Verzweckt und zugenutzt!

Ein mechanischer Webstuhl vor einer grünen Landschaft

Es war einmal vor langer Zeit, da hatte jemand eine gute Idee...

Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne

Als Kant im Jahr 1785 seine einflussreiche Schrift Grundlegung zur Metaphysik der Sitten veröffentlichte, geschah dies exakt zur selben Zeit, als der britische Erfinder Edmund Cartwright seine Erfindung des power loom patentieren ließ, des ersten von einer Dampfmaschine angetriebenen Webstuhls. Cartwright läutete damit die Industrielle Revolution ein, die bis heute andauert und uns mittlerweile die Wunder der Künstlichen Intelligenz beschert. Deren Wesenskern ist nun nicht mehr Stahl und Dampfdruck, sondern die logische Verarbeitung unvorstellbarer großer Datenmengen mit einer gleichmaßen unvorstellbaren Rechengewalt. Es dauerte allerdings noch Jahrzehnte, bis jener erste industrielle Tsunami auch im ferner Königsberg ankam. Kant erlebte ihn nicht mehr. Aber er hatte einen feinen Sinn für die Zeichen seiner Zeit und spürte, dass hier etwas im Gange war, was tief in das alte Menschenbild des christlichen Europa eingriff. Der britische Geschäftssinn, der sich mächtig in den kolonialen Erfolgen der bereits im Jahr 1600 gegründeten East India Company und der führenden Rolle Großbritanniens im transatlantischen Sklavenhandel äußerte, rückte eine seltsame Frage in den Mittelpunkt jenes Büchleins von Kant. Sie lautete: Was unterscheidet 'den Menschen' (als Gattungswesen) von allen sonstigen Wesen und Dingen der Natur? Kant antwortete auf diese Frage mit einem Rückgriff auf den Begriff der Menschenwürde, den der florentinische  Renaissance-Philosoph Pico della Mirandola bereits im Jahr 1496 in seinem Essay „Rede über die Würde des Menschen“ zu höchstem intellekturellem Rang erhoben hatte. Diesen Begriff kombinierte Kant mit einem zentralen Begriff aus der Welt der Wirtschaft, dem 'Preis'. Das Ergebnis lautete: Alles hat einen Preis, nur der Mensch nicht. Deshalb besitzt der Mensch Würde.

Es geht immer noch extremer

Dies war ein genialer intellektueller Schachzug. Denn eine sich nicht nur in England, sondern auch im Rahmen des rationalistischen Geistes der französischen Aufklärung generell anbahnende Abkehr von allen metaphysichen Zweckbestimmungen des Menschen brachte es mit sich, dass die europäische Bevölkerung sich zunehmend unwohl zu fühlen begann: Gibt es uns nur deshalb, um ein Leben lang zu arbeiten und ab und zu für unsere Herrschenden in den Krieg zu ziehen? Die europäische Aufklärung zerstörte nämlich nicht nur den korrupten und heuchlerischen moralischen Führungsanspruch der christlichen Kirchen, sondern damit leider auch die einzige verfügbare Definition des christlichen Lebenssinns, die lautete: 'Du lebst, um die göttliche Schöpfungsidee auf Erden zu vollenden und nach deinem irdischen Tod ins Paradies einzugehen.' Damit war jetzt Schluss. Was aber trat an die Stelle dieser alten, metaphysischen Bestimmung des Menschen? Nun, etwas sehr Irdisches: Die maximale Steigerung der Effizienz unser aller Arbeit zur Maximierung des Wohlstands. Diese neue Losung gilt bis heute, und sie gilt stärker denn je. Sie ist so überwältigend , dass sie sogar in China zur obersten Maxime der Staatsräson aufgestiegen ist. Und das in einem Land, das nach über 2.000 Jahren einer vollkommen anderen Tradition, nämlich im Anschluss an die erfolgreiche Revolution unter der Führung von Mao Zedong, inzwischen zu den führenden Industriemächten der Welt aufgestiegen ist. So schreibt der renommierte chinesische Rechtswissenschaftler Yu Qinsong im Jahr 2020 im Journal Legal Forum, das von der Law Society der chinesischen Provinz Shandong herausgegeben wird, über den Sinn des so genannten 'Sozialkreditsystems' der chinesischen Zentralregierung, das auf die totale Erfassung und Vernetzung aller nur verfügbaren Daten sämtlicher Personen und Entitäten in China zwecks ihrer Kontrolle und Disziplinierung hinausläuft (siehe die Übersetzung dieses Textes in Daniel Leese/Shi Ming: Chinesisches Denken der Gegenwart. Schlüsseltexte zu Politik und Gesellschaft, Verlag C.H. Beck, München 2023, aus der hier zitiert wird):

"Dies bedeutet, dass es bei der algorithmischen Governance darum geht, durch Mustererkennung auf Störungen und Veränderungen zur reagieren oder sich an diese anzupassen. (S 533) [...] Dadurch werden vertrauenswürdige und konforme Personen belohnt und an nicht vertrauenswürdigen Personen Korrekturen und Behandlungen durchgeführt und sie dadurch normiert. (S. 551) [...] Das Sozialkreditsystem normiert das Verhalten durch Quantifizierung. (S. 554)."

Und als ob dies noch nicht deutlich genug wäre, schreibt im nächsten Beitrag desselben Buches der Direktor des Politikwissenschaftlichen Institutes der Chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften, Fang Ning, im Jahr 2020 über die Vorzüge und Risiken des chinesischen Gesellschafts- und Herrschaftsmodells:

"Historisch gesehen ist das grundlegende Kriterium zur Bemessung der Vorzüge und Nachteile eines [Gesellschafts- oder Herrschafts-]Systems das Kriterium der Produktivkräfte. Systeme, die an die Erfordernisse der Entwicklung der Produktivkräfte angepasst sind, werden ausgewählt und werden überleben. Systeme, die den Erfordernissen der Entwicklung der Produktivkräfte nicht gerecht werden, werden am Ende ausselektiert. Sie verschwinden im Dunst der Geschichte." (S. 560)

Nun geht es mir nicht um billiges China-bashing, auch wenn das heutige China nach Übernahme der kommunistischen Ideale aus dem fernen Europa unter der initialen Anleitung von Stalin einen extremen und inzwischen schwer zu übertreffenden Standpunkt einnimmt. Denn der Kapitalismus westlicher Machart, von dem sich China unbedingt absetzen will, hat ohnehin mit dem heutigen, offiziellen chinesischen Menschenbild und Gesellschaftideal den entscheidenden Kern gemeinsam: Die alte Würde des Menschen, die über allen seinen irdischen Zwecken stehen soll, wird ersetzt durch seine maximale Vernutzung. Der einzige Unterschied zum westlichen Kapitalismus besteht letztlich darin (und wird von der chinesischen Propaganda eifrig 'dem Westen' vorgeworfen), dass die tatsächliche Entwürdigung des Menschen hüben zum Nutzen einzelner privater Unternehmen, drüben dagegen zum Nutzen einer alles dominierenden Sucht nach Staatssicherheit und Konkurrenz mit eben jenem Westen stattfindet. Und nicht nur hier und dort, sondern in der ganzen Welt gilt inzwischen dieses Paradigma: Der Mensch ist Mittel zu irgendeinem Zweck, nur nicht zu seinem eigenen. Er ist letztlich Nutzvieh.

Der große Verlust

Dieses Problem schafft man nicht aus der Welt, indem man sinister fragt: Cui bono? Mit anderen Worten: Sind es womöglich immer 'die Herrschenden', die mit solchen Methoden 'die Menschen', jetzt also alle Nicht-Herrschenden, in das Joch ihrer lebenslangen Ausbeutung zwingen? Das war die alte, marxistische Moral, die mit solchen Sprüchen das damalige Proletariat gegen die Kapitalisten in Stellung zu bringen versuchte. Die nüchterne Realität ist jedoch eine andere: 'Die Herrschenden' (wer dies im Einzelfall auch immer sein mag) sind selbst nur eine Funktion in einem System, von dem die Beherrschten letztlich genauso überzeugt sind wie ihre Herrscher. Oder anders gesagt: Die Idee, wozu 'der Mensch' da sein könnte, wenn er nicht für fremde Zwecke schuftet, ist mittlerweile (fast) allen Beteiligten weltweit abhanden gekommen. Der Lohn für diesen Verlust lautet bei allen Betroffenen gleichermaßen: 'Dafür darfst du konsumieren', und zwar bis zum Umfallen - sofern du vorher dazu das nötige Kleingeld verdient hast. Aber auch wenig Geld, so geht die Denke, ermöglicht mir immer noch ein Netflix-Abo, also wozu meckern, wenn ich mich abends, erschöpft, in den Sessel hauen und die nächste Folge meiner geliebten Serie sehen kann? Armer Kant, du wurdest wirklich schlimm verkannt. Deine Würde ist total unter die Räder gekommen.

Doch auch der Hippie-Traum der Aussteiger:innen und aller pseudo-erleuchteten Esoteriker:innen ist längst ausgeträumt. Die tatsächliche Globalisierung hat durchschlagend in unseren Köpfen stattgefunden und lautet: Der Wert meiner Person ist kein Eigenwert, sondern bemisst sich an der Menge des Genusses, den ich in diesem Leben für mich herauszuschlagen imstande bin. Genau in diesem Sinne stellte bereits Max Horkheimer im Jahr 1947 in seinem Buch Eclipse of Reason nüchtern fest, dass sich die Welt seit Kant in eine gigantische Maschine zur maximalen instrumentellen Vernutzung aller Menschen verwandelt habe. Der industrielle Fortschritt hat das alte (nicht nur christliche) Ideal eines Menschen und aller Lebewesen vollkommen niedergetrampelt. Sie sollten aber letztlich überhaupt keinem weiteren Zweck dienen, sondern einen Eigenwert haben. Diesen Eigenwert wieder aufleben zu lassen scheint heute fast unmöglich zu sein in Anbetracht der Kräfte, mit denen der industrielle Dinosaurier auf unser aller Köpfe drückt. Und schon Kant selbst war in gewisser Weise ungenau, trotz seiner in Anbetracht des Kommenden hellsichtigen Definition der Menschenwürde. Denn er sah nur die Würde des Einzelnen und übersah damit, dass diese Würde nur mit einem zugrunde liegenden - ja: metaphysischen - Menschenbild erhalten werden kann, das sich nicht in der Herstellung und Aufrechterhaltung eines Rechtsstaates und individueller Konsumfreiheit erschöpft, sondern sich um die existenzielle Grundlage des aufgeklärten Menschenbildes selbst kümmert: Der Mensch als Teil der ganzen Natur besteht an und für sich selbst und schuldet niemandem eine weitere Zweckerfüllung seines Daseins. Was das bedeutet - und es bedeutet sehr viel! - kann ich leider nicht allein beantworten. Daran müssen wir wohl oder übel alle gemeinsam arbeiten.

Verflixt und zugenäht! Wie konnte es nur so weit kommen? (ws)

Frühere Leitartikel

Zwei Kriege

In der Ukraine geht es um sehr viel, und es scheint sogar nicht ganz übertrieben zu sein, dass es um alles geht. Was aber heißt 'alles'? Die Welt des Sozialen war schon immer und ist auch heute noch eine Welt, die sich aus zwei einander durchdringenden Teilsphären zusammensetzt. Die eine Sphäre ist jene der rohen Macht, der praktischen politischen Herrschaft. Die andere ist diejenige der Ideen, wie eine bessere Welt aussehen könnte, die Sphäre des Ethos, der Scheidung von Gut und  Böse und der kollektiven Motivation. Wenn es in einem Konflikt um beide Sphären geht, dann geht es um alles. Dies scheint in dem gegenwärtigen Krieg, den Russland nicht nur gegen die Ukraine, sondern gegen 'den Westen' sowohl hinsichtlich seiner politischen als auch im Hinblick auf seine ideellen Hegemonialansprüche führt, der Fall zu sein.

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Politische Kriminalität

Die globale politische Welt hat nicht nur ein Problem. Sie ist ein Problem. Das ist nichts Neues. Denn die Definition von Politik ist der fortwährende Kampf um die Macht, und als solches ist Politik für alle, die darunter leiden, grundsätzlich ein Problem. Das aktuelle Problem namens 'globale Politik' ragt aus dieser Normalität des Irrsinns und der Gewalt allerdings insofern historisch heraus, als es womöglich um alles geht, d.h. um die Zukunft buchstäblich der gesamten Menschheit.

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Kollektive Aggression

Die Vereinigung von Menschen zu größeren Einheiten kann sehr unterschiedliche Formen annehmen, und so auch die Aggressionen, die von solchen Einheiten ausgehen. Die Einheit eines Unternehmens besteht beispielsweise aus seinen Aktionären, seinen Mitarbeiter*innn und Führungskräften. Sie ist sozialontologisch etwas anderes als die Gruppe der Staatsbürger eines Staates oder die Mitglieder einer eher zufällig entstandenen Bürgerinitiative.

Im Folgenden soll kurz dargestellt werden, dass in gewisser, wenngleich nicht allzu starker Abhängigkeit von der Form der Einheit von Menschen auch zwei grundsätzlich verschiedene Formen kollektiver Aggression zugrundeliegen. Ich unterscheide hier zwischen (a) identitärer und (b) possessiver Aggression.

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Jesus: Die Idee

Wie kommt es, dass über eine Milliarde Menschen auf der Erde an eine Figur als ihr Erlöser glauben, deren historische Existenz nichts von diesem Glauben rechtfertigt und deren Rolle in einer religiösen Lehre vor allem durch krasse Widersprüchlichkeit auffällt? Dieser Beitrag versucht eine Antwort zu geben, die zugleich kritisch und empathisch ist.

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Wider den Menschenkonsum

Eine der sehr negativen Folgen westlicher Konsumkultur ist, dass viele Menschen an ihre Mitmenschen, insbesondere die ihnen nahestehenden, mit einer Einstellung herangehen, die der Auswahl eines Konsumartikels in einem Supermarktregal ähnelt. Es sollte niemanden wundern, wenn eine solche Einstellung nur ein geringes Potenzial zum Aufbau einer dauerhaften und für beide Seiten befriedigenden Beziehung hat.

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Lebensziele

Lebensziele sind so verschieden wie die Menschen, die sie haben. Viele Menschen haben auch gar keines. Entweder haben sie mit der Not des Alltags so viel zu tun, dass für Gedanken an ein Lebensziel keine Zeit bleibt, oder sie brauchen keines, weil sie sich ohne so etwas einfach wohler fühlen. Andererseits ist der Ausdruck 'Lebensziel' sogar einer der Umgangssprache. Wir alles wissen, was damit gemeint ist, so ungefähr jedenfalls. Oder ist es gar ein Ausdruck psychischer Not, sich über so etwas überhaupt Gedanken zu machen? (ws)

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Jemand macht etwas, und ich bin wütend

Dieser Text ist ein Plädoyer gegen die Erregung, gemeinhin auch als Gefühl bezeichnet. Das ist eine unpopuläre Herangehensweise an die Dinge dieser Welt, ich weiß. Aber schauen wir einmal, was dabei herauskommt. Zunächst einmal geht es um die Unterscheidung von Erregung und Empfindung.

 

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Das plurale Subjekt

Schon seit den Gründungstagen der Soziologie gibt es einen Streit darüber, ob soziale Tatbestände auf das Handeln einzelner, physischer Menschen zurückgeführt werden müssen, um verstanden zu werden, oder ob es ein "Wir" auch als sozialontologisch eigene Entität, als ein eigenständiges "Wir" gibt. Für erstere Auffassung stand von Anfang an Max Weber, für letztere Auffassung ebenso ursprünglich Émile Durkheim. Der Streit ist bis heute nicht entschieden. Dabei ist die streitige Frage offensichtlich ein Musterbeispiel eines Scheinproblems.

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Die neue, unbekannte Weltordnung

In einer zunehmend globalisierten Welt sind normative Ordnungen zunehmend nicht mehr auf nationalstaatliche Grenzen und ihre rechtliche und vorrechtliche (aka: sittliche) Souveränität und Besonderheit bezogen. Das wird einerseits vielerorts begrüßt, denn nationalstaatliche Grenzen sind häufig genug identisch mit den Grenzen von Willkür, nationalem Egoismus und Einigelung in historische Eitelkeiten. Wie aber lassen sich normative Ordnungen anders begründen als mit Bezug auf nationalstaatliche oder politische Blockgrenzen?

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Überkomplexität

Die formale Aussagenlogik beruht auf der Annahme, dass eine Schlussfolgerung wahr ist, wenn ihre Prämissen wahr sind. Leider ist dieses Axiom nicht beweisbar. Und es gibt guten Anlasse zur Vorsicht, es blind zu glauben.

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