Mut, Courage
Die Menschen vertragen sich nicht immer
"Geht das schon wieder los..."
Als eine hoch geschätzte menschliche Tugend sind Mut und Courage einander eng verwandt. Ihr praktischer Einsatz könnte aber nicht weiter auseinander liegen. Während Mut traditionell eher mit dem körperlichen Einsatz in gefährlichen Situationen assoziiert wird, beispielsweise im Militär, aber auch im unternehmerischen Bereich und im Sport, ist die (insbesondere zivile) Courage eher ein moralisch konnotierter Wert. Wer beispielsweise in einem öffentlichen Verkehrsmittel einen betrunkenen Rowdy stoppt, der Frauen belästigt - genderverkehrte Rollenverteilungen dürften ziemlich selten sein - beweist vor allem Zivilcourage. Überhaupt ist der Begriff 'Courage' eher mit einem Einsatz für die Gerechtigkeit verbunden. also moralisch konnotiert, 'Mut' dagegen mit dem Eingehen eines Risikos im Hinblick auf einen instrumentellen Erfolg.
Früher, in der Antike sogar ausschließlich, war Mut eine männliche Tugend. Das dürfte sich in den letzten Jahrzehnten allerdings nivelliert haben. Interessant ist auch, dass das Gegenteil von 'Mut' nicht etwa Mutlosigkeit, sondern Feigheit, Zaghaftigkeit, Weinerlichkeit etc. ist.
Ist es auch Wahnsinn, so hat es doch Methode (oder kann sie zumindest haben)
Nun kann man den Einsatz von Mut und Courage zunächst einmal vor allen moralischen Aspekten betrachten und fragen, ob es nicht allgemeine Kriterien gibt, nach denen sich der Sinn und das Maß für mutiges und/oder couragiertes Verhalten beurteilen lässt. Ich denke, dass dies tatsächlich nicht nur möglich, sondern auch zweckmäßig ist. Dazu müssen wir zunächst fragen, woran sich mutiges Verhalten überhaupt orientiert. Erst innerhalb dieses grundsätzlich nüchternen Urteilshorizonts käme dann die moralische Dimension wieder ins Spiel.
Offensichtlich sind es ganz konkrete Gefahren- oder Konfliktsituationen, die
- auf den aktuellen Ereignisverlauf und die darin sich zeigenden Rollenverteilungen (sofern kein einfaches Unglück vorliegt, wo es nur eine Rolle gibt, nämlich die der verunglückten Person)
- diesen Ereignisverlauf wiederum auf seinen moralischen Gehalt,
- gegebenenfalls eine daraus folgende Parteinahme für eine der beteiligten Seiten, ferner
- auf die möglichen Folgen eines Eingreifens und schließlich
- auf die Erfolgschance eines solchen Eingriffs
hin beurteilt werden müssen. In einer solchen komplexen Urteilssituation ist es wiederum erforderlich, den Weg zum Urteil so weit wie möglich zu vereinfachen, um eine sehr schnelle Entscheidung treffen zu können. Die ist nicht selten schon innerhalb von Sekunden nach Gewahrwerden einer Gefahrensituation erforderlich.
Betroffen oder nicht betroffen, das ist hier die Frage
Eine besondere Konfliktsituation liegt ferner vor, wenn die mutige oder couragierte Person gar keine Außenstehende ist, sondern selbst Partei ist. So war beispielsweise Beate Klarsfeld, als sie im Jahr 1968 im Plenarsaal des deutschen Bundestages den damaligen Bundeskanzler Kurt-Georg Kiesinger öffentlich dafür ohrfeigte, dass er bis 1945 NSDAP-Mitglied und im Reichsaußenministerium aktiv an antisemitischer Hetze beteiligt war, hier insofern unmittelbar Konfliktbeteiligte, als sie sich als Deutsche von 'ihrem' Bundeskanzler persönlich moralisch beschmutzt und betrogen fühlte. Aber auch jenseits solcher spektakulären Ereignisse der Zivilcourage ist eine direkte oder zumindest indirekte Betroffenheit keineswegs selten. Wer beispielsweise am Arbeitsplatz ständig von KollegInnen oder Vorgesetzten belästigt wird, muss häufig einigen Mut aufbringen, dies öffentlich zu machen, weil ungewiss ist, ob sich die übrigen KollegInnen nicht aus Mangel an Courage nicht auf die Seite der TäterIn stellen.
In solchen Situationen, vor allem den alltäglichen der eigenen Betroffenheit, ist die Entscheidungsfindung besonders dringend und gleichzeitig prekär. Die folgenden Überlegungen richten sich besonders auf diese Fallgruppe, weil sie unseren Alltag in sozial besonders relevanter Weise betrifft.
Und wieder Luhman: Komplexität reduzieren
Um die Komplexität solcher Situationen zu verringern, ist es zunächst sinnvoll, die oben genannten Entscheidungskriterien zu gruppieren. Hier bietet sich an, den ersten, vierten und fünften Punkt in eine Gruppe zu stecken, die ich als 'objektive Einschätzung der Situation' bezeichnen möchte. Die zweite Gruppe, die alle moralischen Kriterien betrifft, würde ich dagegen als 'moralische Einschätzung der Situation' betiteln.
Mit einer solchen Zusammenfassung der Urteilskriterien sind wir in der Lage, auch eine Reihenfolge anzugeben, in der die beiden Gruppen 'bearbeitet' werden sollten. Hier wird offensichtlich, dass zunächst die Gruppe 'Objektive Einschätzung der Situation' Aufmerksamkeit verdient. Denn wer nicht weiß, was los ist, sollte am besten überhaupt nichts tun. Es gilt also zunächst, sich überhaupt zu orientieren, und zwar nicht nur darüber, was gerade der Fall ist, sondern auch über die eigenen Handlungsmöglichkeiten und deren Erfolgschancen. Wenn dies erledigt ist - was innerhalb von Sekunden möglich sein muss - folgt die moralische Überprüfung des Ergebnisses aus der Situationseinschätzung und letztlich die konkrete Handlungsentscheidung. Die ist notwendig immer eine Gemisch aus allen Kriterien, und die moralischen Aspekte wirken darin wie ein Filter auf die theoretischen Eingriffsmöglichkeiten: Sie lassen nur zu, was aus eigener Sicht als 'gut' empfunden wird.
Sieht kompliziert aus, macht unser Kopf aber (mit einiger Übung) ganz von selbst
Die daraus resultierende Entscheidungssituation könnte man grafisch (nur ungefähr) so veranschaulichen:
Abb. 1: Entscheidungsfindung in moralisch komplexen Konfliktsituationen
Es geht diesem Modell zufolge also zunächst darum, die objektive und die moralische Situationseinschätzung möglichst in Deckung zu bringen, d.h. für beide Bereiche möglichst die gleichen Kriterien aufzustellen und ihre Gewichtung weitgehend anzuähneln. Dies muss allerdings ganz intuitiv und sehr rasch geschehen. Dazu sind wir mit einiger Übung jedoch durchaus in der Lage. Hierzu ist auch keine große Anzahl der Kriterien notwendig. Niemand verlangt in Situationen, die Mut und Courage erfordern, lange Berechnungen.
Nun könnte man einwenden, dass die Entscheidungstheorie bereits ein hoch entwickelter Teil der heutigen, vor allem betriebswirtschaftlich orientierten Psychologie sei. Wozu also der Aufwand. Schaut man sich die entsprechende Literatur an, wird man allerdings schnell feststellen, dass jenem Ansatz ein ganz anderes Situationsmodell zugrundeliegt. Erstens geht man dort davon aus, dass die entscheidende Person Zeit hat, sich ihre Entscheidung zu überlegen, beispielsweise auch andere Leute um ihren Rat zu bitten etc. Dadurch wiederum hat ein solches Entscheidungsmodell eine rationale Schlagseite, was in plötzlichen Konfliktsituationen selten der Falle ist. Dort regieren vielmehr die Gefühle und folglich das moralische Empfinden aller Beteiligten.
Die hier vorgeschlagene Ordnung auch in der moralisch vorgeprägten Entscheidungsfinden hat neben der erhöhten Erfolgschance aber noch einen weiteren und sehr wichtigen Vorteil, den alle rational-ökonomischen Modelle nicht bieten können: Wir können, wenn wir in einer solchen Situation auch nur halbwegs richtig entschieden haben, auch noch am nächsten Morgen - und in existenziellen Frage womöglich unser gesamtes folgendes Leben - immer noch in den Spiegel schauen und sagen: Ich habe richtig gehandelt, weil ich gut gehandelt habe. Vielleicht ist das in der heutigen Zeit das überhaupt wichtigste Erfolgskriterium. (ws)