Über die Risiken eines dualistischen Denkens (Anna Strasser)
Datum: 12.02.2018 (20:00:00–22:30:00)
Ort: Alte Jakobstr. 12 / Ecke Ritterstr. (Tiyatrom Theater), 10969 Berlin
Multiple Realisierung
In der Regel gibt es viele Möglichkeiten, wie man etwas bewerkstelligen kann - mehrere Wege führen zum Ziel. Dies gilt auch für sozio-kognitive Fähigkeiten. Man kann schnell oder langsam denken und nichtsdestotrotz dasselbe Ziel erreichen. Das nennt man multiple Realisation. In meinem Beitrag möchte ich den Fall von multipler Realisation bezüglich der sozio-kognitiven Fähigkeit Mindreading genauer untersuchen.
Mindreading
Für viele soziale Interaktionen ist es von besonderer Bedeutung, dass wir über Sozialkompetenz verfügen. Zum Beispiel sind wir oft in der Lage, vorherzusehen, was eine andere Person als Nächstes tun wird. In den Geistes- und Naturwissenschaften wird ein Aspekt dieser Sozialkompetenz unter dem Begriff Mindreading oder auch Theory of Mind diskutiert.
Viele Positionen in der Mindreading Debatte gehen davon aus, dass die zugrundeliegenden Informationsverarbeitungsprozesse auf Repräsentationen und auf Zuschreibungen von Geisteszuständen beruhen. Es wird angenommen, dass ein Mindreader von einer wahrgenommenen Situation auf mentale Zustände eines Anderen schließt, um dann in einem zweiten Schritt von diesen mentalen Zuständen auf dessen zukünftiges Verhalten zu schließen.
So könnte ich zum Beispiel folgendes Szenarium beobachten: Sally legt einen Gegenstand in eine Box und verlässt dann kurzzeitig den Raum. In der Zwischenzeit nimmt eine zweite Person eben diesen Gegenstand aus der Box heraus und legt ihn in einen Korb. Da Sally dies nicht sehen konnte und folglich weiterhin glaubt, dass der Gegenstand in der Box ist, schreibe ich Sally einen ‚False-belief’ zu und antizipiere, dass sie den Gegenstand in der Box und nicht in dem Korb suchen wird. Mit solchen oder ähnlichen Vignetten werden Mindreading Fähigkeiten empirisch untersucht (Wimmer & Perner).
In der Vielfalt der Positionen, welche die Annahme teilen, dass Repräsentationen und Zuschreibungen für Mindreading essentiell sind, findet man jedoch kategoriale Unterschiede, wenn es um die Charakterisierungen der relevanten kognitiven Prozesse geht. Unter der Voraussetzung einer pluralistischen Sichtweise deute ich diese unterschiedlichen Konzeptionen als multiple Realisation von Mindreading. In meinem Vortrag behandle ich zwei spezifische Formen von Mindreading, nämlich minimal Mindreading (Butterfill & Apperly 2013) und full-fledged Mindreading.
Minimal mindreading versus full-fledged Mindreading
Butterfill und Apperly beschreiben den Unterschied zwischen den beiden Formen des Mindreadings mit Bezug auf einen two-system Ansatz (Kahneman 2011) und charakterisieren Operationen des minimal Mindreadings als automatisch, schnell und robust und somit als typische System one Prozesse. Operationen des full-fledged Mindreadings werden als nicht-automatisch, kontrolliert, langsamer und reflektiert beschrieben, womit sie typische System two Prozesse sind.
Mithilfe einer Analyse der Eigenschaften der jeweiligen kognitiven Prozesse argumentiere ich dafür, dass diese Art und Weise der Unterscheidung mit Vorsicht zu behandeln ist. Denn die Behauptung, dass bestimmte Prozesse entweder in dem einen oder in dem anderen System zu Hause seien, birgt das Risiko eines implizit-explizit Dualismus. Solch ein dichotomischen Verständnis ist nicht in der Lage, die Vielfalt kognitiver Prozesse zu erfassen, da es sowohl die Möglichkeit von graduellen als auch relationale Eigenschaften als auch wechselseitigen Einfluss ausschließt.
Kombination von Eigenschaften
Eine genauere Analyse der Eigenschaften, die zur Charakterisierung kognitiver Prozesse im Hinblick auf Two-System Ansätze verwendet werden, zeigt, dass hier nicht nur dichotomische Eigenschaften vorgeschlagen werden, sondern auch eine Alles-oder-nichts Relation zwischen den verschiedenen Eigenschaften angenommen wird. Das heißt, es wird behauptet, dass vom Vorliegen einer Eigenschaft auf andere Eigenschaften geschlossen werden kann. Empirische Forschungsergebnisse zeigen jedoch, dass in der stillschweigend angenommenen Gruppierung von Eigenschaften keine Notwendigkeit besteht.
So ist Automatizität eines der Hauptmerkmale des minimal Mindreadings, das mit weiteren System one Eigenschaften wie z.B. unbewusst, unbeabsichtigt, effizient und unkontrollierbar einhergehen soll. Aber Prozesse können gleichzeitig bewusst und unkontrollierbar sein, oder unbeabsichtigt, aber dennoch kontrollierbar (Gawronski et al. 2014). Da man in der Diversität der kognitiven Prozesse unterschiedliche Kombinationen von Merkmalen finden kann, können sie sozusagen in einem Sinn automatisch und in einem anderen Sinn nicht-automatisch sein. Für eine klare Charakterisierung von minimal Mindreading wäre es also notwendig, festzulegen, in welchem Sinne minimal Mindreading automatisch sind.
Einflüsse von minimal Mindreading auf full-fledged Mindreading
Nach der Kritik an dem dichotomischen Verständnis bei der Unterscheidung der beiden Formen von Mindreading stellt sich nun die Frage, inwiefern es haltbar ist, die These zu vertreten, dass minimal Mindreading informationstechnisch eingekapselt sei und somit Prozesse des expliziten Mindreadings nicht beeinflussen kann. Anhand einiger praktischer Beispiele diskutiere ich abschließend, inwiefern man für eine mögliche Beeinflussung argumentieren kann.
Referenzen
Butterfill, S. & Apperly, I. (2013): How to construct a minimal theory of mind. Mind and Language, 28(5), 606–637, doi:10.1111/mila.12036.
Gawronski, Bertram, Sherman, Jeffrey W. & Trope, Yaacov (2014): Two of What? A Conceptual Analysis of Dual‑Process Theories. In: D. Albarracín & B. T. Johnson (Eds.). The handbook of attitudes (2nd edition). New York: Taylor & Francis.
Kahneman, D. (2011): Thinking, fast and slow. New York: Farrar, Straus and Giroux.
Wimmer, H. & Perner, J. (1983): Beliefs about beliefs: Representation and constraining function of wrong beliefs in young children's understanding of deception. Cognition, 13, 103–128, doi:10.1016/0010-0277(83)90004-5.
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Dr. Anna Strasser (Jahrgang 1970), Studium von Mathematik, Informatik (Künstliche Intelligenz), Vergleichende Literaturwissenschaft, Kognitionswissenschaften und schwerpunktmäßig Philosophie. Nach diversen Postdoc-Stellen in Freiburg und Berlin jetzt freischaffende Philosophin in Berlin. Ich verstehe mich als eine empirisch informierte Philosophin mit einem besonderen Interesse an sozialer Kognition mit einem besonderen Fokus auf die Schnittstellen zwischen Philosophie und Entwicklungspsychologie / Künstlicher Intelligenz / Tierkognition
Webesite: https://sites.google.com/site/annakatharinastrasser