Identität und Interesse

Leonardos Vetruvischer Mensch vor der Erde
Wir tragen die Verantwortung

Existenziell ist der Mensch ist ein Doppeltes, ein Sandwich

Der Mensch als Gattungswesen ist offensichtlich ein zweischichtiges Wesen: An der biologischen Basis ist er ein Tier unter anderen Tieren, das mit Organen und biologichen Funktionen ausgestattet ist, die im Wesentlichen auch bei allen anderen Säugetieren zu finden sind. Darüber hat der Mensch jedoch eine zweite Schicht seiner Existenz entwickelt, die man als die symbolische oder kulturelle Ebene bezeichnen könnte. Im Folgenden wird es um zwei herausragende Merkmale dieser 'oberen' Schicht gehen, die unsere gesamte psychische und soziale Existenz dominieren. Häufig werden in der Beschreibung beide Schichten der spezifisch menschlichen Befindlichkeit nicht wirklich getrennt. Das führt dazu, dass beispielsweise das Streben nach Überleben und Fortpflanzung ständig als die dominierenden Verhaltensmotive des Menschen dargestellt werden. Das ist sicherlich nicht falsch, aber auch nicht richtig. Denn diese beiden 'Triebe' beschreiben den Menschen nur auf der biologischen Ebene unter Vernachlässigung dessen, was uns auf der symbolischen und kulturellen Ebene von anderen Lebewesen auf der Erde unterscheidet.

Die Spezies homo sapiens hat sich über mehrere hunderttausend Jahre hinweg langsam, aber stetig aus ihren biologischen Abhängigkeiten herausgearbeitet. Dies gelang wesentlich durch die Entwicklung komplexer sprachlicher Kommunikation, die wiederum die Weitergabe und Akkumulation von Wissen einer Gruppe und Generation auf die nächste ermöglichte. Im nächsten Schritt führte dies zu neuen Formen sozialer Ordnung: zunächst den egalitären, aber noch kleinen Jäger- und Sammlergruppen, seit mehr als 10.000 Jahren aber auch zu größeren Zusammenschlüssen, die ab ca. 2.000 Jahre vor unserer Zeitrechnung im heutigen Mesopotamien zu den ersten Staatengründungen führten. Diese frühen Staaten glänzten nicht nur durch die Entwicklung von Schriften und vielen weiteren technischen Erfindungen, sondern entwickelten bereits Bürokratien, weiträumige Handels- und staatliche Besteuerungssysteme und mehr. Sie brachten bereits große und prächtige Bauten hervor und produzierten auch künstlerische Artefakte, unter anderem die ältesten bekannten Hymnen und Erzählungen, die teilweise zwar sehr viel älter waren, nun aber schriftlich weitergegeben werden konnten.

Alle Fragen, die wir uns stellen können, ragen bereits über unsere biologische Existenz hinaus

Damit veränderten sich auch substanziell die ehemals biologischen Verhaltensantriebe. Aus dem Sexualtrieb wurden Heiratsinteressen, aus der Fressgier die Bemühung um Pflanzen- und Tierzucht und das Bereicherungsinteresse der Kaufleute und Händler. Auch das biologische Überlebensinteresse trat jetzt zugunsten einer ständigen politischen Auseinandersetzung in den Hintergrund zum Zweck der bestmöglichen und sichersten Ordnung eines Gemeinwesens. Nicht selten stand das individuelle Überlebensinteresse dahinter so weit zurück, dass Menschen zum Beispiel mehr oder weniger freiwillig in den Krieg zogen, um die politischen Ziele ihrer Herrscher zu verwirklichen, und dabei keineswegs mehr ihr eigenes Überleben an die erste Stelle ihres Verhaltens setzten. Im Gegenteil, mit dem Aufgehen der einzelnen Person in einem größeren Gemeinwesen opferten sich sehr viele von ihren Mitgliedern im Dienste der kollektiven Sache.

Daraus ergaben sich jedoch schon etwas später - vielleicht um die Zeitenwende herum - zwei neue, in sich gedoppelte Grundfragen menschlicher Existenz, die bis heute unser aller individuelles und kollektives Leben bestimmen. Diese Fragen lauten:

  • Wer bin ich <> Wer sind wir?
  • Was will ich <> Was wollen wir?

Diese beiden Grundfragen betreffen nur noch in abgeleiteter Form biologische Faktoren unserer Existenz, d.h. sie äußern sich als psychische und soziale Fragen im Rahmen unseres anfangs als 'obere' Ebene bezeichneten symbolischen und kulturellen Dateins auf dieser Welt. Beide dieser Grundfragen sind vielschichtig und selbst komplex. Sie lassen sich aber in die zwei großen Motivgruppen Identität und Interesse einteilen. Diese beiden dynamischen Merkmale spezifisch menschlicher Existenz sind, so meine ich, nicht kulturrelativ und auch epocheninvariant, d.h. sie gelten für alle Kulturen und Epochen der Menschheit.

Die Dynamik des Lebens ist spannend und nicht immer moralisch gut

Die vorstehende Doppelung dieser Grundfragen offenbart zugleich in jeder von ihnen eine Spannung: Wie verträgt sich meine Identität mit der einer Gruppe, der ich angehöre? Und wie verträgt sich mein Interesse nicht nur mit dem eventuell konkurrierenden Interesse anderer Gruppenmitgliedern, sondern generell als Individualinteresse mit dem übergeordneten Gruppeninteresse? Beide Spannungsfelder stehen wiederum ihrerseits in einer weiteren, übergeordneten Spannung zueinander, insofern (a) meine individuelle und unsere kollektive Identität (b) auch meine individuellen und unsere kollektiven Interessen beeinflussen, und umgekehrt. Das Ergebnis ist für alle Beteiligten eine existenzielle Dynamik, die ausschließlich in menschlichen Gemeinschaften anzutreffen ist. Sie verbindet das Politische unserer aller Existenz mit unseren privaten Biografien und kann zu sehr herausfordernden Problemen führen, die nicht mehr durch einfache Handlungsentscheidungen zu lösen sind, sondern ein über die individuelle und kollektive Lebenszeit hinaus erstrecktes Explorieren der gegebenen Möglichkeiten erfordern. So entstehen abenteuerliche individuelle Lebensläufe, politische Theorien, ideologisch motivierte Kriege und sehr dauerhafte Institutionen, wie z.B. Rechtssysteme, religiöse Bewegungen und inzwischen auch internationale politiche und wirtschaftliche Organisationen.

Mittlerweile scheint die Menschheit, nicht zuletzt wegen ihrer unglaublichen technischen und kulturellen Erfolge, allerdings in eine Krise zu geraten, die beide der vorgenannten Grundfragen betrifft. In Anbetracht der global zunehmenden politischen Spannungen und der bedrohlichen Entwicklung der gesamten irdischen Biosphäre müssen wir die besagten Spannungsfelder neu ordnen und vermutlich in ihrem Kern umstrukturieren. Das heißt, wir müssen sowohl unsere individuellen und kollektiven Interessen als auch unsere Vorstellungen davon, wer wir als einzelne Person und als eine Gruppe sind (sei dies eine Gesellschaft, ein Staat, eine Religionsgemeinschaft oder was auch immer) auf den Prüfstand der aktuellen Zustände auf der Welt stellen und - vermutlich substanziell - neu bestimmen.

Das große Gespräch über die Zukunft

Dies kann nur in einem öffentlichen, gewaltfreien und auf kein definiertes Ende angelegten Prozess geschehen. Damit dieser Prozess Früchte bringt, müssen sich alle, die sich daran beteiligen, konstruktiv disziplinieren, vor allem zuhören, was andere sagen und bereit sein, auf alte ideelle und materielle Besitzstände zu verzichten. Dies betrifft viele Fragen, die an die Fundamente unseres Weltverhältnisses gehen:

  • In welchem Umfange ist ein immer weiteres wirtschaftliches Wachstum und steigender materieller Wohlstand noch der Gesamtheit des Lebens auf dieser Erde förderlich? Welchen Stellenwert müssen künftig biologische Gleichgewichtsziele haben, um die aktuelle Situation tatsächlich zu bessern?
  • Wie lässt sich eine globale Ethik formulieren, die aufrichtig von allen Kulturen der Welt angestrebt wird und nicht mehr wirtschaftlichen, militärischen und kulturellen Konkurrenzen und Überlegenheitsfantasien zum Opfer fällt?
  • Wie können neue politische Herrschaftsformen aussehen, die weder in aggressives Herrschafts- und Kontrolldenken zurückfallen, noch sich dem romantischen Glauben hingeben, dass irgendwann alle Menschen Brüder bzw. Schwestern werden. Das werden sie vermutlich nie werden, und es ist auch gar nicht klar, ob ein solcher Zustand überhaupt als ideal anzustreben ist. Mit dieser Frage ist auch die weitere, sehr dornige Frage verbunden, wo das stabilste und moralisch akzeptabelste Gleichgewicht zwischen materieller Gleichheit und Ungleichheit aller Menschen liegt.

Diese Fragen werden an dieser Stelle sicherlich nicht beantwortet. Wohl aber sollten wir uns langsam darüber klar werden, dass wir uns mit ihnen nicht nur dringend, sondern auch sehr gründlich und vor allem unvoreingenommen beschäftigen müssen, wenn wir nicht blind wie die Lemminge in globale Lebensumstände geraten wollen, die sich definitiv niemand von uns gewünscht hat. (ws)

Frühere Leitartikel

Natur

Einer der zentralen ideologischen Angriffspunkte der großen französischen Aufklärer war ihre Kritik am Umgang der katholischen Kirche mit der Natur. Alles Natürlich am Menschen, allem voran seine Lust auf Sex und Luxus, war der katholischen Kirche ein Greuel. Tatsächlich waren ihre diesbezüglichen Methoden erstaunlich erfolgreich, wenn man bedenkt, wie stark die damit bekämpften Triebe sind, insbesondere jener, der angeblich nur der Fortpflanzung dient (dies ebenfalls eine Erfindung der katholischen Glaubenslehre; die Bonobos sind anderer Meinung). Doch die Geschichte nahm eine andere Wendung.

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Ausnahmezustand

Es gibt wohl wenige Sätze in der politischen Philosophie des 20. Jahrhunderts, die so wirkungsmächtig waren wie der erste Satz der Politischen Theologie von Carl Schmitt. Er lautet: "Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet." (Duncker & Humblot, München und Leipzig, 2. Aufl. 1934, S. 11). Dabei klingt dieser Satz zunächst einmal rätselhaft. Ausnahmezustand? Das war doch damals... 1933. Aber heute?

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Drei Fragen, grundsätzlich

Es gibt drei grundsätzliche Fragen, die symbolisch agierende Wesen gerne beantwortet hätten, die aber vermutlich auf absehbare Zeit nicht abschließend beantwortet werden können:

1. Wieso gibt es das alles: das Universum, die Erde, die menschliche Welt?
2. Wie verhält sich die Bestimmtheit der Welt (ihre Bedingtheit, Determination, Regeln) zur strukturellen Entwicklungsfreiheit der Dinge und der Menschen?
3. Hat die Welt einen immanenten Sinn (einen Zweck, ein Ziel, eine Bestimmung)?

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Gott, die Fremden und das Geld

Der Ökonom Jonathan Schulz und der Evolutionsbiologe Joseph Heinrich (beide an amerikanischen Universitäten, ferner weitere Koautoren) haben kürzlich in der renommierten Zeitrschrift Science (Nr. 6466 / Bd. 366 vom 08.11.2019) einen spektakuläres Untersuchungsergebnis veröffentlicht. Sie stellten sich die alte und immer wieder heftig diskutierte Frage, warum sich bestimmte Regionen der Welt institutionell und wirtschaftlich so viel stärker entwickelt haben als andere. Eine solche Untersuchung ist alles andere als theoretisch.

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Die Pascalsche Wette, dreiwertig

Die Pascalsche Wette ist bekannt geworden, weil sie angeblich beweist, dass es selbst bei unsicherer Tatsachenlage betr. die Existenz Gottes vorzuziehen sei, an Gott zu glauben: Man gewinne bei gleichem Einsatz mehr, als wenn man sich dem Unglauben ergebe. Leider sitzt der populäre Glaube an Pascals Gedankenspiel einem logischen Irrtum seines Urhebers auf, der natürlich schon längst bemerkt wurde. Fraglich ist allerdings, wie man den Fehler Pascals beheben kann. Der Beitrag zeigt, dass eine dreiwertige Aufmachung des logischen Kalküls ein überraschend klares und positives Ergebnis bringt.

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Meta-Hedonismus

Es gibt Grundfragen des sozialen Zusammenlebens von Menschen, die notorisch schwer zu beantworten sind. Überhaupt eine Antwort auf sie zu geben ist bereits schwierig, und unter den möglichen Antworten, sofern sie halbwegs plausibel sind, die bessere oder beste von den schlechteren zu unterscheiden, bleibt häufig dem subjektiven Belieben überlassen. Zwei solcher besonders schwierigen Fragen lauten:

  1. Was ist der Sinn eines bestimmten Kollektivs, z.B. einer Familie, eines Sportvereins oder einer ganzen Gesellschaft?
  2. Gibt es absolute Verhaltensmaßstäbe (Moral) für ein solches Kollektiv?

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Toleranz: Wie entsteht sie überhaupt?

Wenn wir heute von Toleranz sprechen und diese als Option zur Lösung dauerhafter, vor allem ideologischer Konflikte vorschlagen, so ist häufig nicht ganz klar, was für eine Einstellung oder Geisteshaltung damit überhaupt gemeint ist, bzw. wie man Toleranz produzieren kann. Wir haben es im schwächsten Falle der Toleranz lediglich mit einer Duldung Andersdenkender oder Andershandelnder zu tun, im stärksten oder besten Falle mit etwas, was man als 'Anerkennung' des Anderen bezeichnen kann.

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Affektschaum

Wenn Menschen etwas "einfach schön" oder "total hässlich" finden, ist das solange ihre für den Rest der Menschheit eine belanglose Privatsache, wie sie auf eine mögliche Nachfrage betreffend die Gründe einer solchen Bemerkung keine weiterführende Antwort geben können. Willkommen im bunten, häufig aufgeregten und manchmal nervigen Zirkus der reinen Geschmacksurteile.

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Moralischer Fortschritt

Es gibt wohl keine wichtigere Frage im weltweiten Nachdenken über die Zukunft menschlicher Gesellschaften als die Frage, ob über den technischen Fortschritt hinaus, der unstrittig ist, auch ein moralischer Fortschritt zu erreichen sei bzw. womöglich sogar notwendig mit dem technischen Fortschritt einhergehe.

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Philosophie?! Wozu das denn?

Jene Tätigkeit, die die Menschen vor allem der abendländischen Kultur als 'philosophieren' bezeichnen, wird seit über 2.000 Jahren mal feierlich, mal eher abfällig betrachtet. Was können wir heute überhaupt noch als Philosophie bezeichnen, und welchen persönlichen oder gesellschaftlichen Nutzen hat das Philosophieren jenseits akademischer Expertenwelten und ihrer Eitelkeiten wirklich?

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