Woher wissen wir, was wir wissen? (Henri Schmit)

Datum: 11.12.2017 (20:00:00–22:30:00)

Ort: Alte Jakobstr. 12 / Ecke Ritterstr. (Tiyatrom Theater), 10969 Berlin

Erblicken wir sie? Konstruieren wir sie?
Erblicken wir sie? Konstruieren wir sie?

In meinen beiden vorangehenden MoMo-Vorträgen ging es um die drei großen Menschheitserzählen: Spiritualismus, Naturalismus und Humanismus, und um die Rolle von Mythen für die intellektuelle Orientierung, das individuelle Selbstverständnis und die gesellschaftliche Konstruktion von Wirklichkeit. Mich interessiert die Frage, was die intellektuelle Grundlage unseres Denkens, unseres Selbstverständnisses als Menschen ist, sein kann und/oder sein soll: Woher wissen Philosophen und Wissenschaftler, was sie wissen?

Diese Frage ist heutzutage noch wichtiger als zu früheren Zeiten, da wir in einer Wissensgesellschaft leben. Der Begriff 'Wissensgesellschaft' bezeichnet eine Gesellschaftsform, in der individuelles und kollektives Wissen und seine Organisation vermehrt zur Grundlage des sozialen und ökonomischen sowie des medialen Zusammenlebens werden.

In der Erkenntnistheorie wird Wissen traditionell als wahre und gerechtfertigte Auffassung (justified true belief) bestimmt. Diese Bestimmung geht auf den frühen Platon zurück. Als Ausgangspunkt für meine Untersuchungen dient Platons lebenslange Kampf mit den Sophisten. Die sich anschließende Auseinandersetzung um die Definitionshoheit, was Wissen ist, währt nun schon 2.400 Jahre und wird von zwei konkurrierenden Rationalitätsvorstellungen befeuert: universal-notwendig versus instrumental-pragmatisch. Die Dimension und Tragweite dieses Kampfes stellt Helmut Meinhardt, der deutsche Übersetzer von Platons Dialog „Der Sophist“ (einem für diese Thematik wegweisenden Text) in seiner Einleitung so dar:

„Das Thema [des Dialogs ist] eine Wesensbestimmung der Sophistik, ihre Scheidung von der Philosophie, im 5. und 4. Jahrhundert v. Chr. das zentrale, ins Mark treffende Problem der noch jungen Philosophie. Ohne die Lösung dieses Problems durch Sokrates, Platon und Aristoteles wäre das größte Geschenk der Griechen an die ganze Menschheit, die Idee eines durch theoretische Vernunft begründeten Weltverständnisses und Weltverhaltens, bereits nach knapp drei Jahrhunderten wieder an ihrem Ende gewesen; kaum vorstellbar, wie die Geistesgeschichte der Menschheit dann verlaufen wäre.

Damit diese These einleuchten kann, muß sie expliziert werden. Nach allem, was wir wissen, geschah es um 600 v. Chr. in der kleinasiatischen, zu Griechenland gehörenden Seehandelsstadt Milet: In genialer, kühner Unbefangenheit fragte Thales nach dem einzigen, letzten Grund für alles, was existiert. Die Antwort auf diese Ur- und Universalfrage sucht er nicht beim religiösen Mythos, sondern bei der die Welt beobachtenden eigenen Vernunft. Er entdeckt, daß die mythischen Deutungstraditionen nicht einzige Quelle für die Orientierung des Menschen im Kosmos sind, sondern daß man durch menschliches Denken etwas darüber ausmachen kann, was aus welchem Grund ist und sein soll. Diese Geburtsstunde der Philosophie ist zugleich die von Wissenschaft überhaupt.“

Worin unterscheiden sich philosophisches und naturwissenschaftliches Wissen und die Wahrheitsansprüche, die Philosophen und Naturwissenschaftler im Namen ihrer Theorien machen, von allgemeinem Wissen? Sind philosophische und naturwissenschaftliche Theorien wahr, weil sie der Wirklichkeit entsprechen? Wie können wir wissen, dass Theorien der Wirklichkeit entsprechen, wenn wir nur über unsere Erfahrungen mittelbaren Zugang zur Wirklichkeit haben? Sind Theorien wahr, weil sie Erfahrungen berücksichtigen und korrekte Vorhersagen treffen? Das klingt plausibel, aber Theorien, die wir jetzt als falsch einstufen, wurden in der Vergangenheit als wahr betrachtet, weil sie dem damaligen Wissensstand gerecht wurden und erfolgreiche Vorhersagen machten! Sollten wir davon ausgehen, dass die aktuell als wahr geltenden Theorien widerlegt werden und durch andere, dann wahre Theorien ersetzt werden, wie es bei allen bisherigen Theorien der Fall war? Aber in diesem Fall sind Theorien nicht wirklich Wissen oder Wahrheit, im strengen Sinn dieser Worte, sondern ein Sonderfall erfahrungsgeprüfter, gebildeter Meinung.

In einer Zeit, in der die wissenschaftliche Forschung mit tiefgreifenden sozialen, moralischen und ökologischen Herausforderungen für das zukünftige menschliche Wohlergehen verbunden ist, ist ein Missverständnis der Positionen konkurrierender Interpretationen der Wissenschaft ein Hindernis für rationales Handeln als Antwort auf diese Herausforderungen.

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Henri Schmit

Henri Schmit, Jahrgang 1969, wurde als Sänger und Musiker der luxemburger Band „Zen and the Art of Motorcycle Repairing“ bekannt. Ab 1996 wandelte er auf Solopfaden in London. Seit 2000 lebt er in Berlin und beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit Kunst und Philosophie.

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