Zwei Kriege
Der Kampf um die globale Hegemonie und der Kampf um ein politisches Ideal
Bitte nicht verwechseln: Ein schrecklicher Iwan kämpft nicht nur gegen einen hegemoniegeilen Westen, sondern vor allem gegen die Idee der Freiheit
In der Ukraine geht es um sehr viel. Es scheint sogar nicht übertrieben zu sagen, dass es um alles geht. Was aber heißt 'alles'? Nun, die Welt des Sozialen war schon immer und ist auch heute noch eine Welt, die sich aus zwei einander durchdringenden Teilsphären zusammensetzt. Die eine Sphäre ist jene der rohen Macht, d.h. der praktischen politischen Herrschaft. Die andere ist diejenige der Ideen, wie eine bessere Welt aussehen könnte, d.h. die Sphäre des Ethos, der Scheidung von Gut und Böse und der mächtigen Urgründe kollektiver Motivation. Wenn es in einem Konflikt um beide Sphären geht, dann geht es um alles. Dies scheint in dem gegenwärtigen Krieg, den Russland nicht nur gegen die Ukraine, sondern gegen den globalen Westen sowohl hinsichtlich seiner politischen als auch im Hinblick auf seine ideellen Hegemonialansprüche führt, der Fall zu sein. Es geht also nicht nur um das faktische Sein politischer Herrschaft, sondern auch um die Vorstellung einer besseren Ordnung unter den Menschen.
Politische Ordnung lebt nicht von der realen Herrschaftsgewalt allein
Es gibt nicht wenige Zyniker auf der Welt, die meinen, dass es in Wirklichkeit keinen Unterschied zwischen dem Kampf um die politische Herrschaft und dem Kampf um die gute Gesellschaft gebe: Jede Person und alle Eliten, die die politische Herrschaft anstreben, würden sich immer auch die passende Ideologie zurechtschneidern, aus der sich die jeweilige ideelle Legitimität ihres Herrschaftsanspruchs ergebe. Ein sehr einflussreicher Vertreter dieser Auffassung war Karl Marx. Seine These, dass die ökonomischen Verhältnisse ihren jeweils 'passenden' ideellen Überbau hervorbringen, er mithin ein unselbständiges Epiphänomen des materiellen Unterbaus sei, gehört zu den Fundamenten seiner gesamten politischen Theorie.
Wenn man sich Marx in dieser Verplattung der Welt nicht anschließt, werden die Dinge leider etwas komplizierter, als die Materialisten dies gerne hätten. Denn beide Sphären hängen natürlich zusammen, und zwar nicht nur unidirektional (politische Herrschaftsverhältnisse bestimmen die politischen Ideale), sondern auch umgekehrt (politische Ideale bestimmen die politischen Herrschaftsverhältnisse). Die USA haben nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland den Beweis für beide Wirkungsrichtungen geliefert. Einerseits halfen sie bei der Niederwerfung des Nazi-Regimes und sorgten im Westteil des besiegten Deutschland für die Einführung neuer, demokratischer Institutionen nach US-amerikanischem Vorbild. Andererseits war es die ideell weit überlegene Attraktion des US-amerikanischen Gesellschaftsideals, das die Deutschen - und zwar nicht nur im Westteil des Landes, wenn auch im Osten nur heimlich - sofort überzeugte, dass dieses Ideal nicht nur dem zugrunde gegangenen Nazi-Alptraum haushoch vorzuziehen sei, sondern auch dem stalinistischen Terror des zweiten Siegers in diesem Krieg, der Sowjetunion. Diese Überzeugung ließ des Eisernen Vorhang schließlich fallen, nicht die militärische Überlegenheit der USA.
Russland als das ewig Böse, die USA als der gefallene Engel
Doch die Zeiten ändern sich, manchmal sogar sehr schnell und obendrein sehr gründlich. Mittlerweile ist die Sowjetunion selbst untergegangen, und die USA haben spätestens seit dem Vietnamkrieg über ihre völkerrechtswidrigen Einflussnahmen auf viele Regierungen in Lateinamerika bis hin zu den katastrophalen Kriegen im Irak und in Afghanistan und der Präsidentschaft eines grenzenlos machtbesessenen Donald Trump, um nur einige von viel mehr Fällen zu nennen, ihren moralischen Vorsprung fast vollständig verspielt. Fast vollständig. Denn selbst wenn die heutigen USA dem Rest der Welt in vieler Hinsicht nur einen verächtlichen Zorn über ihr moralisches Versagen abringen können, bleibt doch die Idee einer Form des guten Zusammenlebens und der daraus sich ergebenen politischen Organisation, die zumindest zu ihren Gründungsidealen gehört. Dieses Ideal wird auch nicht dadurch entwertet, dass einer der Autoren der Bill of Rights (Erster Satz: "All men are created equal"), nämlich Thomas Jefferson, selber ein übler Sklavenhalter war. Diese Idee würde nicht einmal untergehen, wenn die USA, z.B. infolge einer nochmaligen Präsidentschaft vom Typus der Trump'schen, insgesamt zu einem evil state abrutschen würde.
Wenn die westliche Welt jetzt also gemeinsam mit den USA gegen einen neuen Iwan den Schrecklichen aus Russland kämpft, dann sollte man dies nicht mit falscher Parteinahme für das politisch-globale Herrschaftsinteresse der USA verwechseln. Zwar sehen wir, die westlich geprägte Welt, uns leider gezwungen, unsere politischen Ideale nunmehr mit militärischer Gewalt zu verteidigen, wenn auch bisher nur durch indirekte Unterstützung der Ukraine. Das heißt aber keineswegs, dass wir den pathetisch-irrationalen, globalen Hegemonialanspruch führender US-amerikanischer Politiker gutheißen. Bei allem Zusammenhalt in der Bekämpfung der ideologisch aufgehübschten Despoten-Ideologie, für die Russland und China stehen, dürfen wir nicht aufhören daran zu arbeiten, was die Idee der 'guten Gesellschaft' für uns tatsächlich bedeutet. Das bedeutet, dass die europäische Kritik an ihren eigenen inneren Widersprüchen und Unmenschlichkeiten, z.B. im Umgang mit Flüchtlingen aus dem Nahen und Mittlere Osten und aus Afrika, dadurch nicht zum Schweigen gebracht werden darf. Und auch die USA müssen wissen, dass sie sich, selbst wenn sie sich in diesem doppelten Krieg am Ende zumindest ideologisch durchsetzen sollten, damit noch keinen Iota all der Probleme gelöst haben, die ihr moralisches Versagen der letzten Jahrzehnte produziert haben.
Worum es langfristig geht
Aus diesem Grund ist die Zusammenarbeit der westlichen Staatengruppe gegen den Ansturm russischer (und im Hintergrund immer auch: chinesischer) Aggression auch keine reine Notgemeinschaft. Im Gegenteil, was uns wirklich verbindet, ist nicht nur die gemeinsame Idee einer politischen Freiheit und Selbstbestimmung, die selbst in den wüstesten Zeiten des Kalten Krieges auch das heimliche Ideal der Bürger der damaligen Sowjetunion war. Die Stärke dieser Idee beweist sich gerade darin, dass Gesellschaften, die sich diesem Ideal verschrieben haben, auch viele eher imstande sind, sich ihren eigenen gesellschaftlichen Mängeln zu stellen. Diese zweite Anstrengung, d.h. das Streben nach Verwirklichung dieser politischen Ideale, wird in Ansehung der gegenwärtigen militärischen Auseinandersetzung nur suspendiert, aber nicht auf Dauer obsolet. Denn eines dürfte klar sein: Wie auch immer der militärische Konflikt in der Ukraine ausgeht, der Kampf der politischen Ideale dahinter wird damit ganz sicher nicht beendet sein. Der globale Westen kann allerdings schon froh sein, wenn er der übrigen, unentschiedenen Welt, z.B. Indien, weitere Staaten Mitteasiens und Afrikas, am Ende überhaupt noch glaubwürdig als Vertreter eines Ideals der Freiheit in die Augen schauen kann. Darum, d.h. um dieses langfristige Ziel, wird es noch lange nach dem Ende des Feuerregens aus Raketen und Bomben gehen, unter dem die ukrainische Bevölkerung derzeit so schwer zu leiden habt. Lasst und das nicht vergessen. Denn von der Überzeugung, dass wir tatsächlich die besseren politischen Ideale vertreten, bei allen Mängeln unserer eigenen politischen Wirklichkeit, hängt vermutlich auch der Ausgang des gegenwärtigen militärischen Konflikts ab. (ws)