Gott, die Fremden und das Geld
Der Ökonom Jonathan Schulz und der Evolutionsbiologe Joseph Heinrich (beide an amerikanischen Universitäten, ferner weitere Koautoren) haben kürzlich in der renommierten Zeitrschrift Science (Nr. 6466 / Bd. 366 vom 08.11.2019) ein spektakuläres Untersuchungsergebnis veröffentlicht. Sie stellten sich die alte und immer wieder heftig diskutierte Frage, warum sich bestimmte Regionen der Welt institutionell und wirtschaftlich so viel stärker entwickelt haben als andere. Eine Zusammenfassung der Studie kann hier eingesehen werden.
Die Methode ist alles
Wenn man sich solche Fragen stellt, ist das Untersuchungskriterium der entscheidende Faktor: Man schaut sich die fraglichen Gesellschaften und Kulturen nach den gewählten Kriterien, hier: bestimmte gesellschaftliche Strukturen einerseits und ihre ökonomischen und institutionellen Wirkungen andererseits, an und erhält dann, entsprechend verlässliche Daten vorausgesetzt, eine mehr oder weniger passende Korrelation zwischen den gewählten Skalen. Schulz und Heinrich legten in ihrer Studie nun auf der gesellschaftlich-strukturellen Seite ein an Max Webers berühmte Protestantismus-These erinnerndes Kriterium an, und zwar die Dauer und Intensität des Einflusses der Katholischen Kirche auf die jeweilige Region. Das heißt konkret: Sie notierten (sehr vereinfacht gesagt) auf einer Skala den Einfluss der Katholischen Kirche für jedes untersuchte Land und stellten auf einer zweiten Skala die wirtschaftliche und institutionelle Entwicklung derselben Länder dagegen - und dies in Zeitabschnitten von je 100 Jahren über die vergangenen 1.500 Jahre.
Starker Tobak
Das Ergebnis der Herangehensweise von Schulz und Heinrich ist überraschend, weil es eine hohe Korrelation zwischen beiden Skalen ergibt: Mit relativ geringen statistischen Toleranzen zeigen sie, dass Länder, in denen die Dauer und die Intensität des Einflusses der Katholischen Kirche besonders hoch war, eine entsprechend höhere wirtschaftliche und institutionelle Entwicklungsgeschwindigkeit aufwiesen. Sie mussten für dieses Ergebnis allerdings zu einem Trick greifen. Denn für große Teile der von Menschen bewohnten Welt lagen ihnen keine entsprechend weit zurückreichenden demographischen Daten vor. Diese 'datenschwachen' Länder und Regionen sind nun - man könnte dies als Zirkelschluss kritisieren - genau jene, in denen die Katholische Kirche gar keinen oder nur einen sehr geringen Einfluss hatte, was vor allem auf den gesamten afrikanische Kontinent, aber auch auf Teile Asiens zutrifft. Leider haben wir nicht die Geldmittel, um die sehr instruktiven Grafiken aus dieser Studie hier wiedergeben zu können; ein Klick genügt aber, um sie sich auf der entsprechenden Webseite des Economist anschauen zu können.
Nun sind Schulz und Heinrich nicht so einfältig zu behaupten, dass es schlicht der katholische Glaube sei, der die entsprechenden Entwicklungen bewirkt habe. Vielmehr haben sie die gesellschaftlichen Wirkungen dieses Glaubens zusätzlich auf jene besonderen Merkmale hin untersucht, die sie von anderen Glaubensystemen unterscheiden. Als diese Merkmale machten sie die Verschärfung des Inzestverbots, das Verbot der Verwandtenheirat, das Zölibat und überhaupt eine Reihe von Einschränkungen aus, die allesamt die Loyalität gegenüber Blutsverwandten schwächten. Ursprünglich mag die Katholische Kirche diese Einschränkungen erfunden haben, um stattdessen die Loyalität ihrer Glaubensanhänger an die Kirche zu stärken. Praktisch hatte dies aber noch eine ganz andere Wirkung, behaupten die Autoren. Die katholisch geprägten Gesellschaften wurde hierdurch nämlich dazu gedrängt, sich stärker mit Fremden aller Art zu arrangieren. Dies hatte so unterschiedliche Wirkungen wie z.B.eine stetige Ausweitung der Handelsbeziehungen, die Entwicklung neutraler, letztlich staatlicher Institutionen zur Streitschlichtung und die Stärkung einer nicht mehr stammesspezifischen Moral. Auf diese Weise meinen Schulz und Heinrich zu zeigen, dass - zumindest mittelbar - die katholische Kirche der relativ stärkste Entwicklungsmotor unter allen menschlichen Gesellschaften dieser Welt war.
Kopfkratzen
Wie ist dieses verblüffende Ergebnis zu beurteilen? Nun, sicherlich wird man es nicht einfach als Auswuchs eines ideologischen, neokolonialistischen, ethnozentrischen Auswuchses abtun können, auch wenn die üblichen Verdächtigen, nämlich insbesondere das zentrale Westeuropa, aber auch Nordamerika und die südlichsten Teile Südamerikas, einmal wieder als die Gewinner aus der Untersuchung hervorgehen und Afrika und die islamischen Kernländer weit abgeschlagen die letzten Ränge belegen. Zu denken gibt bei dem Ergebnis allerdings der Umstand, dass es genau die besonders schlecht abschneidenden Länder sind, zu denen auch gar keine oder nur minimale demographische Entwicklungsdaten über die letzten 1.500 Jahre vorliegen. Mit 'wirschaftlicher und institutioneller Entwicklung' kann deshalb offensichtlich nur jene Entwicklung gemeint sein, mit der das europäische Abendland und seine Ableger so sehr glänzen. Nicht hinterfragt wird von der Studie, ob oder auf welche Art diese 'datenschwachen' Länder womöglich eigene, andere Entwicklungen gezeitigt haben, die genauso positiv bewertet werden könnten wie jene Kriterien der wirtschaftlichen und institutionellen Entwicklung, die Schulz und Heinrich zugrunde gelegt haben und die sie implizit als etwas ganz selbstverständlich Positives darstellen, ohne diese Wertung im Vergleich mit anderen Kulturen zu begründen.
Die Sache hat eine Vorgeschichte...
Die Studie schließt damit an eine sehr heftig geführte Diskussion der 1990er und frühen 2000er-Jahre an, bei der sich zwei Lager in leidenschaftlicher Feindseligkeit gegenüberstanden. Die Gallionsfigur des einen Lagers war Samuel Huntington mit seinem berühmt-berüchtigten Buch Kampf der Kulturen, aber auch Francis Fukuyama gehörte dazu. Das andere Lager wurde von weniger bekannten Leuten gebildet (vielleicht mit Ausnahme von Amartya Sen, der zu den prominentesten Figuren dort gehörte), die das ganze 'Gerede' von der Wirkung tradierter Kulturen und ihren Werten als krassen Ethnozentrismus und letztlich die gesamte Anthropologie Huntingtons und seiner Anhänger verwarfen. Sie verwiesen stattdessen auf 'harte' demographische und Umweltfaktoren, die viel besser die entsprechenden Entwicklungsunterschiede erklären würden. Eine sehr instruktive Zusammenfassung dieses Streits bietet das Buch von Lawrence E. Harrison und Samuel P. Huntington: Streit um Werte. Wie Kulturen den Fortschritt prägen (Europa Verlag, 2002). Huntington und Harrison als Herausgeber sind dort so tolerant, auch ihre Widersacher umfangreich zu Wort kommen zu lassen. Mit der neuen Studie von Schulz und Heinrich, immerhin im Economist veröffentlicht, erfährt diese Debatte nun eine Fortsetzung, und zwar in Gestalt einer überwiegenden Verteidigung des Standpunktes des 'Huntington-Lagers'. Der Streit war ohnehin nie erloschen. Und er ist tatsächlich auch noch nicht entschieden, so wenig dies den Streitbeteiligten beider Seiten passen mag.
... die voller Fußangeln ist
Wie trickreich die ganze Fragestellung ist, sieht man bereits daran, dass die neue Studie von Schulz und Heinrich gerade nicht zur Anstachelung populistischer Fremdenfeindlichkeit und eines damit oft einhergehenden, altbackenen Wertekonserveratismus taugt. Im Gegenteil; sie betont gerade, dass die Offenheit gegenüber Fremden ein sehr starker Entwicklungsanreiz ist!
Die Täuschungsanfälligkeit bei der Wahrnehmung komplexer sozialer Phänomene geht aber noch viel weiter. Nehmen wir bespielsweise den stereotypen Vorwurf in Deutschland, 'die Türken' würden sich besonders schlecht gesellschaftlich integrieren und oft noch in der 2. und 3. Generation 'kaum Deutsch sprechen' etc. Tatsächlich ist es so, dass es in vielen westeuropäischen Ländern Migrantengruppen in 2. und älterer Generation gibt, die diesem Vorwurf ausgesetzt sind - diese aber in den jeweiligen Ländern aus ganz unterschiedlichen Herkunftsländern kommen! So sind es beispielsweise bereits im benachbarten Luxemburg die Portugiesen, in Frankreich wiederum die Nordafrikaner aus den ehemals französischen Kolonien, in Holland die Marokkaner und in Großbritannien die Pakistaner, die solche relativ abgeschlossenen Subkulturen bilden. Der Grund ihrer kulturellen Beharrlichkeit ist also gerade nicht ihre spezifische Herkunftskultur, sondern die Umstände ihrer ursprünglichen Einwanderung. Diese Migranten bewirkten später obendrein häufig einen Familiennachzug mit ähnlichen Motiven und Einstellungen. Unter diesen Migrationsmotiven sticht nun vor allem heraus, dass es meist die ärmsten und bildungsfernsten Bevölkerungsteile der Herkunftsländer waren, die nach Europa migrierten, weil sie sich den relativ größten Gewinn erhofften, dort aber mit besonders großen Integrationsschwierigkeiten zu kämpfen hatten. Soviel zum Risiko einer vorschnellen ethnischen Kategorisierung des Verhaltens von Kollektiven.
Ob sich Schulz und Heinrich diesen Vorwurf gefallen lassen müssen, wird die weitere Debatte zeigen. Sie verdient sicher Aufmerksamkeit, verlangt aber auch eine ordentliche Portion an Vorsicht, selbst wenn 'die Daten' zunächst verblüffend überzeugend wirken. (ws)