einer für das übrige Publikum nicht erkennbaren Zukunft.

In einer Zeit wie der heutigen, wo sich eine zunehmend klamme, weltweit wie ein dunkler Nebel aufsteigende Endzeitstimmung in unserem Köpfen einnistet, werden Visionär:innen einerseits gebraucht, um die aufkeimende Verzweiflung anlässlich multipler Katastrophenerwartungen wieder in eine positive Orientierung zu verwandeln. Andererseits ähneln solche visionären Personen der Spritze der Heroinsüchtigen, die den Schmerz der Wirklichkeit nicht mehr aushalten. Besser wäre es, wenn wir auf solche Visionär:innen verzichten könnten, weil 'wir' (im Sinne einer mittlerweile globalisierten Kulturgemeinschaft') ganz nüchtern und ohne die gefährliche visionäre Erregung imstande wären, Fehlentwicklungen zu korrigieren und uns auf einen gemeinsam beschlossenen Weg in die Zukunft einigen könnten. Davon ist die Menschheit aber so weit entfernt, dass zumindest derzeit kaum Hoffnung besteht, eine dafür notwendige, minimale Einheit der politischen Orientierung herbeiführen zu können.

Vielleicht ist die auf uns wie eine riesige Flutwelle zurollende Gefährdung der gesamten irdischen Biosphäre der notwendige und ausreichende Anstoß, um die Bereitschaft zu einer solchen Einigung doch noch zu ermöglichen. Falls nicht, werden uns auch weitere Visionär:innen, insbesondere jene aus dem Lager internationaler Technologiekonzerne, vermutlich kaum weiterhelfen. Wir leben eben nicht mehr in den Zeiten z.B. eines israelitischen Volkes vor zweieinhalbtausend Jahren. Helmut Schmidt hatte also geich in mehrfacher Hinsicht Unrecht: Die 'richtigen' Visionär:innen zur passenden Zeit können geradezu die Rettung aus der kollektiven Verzweiflung sein; die sollte man keineswegs zum Augenarzt schicken. Das eigentliche Problem dürfte allerdings sein, dass wir Heutige immer noch in einer Dynamik der Heilserwartung stecken, die an sich selbst bereits auf einen kritischen gesellschaftlichen Zustand hinweist. Die langfriste gesellschaftliche Entwicklungsarbeit sollte deshalb darauf abzielen, über solche Heilserwartungen grundsätzlich hinwegzukommen und mit der Leichtigkeit und Nüchternheit eines angst- und empörungsfreien Bewusstseins auch die Zukunft planen zu können. (ws)

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