Ausnahmezustand
Es gibt wohl wenige Sätze in der politischen Philosophie des 20. Jahrhunderts, die so wirkungsmächtig waren wie der erste Satz der Politischen Theologie von Carl Schmitt. Er lautet: "Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet." (Duncker & Humblot, München und Leipzig, 2. Aufl. 1934, S. 11). Dieser Satz klingt zunächst einmal rätselhaft: Ausnahmezustand? Das war doch 1933. Aber heute?
Falsch gedacht, antworten darauf einige heute sehr einflussreiche politische Philosophen, z.B. Chantal Mouffe, Slavoj Žižek oder Giorgio Agamben. Letzterer widmete als zweiten Teil seiner Triologie unter dem Gesamttitel Homo Sacer sogar ein ganzes Buch ausschließlich diesem Topos (edition Suhrkamp Bd. 2366, 2004). Auf die älteste Frage der politischen Philosophie überhaupt gab Carl Schmitt eine neue und, wie sich herausstellte, recht provokante Antwort. Diese Frage lautet: Wer oder was legitimiert die staatliche Macht gegenüber 'ihren' Bürgern?
Thomas Hobbes und einige ihm nachfolgende politische Theoretiker wie z.B. John Locke, Jean-Jacques Rousseau oder neuerdings John Rawls gaben darauf die inzwischen recht unplausible Antwort, die Rechtfertigung der Macht des Souveräns beruhe auf einem Vertrag, wenn auch nicht auf einem realen, so doch zumindest auf einer fiktiven Zustimmung aller Beteiligten: Bei nachträglicher Überlegung müssten wir wohl zugeben, dass es allgemeiner Disziplin für das Zusammenleben bedarf, die nun einmal in Gestalt des staatlichen Gewaltmonopols durchgesetzt werden müsse, um ein halbwegs gedeihliches Miteinander zu garantieren.
Die neue Linke und Carl Schmitt - eine amour fou
Genau diese Einsicht verweigern die revolutionär gesonnenen politischen Philosophen unserer Zeit. Sie schließen damit im Wesentlichen an Karl Marx an, der im Kommunistischen Manifest zusammen mit Friedrich Engels und mit großer rhetorischer Kraft ihren Lesern klar zu machen versuchten, dass früher die Industriearbeiter (Proletarier) und heute wir, die Verbraucher und Normalbürger, einer fulminanten Täuschung erlegen seien: Die bürgerlichen Besitzer der industriellen Produktionsmittel würden allen übrigen Mitgliedern der Gesellschaft sämtliche Vorteile des Staates, allen voran die Sicherung des sozialen Friedens und der Wohlfahrt, nur einreden, um sie besser ausbeuten zu können. Die Autoren des Kommunistischen Manifests hatten trotz seines sperrigen Inhalts eine ungewöhnlich große Leserschaft. Und die war von dem Werk tief beeindruckt. Karl Marx dürfte zu den einflussreichsten politischen Philosophen aller Zeiten gehören. Er inspirierte die russische und die chinesische Revolution, und seine Lehre hallt noch heute wie ein mächtiger, nicht nachlassender Donnerschlag um die ganze Menschenwelt. Einer seiner zeitgenössischen Epigonen, Thomas Piketty, veröffentlichte kürzlich bereits ein weiteres, über tausend Seiten starkes Buch zum selben Thema, wobei der Paukenschlag seines ersten Buches - nicht gerade bescheiden - genauso hieß wie das Marx'sche Original, nämlich schlicht: Das Kapital. Es war, wie sein Vorbild, ein Riesenerfolg.
Doch zurück zu Carl Schmitt. Der ist gewiss unverdächtig, ein Marxist zu sein, verdankte er doch einen gehörigen Teil seiner Popularität der wortgewaltigen Verherrlichung der entgegengesetzten Ideologie, nämlich des Nationalsozialismus, und darin speziell des Führerprinzips. Zu einem 'ordentlichen' Führer (der in Gestalt von Adolf Hitler 1934 ja bereits zuhanden war) gehört nun mal auch eine richtige Machtbefugnis, damit 'das Volk' überhaupt begreift, wo es lang geht. Vor dem Hintergrund dieser kruden Prämisse entfaltet sich der Schmitt'sche Trick, auf den vor ihm noch niemand gekommen war. Während alle seine Vorgänger der politischen Philosophie nämlich nach einer positiven Legitimation von Macht suchten, z.B. durch freiwilligen, quasi-vertraglichen Verzicht auf ihre individuelle Souveränität, dreht Carl Schmitt den intellektuellen Spieß einfach um und definiert die Souveränität negativ, d.h. dergestalt, dass ein Souverän nunmehr nicht mehr die Person ist, die soziale Ordnung schafft, sondern diejenige, die sie abschafft! Oder jedenfalls die Macht hierzu hat, auch wenn sie's nicht tut.
Der Demagoge und das ewige Rätsel seiner Attraktion
Zunächst ist rätselhaft, was überhaupt so aufregend daran sein soll, wenn der Souverän die (nunmehr negativ definierte) Macht hat, die geltende Ordnung zu durchbrechen oder gar vollständig aufzuheben. Bedeutet das nicht eine viel schwächere Ausübung von Macht als die 'positive' zur Durchsetzung einer öffentlichen Ordnung? Weil der Ausnahmezustand per definitionem selten ist, sollte er eigentlich viel harmloser sein als die positive Durchsetzung öffentlicher Ordnung, die ja immer gilt und deshalb auch ständig mit Staatsgewalt aufrechterhalten werden muss.
Auf diesen Einwand lautet die neomarxistische Entgegnung: Ihr täuscht euch! Die eigentliche Bedrohung des Publikums durch den Souverän ergibt sich ja gar nicht erst bei der tatsächlichen Ausrufung des Ausnahmezustands! Der ist in der Tat sehr unwahrscheinlich. Die Bedeutung der Schmitt'schen Hypothese liegt vielmehr darin, dass wir begreifen sollten, dass wir unter der ständigen Drohung des Ausnahmezustands leben. Sie mache die eigentliche Tyrannei des heutigen Souveräns aus (so auch Agamben im 1. und 2. Band seiner besagten Trilogie). Und natürlich, so die zeitgenössischen Anhänger des Schmitt'schen Diktums - wenn auch im umgekehrten Sinne, also nicht als Befürworter, sondern als Kritiker der souveränen Macht -, sei der heutige Souverän kein absoluter König mehr, sondern vielmehr eine latent jederzeit gewaltbereite 'Elite', wenn es darum gehe, die von ihr missbrauchte öffentliche Ordnung auszusetzen, sobald die politische Entwicklung eine Richtung einschlage, die ihren Interessen zuwiderläuft.
Nun geht es hier nicht darum, die vielen Schwachstellen eines solchen nach Verschwörungsparanoia riechenden Vorwurfs aufzuzeigen. Das beginnt schon mit der Frage, wer heute eigentlich zu jener 'Elite' gehört, die sich die behauptete Souveränität anmaßt. Denn den absoluten Monarchen und auch einen Herrn Hitler gibt es ja nicht mehr. Wichtiger ist dagegen die besagte Auslegung des Schmitt'sche Satzes, es handele sich dabei um die Offenbarung, dass es bei dem angeblich ständig über uns schwebenden Damoklessschwert des Ausnahmezustandes um ein Alles oder Nichts der gesamten öffentlichen Ordnung gehe. Was ist damit überhaupt gemeint? Mit einer so undeutlichen Drohung kann man sicherlich Kinder erschrecken ("Wenn Du nicht artig bist, kommst Du ins Kinderheim!"). Aber wer hat derart drastische Maßnahmen z.B. gegenüber der deutschen Bevölkerung (immer natürlich minus ihrer verteufelten Eliten) nach 1945 oder gar nach 1989 je angedeutet? Bedroht uns die Große Koalition ständig, wenn auch auf perfide Weise ganz indirekt, mit der Aufhebung der verfassungsmäßigen Ordnung? Müssen wir jederzeit mit einem Putsch der Bundeswehr rechnen? Hört auf, Leute. Das ist lächerlich.
Missverständnisse, nichts als Missverständnisse
Ein solcher Vorwurf der Dauereinschüchterung durch die aktuellen Machthaber in den heutigen westlichen Gesellschaften lebt offenbar nicht nur von einer Verzerrung der tatsächlichen politischen Machtverhätnisse, sondern bereits von ihrer stark unterkomplexen Beschreibung. Zwar wird niemand bestreiten, dass Macht, wo immer sie auftritt, mit allen verfügbaren Mitteln an ihrer eigenen Erhaltung arbeitet und dabei auch vor extremer sozialer Rücksichtslosigkeit manchmal nicht zurückschreckt. Eindeutig, d.h. empirisch falsch ist allerdings die implizite Behauptung, jene nirgends mehr als vage bezeichneten Eliten der westlichen Gesellschaften würden untereinander jene Einigkeit aufweisen, die notwendig wäre, um einen Ausnahmezustand der Schmitt'schen Art auszurufen.
Ein weiterer schwerer Fehler der Anwendung der Schmitt'schen These auf die Jetztzeit ist, dass Schmitt gar nicht sagen wollte, was es wirklich mit dem Souverän und seiner Macht auf sich habe. Er wurde wörtlich genommen, obwohl er nur ein gelehrter Blender war. Sogar die ihn negativ bewundernde Linke geht ihm damit bis heute auf den Leim. Tatsächlich war es Schmitt nur um Reklame für seine Vorstellung von einem 'echten' Führer zu tun, den er zwecks ideologischer Tarnung und selbstverständlich aufwertend zum Souverän umetikettierte. Zur Durchführung dieser begrifflichen Zweckentfremdung kleidete er seine Absichten in allerlei historische Analysen, um seiner tatsächlichen ideologischen Agenda den Anstrich einer Art zeitlos-politischen Tatsachenbeschreibung zu geben.
Es wurde schon oft gesagt, dass Schmitt in Wirklichkeit nur Propaganda für sein politisches Führerideal namens Adolf Hitler betrieb. Der berühmteste Satz der politischen Philosophie des 20. Jahrhunderts war nur ein Hoax. Wann werden seine heutigen Bewunderer dies endlich begreifen? (ws)