Natur
Das Dynamische, schlechthin Unbegreifliche
Einer der zentralen ideologischen Angriffspunkte der großen französischen Aufklärer war ihre Kritik am Umgang der katholischen Kirche mit der Natur. Alles Natürliche am Menschen, allem voran seine Leiblichkeit, seine Lust auf Sex und Luxus, war der Kirche ein Greuel. Um den frommen Christen ihren Spaß daran zu verderben, führte sie ihnen schon seit dem Hochmittelalter vor, wie vergänglich doch alles Natürliche sei, wie eklig insbesondere der menschliche Körper ist, wenn er altert und krank wird. Das sollte der Erotik endgültig den Garaus machen. Tatsächlich war diese Methode erstaunlich erfolgreich, wenn man bedenkt, wie stark die damit bekämpften Triebe sind, insbesondere jener, der angeblich nur der Fortpflanzung dient (dies ebenfalls eine Erfindung der katholischen Glaubenslehre; die Bonobos sind anderer Meinung).
Amour fou: Natur und Moral
Der katholische Klerus hatte selbstverständlich auch eine wichtige Begründung für die Bekämpfung insbesondere alles Leiblichen zur Hand. Die lautet, kurz gesagt: Lust und Moral schließen einander aus. Soll die Moral also aufrecht erhalten werden, müsse dies zwangsläufig zu Lasten der Lust gehen, und zwar radikal.
Den schlauen Aufklärern ging es nun im Kern gar nicht um die eher akademisch anmutende Frage eines Widerspruchs von Moral und Natur, sondern lediglich um die politische Entmachtung der Kirche. Wie aber greift man einen Gegner an, der sich in den Köpfen seiner Untertanen so tief eingenistet hat wie die christliche Ethik? Von Antonio Gramsci wissen wir, dass der Hegemon nicht auf dem Schlachtfeld besiegt wird, sondern in den Köpfen der Menschen, die er besetzt hält. Folglich ersannen die Aufklärer eine Methode zur Kastration der katholischen Metaphysik an ihrem empfindlichsten Punkt, sozusagen an ihrem ideologischen Fortpflanzungsorgan: ihrer Lustfeindlichkeit. Da man aber nicht besonders überzeugend wirkt, wenn man nur kritisiert, sollte man zur Steigerung der Erfolgsaussichten eines solchen Angriffs auch gleich einen Gegenbegriff in Stellung bringen. Der präsentierte sich im konkreten Fall als Befreiung der Lust, und er lautete (neben der anderen begrifflichen Waffe namens 'Vernunft'): 'die Natur'. Sie sei es doch, die 'eigentlich' unsere Existenz bestimme, und übrigens sei die Natur auch sehr hübsch, sowohl als Blume als auch als Mensch (manche jedenfalls). Was will man mehr!
Die Folge dieses Angriffs war zunächst eine wütende Abwehrreaktion der schwer getroffenen Kirche, die - nicht ganz zu Unrecht - geltend machte, dass eine Entfesselung der menschlichen Natur einer von ihr seit Jahrhunderten sorgfältig gehegten christlichen Sozialordnung in Europa nicht guttun würde. Der aufklärerische Zeitgenosse Marquis de Sade legte auch sofort ein gewaltpornographisches Zeugnis dieser Gefahr ab. Zweihundert Jahre später bescheinigten den katholischen Bedenkenträgern keine geringeren Geistesarbeiter als Max Horkheimer und Theodor Wiesengrund Adorno in ihrer Negativen Dialektik, wenn auch ausschließlich als Kritik an der Aufklärung und keineswegs als Lob der christlichen Theologie, dass sogar noch der Vernichtungswahn zweier Weltkriege inklusive des Genozids an Juden und Slawen letztlich eine Konsequenz aufklärerischer Rationalität seien. Und schon die Anführer der französischen Aufklärung wussten, dass ihre Waffe gegen den katholischen Dogmatismus eine Wirkung hatte, die weit mehr vernichten konnte als nur den intendierten Gegner. Dem Vorwurf, nicht nur die Triebe der Menschen freizusetzen, sondern auch ersatzlos deren moralische Bindungen zu zerstören, hatten die Aufklärer von Anfang an nichts entgegenzusetzen. Egal; im Eifer des ideologischen Gefechts nahmen sie diesen Kollateralschaden in Kauf. Um seine Behebung könne man sich später kümmern. Tatsächlich wurden die ersten Reparaturversuche erst in der deutschen Romantik unternommen, die mit einer Verzögerung von fast einem Jahrhundert eine Revision der allzu rational auftrumpfenden Ideen der Französischen Revolution verlangten.
Drohender Kontrollverlust
Gut; das ist alles längst bekannt. Panajotis Kondylis hat in seiner ausführlichen Analyse dieser Auseinandersetzung (Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus; Meiner 1998) mustergültig nachgezeichnet, wie die Aufklärer nicht nur untereinander mit ihren Geltungsansprüchen rangen, sondern sich auch der Risiken ihrer eigenen ideologischen Vorgehensweise durchaus bewusst waren. Auf der Strecke blieb - die Natur. Allerdings wusste man im Grunde ohnehin nie genau, wovon man eigentlich redet, wenn man das Wort 'Natur' gebraucht: Meint man physikalische, biologische oder chemische Gesetze? Schöne Landschaftsfotos? Die natürliche Anmut und erotische Anziehungskraft vorwiegend junger Mädchen unter dem Blick älterer Männer? Die katastrophal zerstörten Landschaften nach Reaktorunfällen, geplatzten Öl-Pipelines oder von Plastikmüll tödlich gefüllten Bäuche der größeren Meerestiere? Gar einen in Reih und Glied bis an den Horizont mit industriellen Produktionspflanzen bedeckten Erdboden? Wenn hier einer Grund zum Heulen hätte, sich aber leider nicht beschweren kann, dann ist es 'die Natur'. Sie kann sich aber schon deshalb nicht beschweren, weil es sie in der von uns gesuchten Form offenbar gar nicht gibt.
Natur ist, wenn überhaupt etwas, dann das seltsam fremde Medium unserer Existenz, das Unverfügbare, das, was sich nicht festhalten lässt, das Vergängliche, das, was einfach geschieht, manchmal nach Regeln, häufig auch nicht. Natur ist das, was die Christen beherrschen wollen und dabei nur sich gegenseitig und andere Kulturen bekriegen. Natur ist das, was bei den Daoisten des alten China den Rahmen ihrer Rolle im Universum definierte. Natur ist bei Sigmund Freud das Gegenteil von Kultur, das Prä- oder Entsublimierte, das, was vor aller Neurose und allen Fragen nach dem eigenen Lebenssinn liegt. Natur ist dem christlichen Klerus der Angstgegner, der ihre Macht bedroht, allgegenwärtig und doch ungreifbar, teuflisch. Natur ist den modernen Polit-Ökologen das, was es unbedingt zu retten gilt, was sie als höchsten Wert sogar über den Wert des menschlichen Einzellebens setzen. Den Mystikern aller Zeiten ist Natur - in Karl Jaspers' Worten - das Umgreifende, das überwältigende Ganze des Kosmos in seiner spirituellen Unbegreiflichkeit.
Es scheint die Natur also schon irgendwie zu geben, nur: wie und wo? Sie ist offenbar etwas ganz anderes als das, was die vorstehend genannten Auffassungen behaupten. 'Natur' ist nur eine Vorstellung, und zwar meist ein Kampfbegriff. Sie ist allerdings nicht nur ein aktiv-politischer Begriff, um damit auf seine jeweiligen ideologischen Gegner loszugehen, sondern häufig auch ein passiver, defensiver. Das erleben wir gerade in der gegenwärtigen Corona-Pandemie. Hier schlägt die Natur zu, und plötzlich ist sie nicht mehr schön, hat auch nichts Kultiviertes, Spirituelles oder gar Erotisches. Sie ist nicht nur als fremder Virus potenziell tödlich, ganz ohne Moral. Die Unverfügbarkeit der Natur in solchen Erscheinungsformen ist ein Ärgernis, weil wir theoretisch etwas dagegen tun können, nur nicht entsprechend vorbereitet sind. Die Umlaufbahn des Mondes um die Erde ist auch Natur und (bislang jedenfalls) unverfügbar, außerdem stört sie uns nicht. Also ist sie uns egal. Irgendwann wird der Mond, minimal und doch unaufhörlich gebremst durch den Sonnenwind, aber in die Erde stürzen. Dann ist es aus mit uns, sofern wir nicht vorher zu interplanetarischen Flüchtlingen geworden sind und uns auf einen anderen Himmelskörper verkrümelt haben.
Menschliche Existenz als Hochseilakt
Aus der Perspektive von uns Menschen, die doch nur überleben wollen, ist es in solchen Situationen schlechthin gut, sich gegen die Natur zu wehren, wo sie uns bedroht. Dafür verzichte ich sogar gerne ein paar Monate darauf, aus dem Haus zu gehen. Und nichts hindert mich, dennoch weiter aus dem Fenster zu schauen und die Bäume, die ich sehe, schön zu finden, ihre stoische Eigengesetzlichkeit zu bewundern, jetzt, wo der Frühling sie zum Austrieb herrlich neuen Blattwerks und Myriaden von Blüten anregt. Es drängt sich aber gleichzeitig der Eindruck auf, dass wir mit der Natur nichts verloren haben, vielmehr sie als Menschen offenbar noch nie besessen haben. Sie ist kein Gegner, nicht einmal als Virus, auch wenn sich Politiker gerne dieser Rhetorik bedienen. Sie ist auch nicht unser Freund. Wir wollen einfach überleben, wie die anderen Tiere und Pflanzen auch. Bei allen Möglichkeiten, die sich uns infolge einer immer weiter fortschreitenden Beherrschung dessen bieten, was wir als Natur überall suchen, manipulieren, bewundern, pflegen und gleichzeitig zerstören, sollten wir nicht vergessen, dass wir nicht so wichtig sind, jedenfalls dann nicht mehr, wenn wir uns als Teil dessen auffassen, wovon wir offenbar nur ein winziger Aspekt sind und es vielleicht genau deshalb nie begreifen werden. (ws)