Zum Theorieprogramm einer postfundamentalen Systemtheorie (Jan Tobias Fuhrmann)
Datum: 02.12.2019 (20:00:00–22:30:00)
Ort: Alte Jakobstr. 12 / Ecke Ritterstr. (Tiyatrom Theater), 10969 Berlin
Luhmann inszenierte die soziologische Systemtheorie als epistemologische Wende. Denn die Welt könne nicht mehr vorausgesetzt werden, die Welt ziehe sich in das Unbeobachtbare zurück, weil die Beobachtung einen Schnitt, eine Einkerbung vornehmen müsse, „die man zwar kreuzen, aber nicht ‚aufheben‘ kann, ohne ins Unbeobachtbare zurückzukehren.“ Was sich bei Luhmann als radikal konstruktivistisch gibt, was sich als Überwindung der Ontologie und der klassischen Logik prätendiert, finde sich darin, dass jede Beobachtung eine Unterscheidung benutze, mit der die Welt nicht erreicht werden kann. Die Fundamente der Epistemologie der alteuropäischen Tradition scheinen erschüttert durch die Geste einer postfundamentalen Theoriebildung.
Doch die Einkerbung, die nur gekreuzt werden könne, verweist auf die Spur eines unerschütterlichen Fundaments der Systemtheorie. Denn die Kerbe entsteht nicht im Einkerben, sie ist schon da, in der Unterscheidung, die der Beobachter blind verwenden müsse. Er kann nur von der einen auf die andere Seite der Zwei-Seiten-Form wechseln. Die andere Seite ist in der Totalalternative eines binären Schematismus vorbestimmt, sodass der systemtheoretische Beobachter immer nur im Entweder-Oder operieren kann.
Eine postfundamentale Systemtheorie setzt an diesem Punkt an und geht davon aus, dass keine Kerbe einer blind zu benutzenden Unterscheidung vorliege. Stattdessen bleibt das Außen, die andere Seite, immer unbestimmt. Es liegt keine fundamentale Einkerbung vor, die gekreuzt werden kann. Das Außen, die andere Seite der Unterscheidung, entzieht sich permanent der Operation. So wird Unbestimmtheit als Ausgangspunkt für die Theoriebildung festgelegt.
Welche Folgen das für eine Theorie, die sich noch in die Tradition der soziologischen Systemtheorie stellen will, hat und wie ein Theorieprogramm daraus begründet werden kann, wird im Vortrag entwickelt. Die Festlegung auf die Unbestimmtheit wird insbesondere die Grundannahme, dass jedes Operieren sozialer Systeme rekursiv erfolge, infrage stellen. Das hat zur Folge, dass die Totalität des Mediums Sinn aufgelöst wird. Das hat zur Folge, dass das Soziale nicht mehr symmetrisch, daher nicht-hierarchisch, sondern im Gegenteil asymmetrisch konstituiert ist, und es wird insbesondere dazu führen, dass sich das Theoretisieren selbst als ein Prozess des Überprägens, der Übergriffigkeit darstellen wird. Die Theorie stellt sich als politisch heraus, weil sie erst aus einem konstitutiven Gewaltverhältnis abgeleitet werden kann. Eine postfundamentale Systemtheorie wird dann den hyperdistanzierten Beobachter der Theorie mit sich selbst konfrontieren, damit konfrontieren, dass er sich selbst nur aufgrund einer gnadenlosen Symmetrisierung des Asymmetrischen begründen kann.
Der Vortrag kann hier heruntergeladen werden.
Zum Vortragenden:
Jan Tobias Fuhrmann ist Soziologe. Er arbeitet an einer postfundamentalen Reartikulation der soziologischen Systemtheorie. Noch in diesem Jahr wird im Passagen-Verlag Postfundamentale Systemtheorie erscheinen. Mehr unter https://jantfuhrmann.wordpress.com/.