Der überforderte Mensch

Die Menschen sind unter Druck

Manchmals lassen sich Vorstellung und Wirklichkeit kaum noch unterscheiden

Ach, wie schön ist doch die Welt

Man könnte meinen, dass die heute lebenden Menschen auf dem Planeten Erde die glücklichsten sind oder zumindest sein sollten, seitdem Menschen über ihr Leben nachdenken. Es gibt nicht wenige Daueroptimisten, insbesondere sehr erfolgreiche wissenschaftliche Buchautoren in den USA, die genau dies behaupten. Sie wollen uns beweisen, dass noch nie so wenig Gewalt unter den Menschen herrschte wie heute, dass die Menschen noch nie so gesund waren und so lange lebten wie heute, dass die Armut auf der Welt ständig abnehme und noch weiter abnehmen werde, dass die Möglichkeiten der Selbstentfaltung ein Allzeithoch erreicht hätten und dass die demokratische Partizipation in vielen Staaten der Welt und der Abbau von Diskriminierung unaufhaltsam fortschreite. Pech nur, dass sich da noch ein anderes Gefühl weltweit in die Köpfe einschleicht, das uns etwas ganz anderes sagt.

Die Wahrheit des Zustandes der Menschen auf diesem Planeten ist umwittert von Propaganda. Sie ist spätestens seit dem Amtsantritt von Donald Trump in den USA der Spielball beliebiger Behauptungen. Die Führer der übrigen großen und kleinen Mächte griffen sein Beispiel mit Begeisterung auf und lügen seitdem sozusagen um die Wette. Ihr Verhältnis zur meist simplen Wahrheit realer Lebensverhältnisse ist oft nur von dem rücksichtslosen Interessen getrieben, sich persönliche Vorteile zu verschaffen. Das mag man beklagen oder nicht; es ist jedoch auch nur eine Facette des gesamten Zustandes, in dem wir uns weltweit befinden.

Da ist noch etwas anderes

Schauen wir uns die folgenden Entwicklungen an:

  • Seit Beginn dieses Jahrtausends, beginnend mit dem Platzen der so genannten Dot-Com-Blase im Jahre 2000 und der terroristischen Zerstörung des World Trade Centers in New York im Jahre 2001, ist die globale Menschheit in eine ständige Folge schwerer Krisen geraten, von denen die meisten zwar irgendwann begonnen haben, aber nicht wieder aufhören.
  • Gleichzeitig hat sich die Menschheit immer noch weiter vermehrt, sogar leicht exponentiell. Gerade überschreitet die Anzahl der auf der Erde lebenden Personen die Marke von 8 Milliarden. Die UNO erwartet eine Trendwende bestenfalls bei Erreichen von 10 Milliarden Menschen.
  • Der technologische Fortschritt hat vor allem die Informationsdichte und -reichweite fast aller Menschen drastisch erhöht. Durch das Internet und die sozialen Medien erfahren wir - nur wenig übertrieben gesprochen - allesamt sofort alles, was auf der Welt passiert. Gleichzeitig kann die einzelne Person auf die meisten dieser Nachrichten, sofern sie nicht gerade von persönlichen Bekannten kommen, nur passiv reagieren, d.h. sie nur zur Kenntnis nehmen, selbst aber nichts zur Verhinderung von Krieg, Leid und Elend tun.
  • Die zunehmende Informationsdichte und ihre Vermittlungsgeschwindigkeit erhöhen den Wettbewerbsdruck jeder einzelnen Person, schon von Jugendlichen, deutlich, und zwar keineswegs nur auf dem wirtschaftlichen Sektor. Die notwendigen Reaktionszeiten, um auf potenziell nachteilige Informationen reagieren zu können, haben sich in vielen Bereichen auf Stunden, Minuten und manchmal sogar Millisekunden verkürzt, wo früher Tage und Wochen kein Problem waren. Das betrifft sich verändernde Aktienkurse genauso wie die auf einem Instagram-Foto sichtbaren Pickel eines Teenagers.
  • Die Flut widersprüchlicher Informationen im informellen Spektrum der politischen und moralischen Meinungen erschwert es der einzelnen Person zunehmend, eine stabile Einstellung zu finden, die ihr das Gefühl psychischer Integrität ("ich bin ein guter Mensch") und sozialer Zugehörigkeit ("ich gehöre zu euch") zu gewinnen. Die Folge ist eine zunehmend erhitzte Bildung von Meinungsfronten bis hin zu kollektiven Verschwörungsängsten und einer Sucht nach Feindschaften und Konflikten.

Die durchschnittliche menschliche Psyche und unser Wahrnehmungsapparat haben sich in einem Jahrmillionen währenden Evolutionsprozess unter ganz anderen Umweltbedingungen entwickelt als wir sie heute vorfinden. Alle Menschen verfügen über einen gemeinsamen Kern an kognitiven und emotionalen Funktionen, die dafür ausgelegt sind, sich in einer zwar komplexen, aber überschaubaren Umwelt mit einer relativ kleinen Anzahl anderer Akteure, hauptsächlich im persönlich zugänglichen Umfeld, zu orientieren. Wir sind geneigt, die Umwelt, in der wir tatsächlich leben, zu verallgemeinern und anzunehmen, dass die ganze Welt so aussieht wie die, in der wir gerade leben. Wir tun uns schwer mit der Vorstellung, dass andere Menschen unter sehr anderen Lebensbedingungen wie die unsrigen leben, beispielsweise im Vergleich eines mittelständischen, gut verdienenden Arbeitnehmers im Land A mit einer unter schwierigsten materiellen und politischen Verhältnissen stöhnenden Person im Tausende Kilometer entfernten Land B - oder gleich nebenan. Wohin wir schauen, sehen wir unendliche Not. Was nützt es uns dann, wenn uns besagte Daueroptimisten beweisen, dass es uns allen doch viel besser geht als allen Menschen, die je zuvor gelebt haben?

Von positiver und negativer Rückkoppelung

Der Druck hat zugenommen, überall. Die Weltgesundheitsorganisation prognostizierte schon vor Jahren, dass die enorm steigende Anzahl depressiver Störungen bald zum gesundheitlichen Hauptproblem der gesamten Menschheit werden könnte. Auch die Komplexität der wirtschaftlichen Verflechtungen hat die Anfälligkeit der Weltwirtschaft für gravierende systemische Störungen empfindlich erhöht: Die Corona-Pandemie brachte nicht nur ganze Volkswirtschaften ins Schwanken, sondern trieb auch Hunderte Millionen Menschen in eine psychische Isolation, die ihnen schwer zu schaffen machte. Der im historischen Vergleich regional kleine Konflikt im Südosten der Ukraine löst derzeit eine weltweite Hungerkrise aus. Über all dem schwebt eine Klimakrise, die viel mehr ist als das nackte Wort besagt. Psychologisch leben heute sehr viele Menschen in einer Art prä-apokalytischen Epoche, in der sicher ist, dass die Katastrophe kommen wird. Man weiß nur nicht wann: morgen? Übermorgen? In unserer Vorstellung ist sie bereits eingetreten.

Hier braut sich etwas zusammen, was man in der Systemtheorie 'positive Rückkoppelung' nennt. Eine Rückkoppelung ist ein Prozesstyp, wo das Ergebnis eines jeden Prozesszyklus' als Anfangsbedingung des nächsten Zyklus eingeht. Rückkoppelungen können, grob gesagt, drei Formen annehmen: (1) positiv, (2) negativ und (3) dynamisch stabil. 'Positiv' und 'negativ' haben hier nichts mit 'gut' oder 'schlecht' zu tun. Eine positive Rückkoppelung liegt vor, wenn eine Kette von Prozesszyklen zu ständig steigenden Ergebniswerten führt, eine negativ Rückkoppelung umgekehrt, wenn eine solche Folge immer weiter fallende Ergebniswerte produziert. Beide Rückkoppelungstypen führen unweigerlich zum Zusammenbruch des Systems. Ein drastisches Beispiel positiver Rückkoppelung ist die unkontrollierte atomare Kernspaltung, wie sie in Atombomben absichtlich angestoßen wird. Einige wenige initiale Spaltungsvorgänge bei Zündung der Bombe breiten sich im gesamten spaltbaren Material mit einer extremen Geschwindkeit bis zur Erschöpfung des Materials aus und erzeugen eine gigantische Explosion. Ein weniger drastisches Beispiel für eine negative Rückkoppelung ist eine schlechte Lebenspartnerschaft: Während anfangs sich positive und negative Beziehungsereignisse noch die Waage halten, kühlt sich die Beziehung aus irgendwelchen Gründen immer weiter ab, wobei jede Interaktion der einen Seite eine weitere Abkühlung auf der anderen Seite bewirkt. Am Ende dieser negativen Rückkoppelung ist die Beziehung auf einem Nullpunkt angekommen: Kältetod. Sie haben sich nichts mehr zu sagen.

Positive und negative Rückkoppelung sind also gleichermaßen ungünstig für den Fortbestand eines Systems. Die positive sprengt das System in kürzester Zeit in die Luft, die negative lässt es den Kältetod vollkommener Erstarrung sterben. Komplexe Systeme bedürfen deshalb unbedingt korrigierender Funktionen, die zwar Schwankungen des Systemzustands zulassen, dies aber nur innerhalb einer kleinen Bandbreite, so dass nie ein Umschlag in die irreversibel positive oder negative Rückkoppelung eintritt. Das simpelste Beispiel einer solchen dynamisch-stabilen Rückkoppelung ist der Thermostat in unseren Heizungsanlagen. Wenn es zu warm wird, schaltet er die Heizung ab, wenn es zu kalt wird, schaltet er sie wieder an.

Es scheint nun, dass die Menschheit und, wenn wir nicht aufpassen, die gesamte Oberfläche unseres Planeten in eine irreversibel positive Rückkoppelung abzugleiten droht. Damit ist nicht zu spaßen, und genau das spüren wir. Die Wirkungen einer solchen global-positiven Rückkoppelung können so enorm ausfallen, dass selbst eine einzelne Atombombenexplosion sich dagegen noch überschaubar ausnimmt. Das extremste Szenario ist die totale Verwüstung der gesamten Erdoberfläche einschließlich der Meere und der Atmosphäre, deren Erholung mehrere Zehn- oder Hunderttausende Jahre dauern würde. Dagegen nimmt sich die biblische Apokalypse des Johannes wie ein Kindermärchen aus. Weniger katastrophale Szenarien könnn aber immer noch bedeuten, dass Hunderte Millionen Menschen durch Hunger- und andere Umweltdesaster sterben und die Überlebenden über viele weitere Generationen so traumatisiert sind, dass sie nicht mehr wissen, wie und warum sie überhaupt leben.

Give me the non-earth, give me the universe

Der Autor dieser Zeilen ist sich sicher nicht die Person, die weiß, wie man dies vermeiden kann. Ich sehe lediglich, dass die Hitze steigt - in der Atmosphäre, auf der Erde und in den Meeren genauso wie in unseren Köpfen. Aus der Systemtheorie weiß ich allerdings, dass es bei drohender positiver oder negativer Rückkoppelung nur eine Lösung gibt: Entkoppelung. Was das in der Praxis der hyperkomplexen und superintensiven Welt von heute bedeutet, kann ich allerdings nicht sagen. Eine einfache "Stecker-'raus"-Empfehlung kann genau das Gegenteil dessen bewirken, was beabsichtigt war. Das trat beispielsweise ein, als China unter Mao in den 1960er Jahren die Losung ausgab, alle Spatzen des riesigen Landes zu töten, weil diese Vögel so viele Samen auf den Feldern fressen würden, dass die Ernten permanent stark gemindert würden. Mehr als zwei Milliarden Spatzen fielen diesem Wahnsinn zum Opfer mit dem Ergebnis, dass sich Insekten und andere Schädlinge ungebremst vermehren konnten und die Ernteeträge noch viel stärker und so massiv fielen, dass mehr als zehn Millionen Menschen verhungerten. Mao musste schließlich klein beigeben. China importierte aus der damaligen Sowjetunion neuerlich ca. 60 Millionen Spatzen, wodurch die Situation langsam wieder ins Gleichgewicht kam.

Das aktuelle, ebenfalls geradezu frenetische Nachdenken darüber, wie man den positiv oder negativ rückgekoppelten Absturz vermeiden kann, ist ohnehin schon allerorten zugange. Leider haben die meisten von uns hier wieder nur einen vollkommen passiven Platz auf den Rücksitzen des Zuges der Weltgeschichte. Auch das ist weder objektiv richtig noch objektiv falsch. Es ist aber auf absehbare Zeit schlichter Fakt. Lasst uns dafür zumindest nicht die persönliche Seite der Sache vergessen, d.h. die Dinge um uns herum, auf die wir überhaupt noch eigenen Einfluss haben. Hier kann eine Entkoppelung von jedem Einzelnen von uns noch ungefähr gesteuert werden. Weniger Social Media, weniger Aktivismus, wohl auch weniger Konsum, in jedem Falle: mehr Besinnung. Der Erfolg davon könnte bei nicht wenigen von uns mehr innere Ruhe und damit tatsächlich mehr Zufriedenheit sein - auch wenn wir der Lösung der großen Probleme damit noch um keinen Millimeter nähergekommen sind. (ws)

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