Die Herrschaft der Vernunft

 

Titelbild des deutschen Grundgesetzes

Nicht nur Papier

Der Ausdruck 'Demokratie' wird aus dem Griechischen - nur formal korrekt - häufig als 'Herrschaft des Volkes' übersetzt. Dieses Verständnis traf aber nicht einmal für die antike attische Demokratie zu. Denn die war keine Herrschaft des Volkes, sondern lediglich eine der freien Athener Männer, unter Ausschluss der Frauen und Sklaven und weiterer Bevölkerungsgruppen. Die moderne Auffassung der Demokratie stammt dagegen aus wesentlich jüngerer Zeit, nämlich aus jener der Amerikanischen und der Französischen Revolution im 18. Jahrhundert und der vorangehenden europäischen Aufklärung. Zu jener Zeit gab es zwar in Europa keine Sklaverei mehr, dafür allerdings umso mehr und viel unmenschlicher als in der griechischen und römischen Antike in den nord- und südamerikanischen Plantagen. Auch das hatte zwar nach dem US-amerikanischen Bürgerkrieg ein Ende. Ein gründlicheres Verständnis dessen, was Demokratie tatsächlich ist, wenn sie besser als Diktatur und Tyrannei sein will, hat sich aber noch nicht allgemein durchsetzen können, wie man an den seit Jahren aufstrebenden, politischen hetzenden Rechts-Außen-Parteien überall auf der Welt sieht. Hier scheinen, wenn man es vorsichtig ausdrücken will, zwei Missverständnisse wirksam zu sein, die es aufzuklären gilt.

Das erste und das zweite Missverständnis

Das erste Missverständnis des Begriffs 'Demokratie' betrifft seine doppelte Bedeutung (a) als Gesellschaftsordnung und (b) als politische Herrschaftsform. Beides hängt zwar zusammen, ist aber nicht dasselbe. Eine demokratische Gesellschaftsordnung ist ein Gemeinwesen, das unterschiedliche Weltbilder, religiöse Bekenntnisse und entsprechende öffentliche Engagements nicht nur widerwillig toleriert, sondern als Teil seiner konstitutiven Diversität betrachtet: Ein demokratisches Gemeinwesen setzt keine weltanschauliche oder religiöse Gleichschaltung voraus, sondern ist sogar besonders entwicklungsfähig und kulturell interessant, wenn es Diversität willkommen heißt.

Das zweite Missverständnis betrifft den ebenfalls schweren Irrtum hinsichtlich der Demokratie als politische Herrschaftsform. Es geht irrtümlich davon aus, dass allein die arithmetische Mehrheit der Wählerstimmen in allen zu entscheidenden politischen Fragen die ausschließliche Grundlage des Verhaltens der politischen Repräsentanten - sprich: der Herrschenden - sei. Eine inhaltlich ungebremste Mehrheitsherrschaft ist jedoch von einer tyrannischen Oligarchie nicht mehr zu unterscheiden. Denn einem solchen Verständnis der Demokratie fehlt die Anerkennung der überragenden Notwendigkeit eines Gemeinwohls. Das nämlich sollte in allen politischen Entscheidungen immer auch jenen zugute kommen , die aus einer Abstimmung als die Verlierer hervorgehen. Wird die politische Herrschaft in einer Demokratie nur als die nackte Herrschaft der jeweiligen Mehrheit ohne Rücksicht auf ein umfassendes Gemeinwohl verstanden, läuft dies auf einen permanenten Kampf unterschiedlicher Interessensgruppen hinaus, bis in die gewaltsame Unterdrückung jeweiliger politischer Minderheiten. Das wird über kurz oder lang zum Bürgerkrieg und zum gesellschaftlichen Zerfall führen.

Dieses zweite Missverständnis demokratischer Herrschaft pflegen radikale Machtpolitiker, wenn sie, wie schon Adolf Hitler und offenbar auch der aktuelle türkische Präsident, die Demokratie nur als Vehikel zur Machtergreifung auffassen, um sie dann abzuschaffen. Recep Tayyip Erdoğan, früher einmal Straßenbahnfahrer in Istanbul, sagte : “Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufsteigen, bis wir am Ziel sind. Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten.” Genau genommen handelt es sich bei solchen und ähnlichen Äußerungen nicht nur um ein begriffliches Missverständnis der Demokratie, sondern um ihren vorsätzlichen Missbrauch. Erschreckenderweise scheinen mittlerweile auch die USA auf diesen gefährlichen Kurs einzuschwenken.

Über das Verhältnis von Wählermehrheit und Vernunft

Wenn nur die Mehrheitsentscheidung ohne übergeordnete politische Prinzipien gilt, wird die jeweils unterliegende Minderheit unvermeidlich unterdrückt. Die konstitutionelle Demokratie, für die sich der klassische Liberalismus historisch eingesetzt hat, beruht deshalb auf der fundamentalen Idee, dass die politische Legitimität vom Volkswillen zu unterscheiden ist. Ihr Gegenteil ist die populistische Demokratie, in der das Volk über jede Frage durch seine Stimme entscheiden kann. Auch wenn man dies immer noch 'Demokratie' nennen mag, ist es doch am Ende eine Form von Tyrannei.

Nun ist es in der Politik allerdings so gut wie unmöglich, jemals eindeutig sagen zu können, welches Verhalten jetzt am vernünftigsten und damit am besten sei. In er Demokratie vertraut man deshalb auf das statistische Urteil der Gesamtbevölkerung (sofern sie wahlberechtigt ist), was man auch als eine Form des Vertrauen in die so genannte Schwamintelligenz auffassen kann. Während allerdings ein Vogel- oder Fischschwarm weitgehend durch die Gesetze der Physik daran gehindert wird, kollektive katastrophale Verhaltensentscheidungen zu treffen, nehmen menschliche Wählerschwärme auf solche Grenzen ihrer Wahlfreiheit in Krisenzeiten oft keine Rücksicht, was zu irrsinniger Gewalt führen kann. Um dieses Risiko zu minimieren, wurde in der europäischen Neuzeit die Verfassung als ein Instrument erfunden, das ursprünglich königliche Willkür, heute dagegen eher populistisches Berkertum einheben soll. Die grundsätzliche Bedeutung dieser Idee wird häufig unterschätzt: Die Erfindung der Verfassung als ein Mittel zur Eingrenzung des politischen Möglichkeitsraums gehört zu den bahnbrechendsten Entwicklungen der politischen Kultur seit der jungsteinzeitlichen Etablierung der Sesshaftigkeit großer Teile der (früher noch sehr kleinen) Menschheit.

Eine Verfassung zieht aber nicht nur den politischen Entwicklungsmöglichkeiten einer Gesellschaft eine Grenze. Sie erhöht auch innerhalb dieser Grenzen die Wahrscheinlichkeit vernünftigen politischen Handelns. Denn Verfassungen enthalten nicht nur Kataloge oberster gesellschaftlicher Werte - im deutschen Grundgesetz die Artikel 1-19 GG -, sondern auch bindende Regeln sehr vieler konkreter Einzelheiten der Staatsorganisation, von der Gewaltenteilung bis zur Möglichkeit der Amtsenthebung hoher, insbesondere tyrannisch auftretender Amtsträger. Eine Verfassung gibt damit indirekt bereits vor, was überhaupt als politisch vernünftig gelten kann., allein durch die grundlegende Staatsorganisation und die Verfahrensregeln staatlichen Handelns.

Völker dieser Welt, schaut auf eure Verfassungen

In Anbetracht des weltweiten, populistischen Aufruhrs in der demokratischen Welt, der sich auf unangenehme Weise den autoritären Staaten anbiedert, die von Demokratie ohnehin nichts halten, dürfte es deshalb angebracht sein, die Bürger:innen der demokratischen Welt zu etwas mehr Bescheidenheit aufzufordern. Narzisstisch auftrumpfende Egozentriker feiern inzwischen sogar in den USA fröhliche Urständ'. Ihre Wahl bestätigt die zunehmend entgrenzte Selbstgerechtigkeit von Wähler:innen, die sich keinem Willen außer dem eigenen mehr beugen wollen. Widersprüchlicherweise haben sie jedoch kein Problem damit, ihrem jeweiligen politischen Guru umfassende Vollmachten zu erteilen, die weit über das hinausgehen, was weniger aufgeregte Personen normalerweise tun würden.

Den Menschen, die in solchen schwankenden Demokratien leben, ist deshalb zu empfehlen, sich bitte zu besinnen und zu einer Form von Bescheidenheit zurückzufinden. Das bedeutet nicht etwa eine freiwillige Unterwerfung unter ihre Fremdbestimmung, sondern im Gegenteil die Rückkehr zu einer kollektiven Vernunft, die die Grundlage jeder Friedensordnung ist. Zweitens sollten diese Personen sich einmal bei der Lektüre ihrer jeweiligen Verfassung klarmachen, wozu sie überhaupt geschrieben wurde: Sie wurden nämlich nicht entworfen, um privater Willkür Tür und Tor zu öffnen, sondern um das Zusammenleben in großen Gesellschaften so zu organisieren, dass wahrscheinlich alle Beteiligten den größten Vorteil von der resultierenden Ordnung haben. Der Name dieser Idee ist: Vernunft. (ws)

Frühere Leitartikel

Subjektive und objektive Wirklichkeit

Vor unseren Augen entfaltet sich eine Spaltung der Welt in vielen Dimensionen: politisch, sozial, weltanschaulich und sogar technisch. Das ist für viele Menschen sehr beunruhigend. Im Folgenden soll es um eine besonders intensive Form dieser Spaltungen gehen, nämlich um jene einer subjektiven und objektiven Sicht auf die Wirklichkeit. Manche(r) wird sich beim Lesen dieses Satzes vielleicht fragen: Gibt es einen solchen fundamentalen Unterschied überhaupt? Die sardonische Antwort auf diese Frage kann nur lauten: Versuche es doch einmal ohne diese Unterscheidung; dann wirst du entweder bald in einer geschlossenen psychiatrischen Abteilung landen. Das nennt man dann nämlich 'Psychose'. Oder du bekennst dich zur Tyrannei absoluter Objektivität von allem, was dir so im Kopf herum geht und verdammst jeden, der dein Weltbild nicht teilt, als Lügner. Beides sind sehr abschreckende Szenarien. Das sollte besser gehen.

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Visionen ./. Illusionen

Von dem früheren deutschen Bundeskanzler Helmut Schmidt ist der Spruch überliefert: "Wer Visionen hat, sollte zum Augenarzt gehen". Er meinte dies zwar nur im Hinblick auf die politische Sphäre, aber selbst dort ist der Spruch inhaltlich schlicht falsch. Viel treffender wäre es gewesen, wenn Schmidt von Illusionen geredet hätte, die sich Politiker:innen aus dem Kopf schlagen sollten. Dann aber wäre der sarkastische Verweis auf die Augenärzt:innen nicht mehr passend gewesen, sondern eher auf Psycholog:innen. Doch wie sieht es eigentlich mit dem gesellschaftlichen Wert von Illusionen aus? Sind sie womöglich wirklich wertlos oder sogar gefährlich?

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Über den Unterschied von Leid und Empörung

Leid und die Empörung sind vielfach miteinander verbunden. Im Grunde sollte es niemandem schwerfallen, zwischen beidem zu unterscheiden. Ein Problem entsteht allerdings dann, wenn Personen das Leiden anderer benutzen, um damit ihre eigenen Ziele zu verfolgen. Das kann einfach eine seltsame Lust an der Empörung sein; es kann aber auch andere Zwecke hinter der Empörung geben, vor denen man sich in Acht nehmen sollte.

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Ihr da oben, wir da unten? - War einmal...

Seit dem Aufblühen der Industrialisierung in Europa, also ungefähr seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, wurde die wichtigste politische Frontlinie zunächst in Europa, später in der ganzen Welt, definiert als die Gegnerschaft zwischen Kapitalisten und Arbeitern. Der Vorwurf Letzerer lautete, von Marx ausführlich kommentiert: Ihr Kapitalisten nehmt uns den Wert unserer Arbeit weg und haltet uns in Armut, um unsere Abhängigkeit von euch nicht zu schmälern. Dieser Gegensatz wurde seitdem keineswegs aufgehoben, auch wenn er sich in größeren Teilen der Welt erheblich gemildert hat. Er wurde allerdings überholt, und zwar weder von 'links', noch von 'rechts', sondern von einer neuen Frontlinie, die in zwei Dimensionen definiert ist: (a) dem Gegensatz zwischen Nationalisten und Universalisten und (b) dem Gegensatz zwischen demokratisch-rechtsstaatlichen und autoritären Regimes.

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Künstliche Ethik / Artificial Ethics

Die wirtschaftlichen Eliten aller großen Länder der Welt wenden zur Zeit ungeheure Mittel und Mühen auf, um logische Automaten zu konstruieren, die nicht nur künstlich intelligent sind, sondern auf frappierende Weise auch die menschliche Intelligenz nicht nur zu simulieren, sondern zu überholen. Hier tut sich die Frage nach den Motiven einer solchen Ekstase auf. Einerseits geht es hierbei sicherlich um wirtschaftliche und politische Konkurrenzen, denn die ganze Unternehmung verspricht enorme Gewinne an Kapital und sogar internationaler politischer Macht. Dies ist aber, wenn man die Geschichte der westlichen Bemühungen um den für ihn so wichtigen Fortschritt anschaut, nicht der einzige Grund für den nun schon seit Jahrzehnten immer noch zunehmenden KI-Taumel. In welchem Umfange nützen solche Anstrengungen überhaupt den heutigen menschlichen Lebensverhältnissen?

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The economic elites of all the world's major countries are currently expending tremendous resources and effort to construct logical automata that are not only artificially intelligent but also strikingly capable of not only simulating but surpassing human intelligence. This raises the question of the motives for such an ecstasy. On the one hand, this is undoubtedly about economic and political competition, since the whole enterprise promises enormous gains in capital and even international political power. However, looking at the history of Western efforts to achieve the progress that is so important to it, this is not the only reason for the AI frenzy, which has been growing for decades now. To what extent do such efforts benefit today's human living conditions?

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Was bedeutet es, ein Mensch zu sein?

In der Frage, die der Titel dieses kleinen Essays ist, steckt bereits in Teil der Antwort, wenn auch vielleicht nur ein kleiner Teil. Auf jeden Fall ist uns, den Menschen, bisher kein Tier bekannt, das imstande ist, eine solche Frage zu stellen. Und damit sind wir bereits mitten im Problem.

Schon seit knapp einhundert Jahren bemüht sich die seinerzeit noch junge Verhaltenspsychologie, mit naturwissenschaftlicher Methodik beispielsweise herauszufinden, ob man bestimmten, kognitiv sehr entwickelten Tieren das Sprechen beibringen kann. 'Sprechen' muss hier nicht unbedingt bedeuten, akustische Sprachlaute produzieren zu können. Der Ausdruck meint eher, sich in sprachartiger Form verständigen zu können, z.B. durch Tippen auf Geräten, die sprachartige Konstrukte erzeugen. Sprechen hat offenbar viel mit Denken zu tun. Folglich verschob sich die Frage, was Menschen von Tieren unterscheidet, recht schnell auf die Frage, ob Tiere denken können. Diese Frage stellte sich jedoch als zu unpräzise heraus, weil viele Tiere offensichtlich zu komplexen Denkoperationen einschließlich Werkzeugproduktion und Lösungen von Problemen mittels Versuch und Irrtum imstande sind, und dennoch unendlich weit vom menschlichen Umgang mit der Welt entfernt zu sein scheinen.

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Wenn die Zeit stehenbleibt

Normalerweise gehen wir davon aus, dass die Zeit gerade das ist, was NICHT stillstehen kann. Ob das stimmt, hängt aber gerade davon ab, ob man sie nicht auch anders verstehen kann.

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Die Sehnsucht der Blume nach der Blüte

Aristoteles war die erste Person der westlichen Hemisphäre, der den vermutlich schon viel älteren Gedanken ausarbeitete, dass alles, was es gibt, vom Streben auf ein inneres Bestimmungsziel hin angetrieben sei. Dieser mächtige Gedanke konnte selbst aus der heutigen Evolutionstheorie nicht ganz ausgetrieben werden, obwohl zumindest die physische und biologische Evolution theoretisch als reines Zufallsereignis beschrieben werden. Doch was ist Zufall? Und wer soll all die Ziele erfunden haben, auf die angeblich jeder Gegenstand der Welt und die Welt als Ganzes hinstreben?

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Was heißt 'Frieden'?

Der gemeinsame, soziale Frieden ist ein hohes Gut. Es wäre allerdings ein Fehler, ihn lediglich mit eiem Zustand der Gewaltlosigkeit zu verwechseln. Zwar ist das Verstummen der Waffen das äußerlich wichtigste Zeichen eines Friedens, insbesondere nach einem Krieg. Der einfache Verzicht auf Gewalt kann aber keinen Frieden begründen, wenn zuvor Unfrieden herrschte, z.B. als Krieg oder permanent hin und her wogende Blutrache. Was aber begründet dann einen Frieden?

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Weibliche Schönheit

Der folgende Text versucht zu erklären, warum das Ideal weiblicher Schönheit ein uraltes, biologisch begründetes Zeichen für die soziale Unterwerfung der Frau unter die Herrschaft zunächst biologischer Männer, heute indessen unter die Herrschaft gesellschaftlich-struktureller Männlichkeit ist.

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