Von der Körperlichkeit sozialen Handelns zur leiblichen Intersubjektivität (Helmut Fallschessel)
Datum: 05.10.2015 (20:00:00–22:30:00)
Ort: "Licht & Musik", Merseburger Str. 3, 10823 Berlin-Schöneberg (Hof EG, links)
Von der Körperlichkeit sozialen Handelns zur leiblichen Intersubjektivität
Vortrag von Helmut Fallschessel
„Das Leben zu fühlen ist eine Lust.“ (Aristoteles, Nikomachische Ethik, IX, 1170b1)
„Allerdings, was der Körper vermag, hat bisher noch niemand festgestellt …“ (Spinoza, Ethik, III. Teil, Von den Affekten, Lehrsatz 2)
In meinem Vortrag möchte ich eine Reihe von Thesen erläutern und argumentativ untermauern, die - wie ich meine - von großer Bedeutung für die weitere Entwicklung der Philosophie sowie der Sozial- und Kulturwissenschaften sind bzw. sein sollten:
1. Die konstitutive Körperlichkeit und Umweltbezogenheit bzw. „Responsivität“ sozialen Handelns wurde lange auf folgenschwere Weise vernachlässigt. Der dieses Manko in den letzten Jahrzehnten langsam korrigierende „body turn“ bleibt aber unzureichend, solange unsere „Leiberfahrung“, die als „leibliches Spüren und Erleben“ dem phänomenalen Bewusstsein zugänglich und damit im Prinzip auch aus der Erste-Person-Perspektive sprachlich mitteilbar ist, nicht hinreichend einbezogen wird.
2. Dieses „leibliche Spüren und Erleben“ ist dabei von einer immer schon gegebenen, ontologisch wie ontogenetisch vorgängigen „Zwischenleiblichkeit“ geprägt, die auf einer basalen körperlich-biologischen Affizierbarkeit und Interaffektivität beruht und eine im phänomenalen Erleben sozial geteilte Erlebniswelt überhaupt erst ermöglicht.
3. Eine (natur-)wissenschaftliche Erforschung der biochemischen, neuronalen und interaktiven Mechanismen der wechselseitigen körperlichen Affizierung bedarf einer Ergänzung durch die phänomenologische Untersuchung und Beschreibung der im phänomenalen Bewusstsein erscheinenden Inhalte, Gefühle und Erfahrungen, da dieses Bewusstsein kein bloßes „Epiphänomen“, sondern ein evolutionär wichtiges Organ ist.
4. Dabei sollten die Beschreibungen der Leibphänomenologie mit den Theorieansätzen und Methoden der Sozial- und Kulturwissenschaften verknüpft werden, um so die – etwa an den Wirkungen kulturspezifischer Körperpraktiken auf die Formen und Dynamiken leiblichen Spürens und Erlebens nachweisbare – Historizität und Kulturalität der Leiberfahrung zu thematisieren bzw. wissenschaftlich untersuchbar zu machen.
5. Vermutlich wird dabei - ähnlich wie in anderen Bereichen der Kognition, Affektivität und Interaktion - keine klare Grenze zwischen anthropologischen Universalien und kultur- bzw. gesellschaftsspezifischen Formen und Dynamiken der Leiberfahrung feststellbar sein, da die große Plastizität des Gehirns wie des Erlebens dies verunmöglicht.
6. Die grundlegende körperliche Affizierbarkeit und Interaffektivität des Lebens und die daraus resultierende immer schon vorgegebene Bezogenheit unserer Leiberfahrung auf die Mit- und Umwelt bilden die affektiv-pathische Grundlage unseres Welt-, Sozial- und Selbstbezugs und ermöglichen so die leibliche Intersubjektivität.
7. Damit ist auch die „libidinöse Besetzung“ (Freud) bzw. das „enjeu“ (Bourdieu) von Leben überhaupt, aber auch von spezifischen soziokulturellen Praktiken und Interessen, eng mit körperlicher Affizierbarkeit und Interaffektivität sowie mit phänomenaler Leiberfahrung verknüpft und ohne diese nicht vorstellbar.
8. Auch der „Lebenssinn“ – im doppelten Wortsinn des „Sinns für das Leben“ wie des „Sinns des Lebens“ – ist damit eng mit unserer Leiberfahrung verbunden und insgesamt „bottom up“ als Folge der Affizierbarkeit und Interaffektivität alles Lebens und nicht „top down“ als durch eine höchste sinnstiftende Instanz garantiert aufzufassen.
Helmut Fallschessel studierte Philosophie, Ethnologie, Religionswissenschaft und Soziologie in Tübingen sowie an der FU Berlin. Er lebt in Berlin und ist beruflich vor allem in der Erwachsenenbildung u. a. mit philosophischen Seminaren tätig.