Selbstbestimmung, Staat und Anarchie (Wolfgang Sohst)
Datum: 21.03.2022 (20:00:00–22:00:00)
Ort: Online-Veranstaltung via Zoom
Hier geschah Unerhörtes, in der Tat
Die beiden britischen Anthropologen David Graeber und David Wengrow veröffentlichten kürzlich ein viel beachtetes Buch, in dem sie mit dem Standarnarrativ der Menschheitsentwicklung aufräumen, wie es bis heute von Autoren Yuval Harari oder Jared Diamond sehr erfolgreich vermarktet wird. Dieses Narrativ wurde vor ca. 250 Jahren erfunden und läuft darauf hinaus, dass die Europäer mit der Aufklärung als erste die moderne Demokratie entdeckten und sie auch prompt einführten. Deswegen sei Europa die Spitze der politischen Selbstbestimmung. Leider ist an dieser Geschichte wenig wahr. Tatsächlich wurden schon seit Beginn des Kolonialismus im frühen 16. Jahrhundert praktisch sämtliche Dokumente vor der Öffentlichkeit verborgen, die ein anderes Bild der "Wilden" zeichnen, als es dieser Geschichte zugrundeliegt.
Die notwendige Korrektur beginnt bereits bei der Neubewertung archäologischer Funde aus der mittleren Steinzeit. Sie erreicht ihren Höhepunkt, wenn es um die komplette Ausblendung des europäischen Kolonialismus seit dem 16. Jahrhundert in der europäischen Selbstbeschreibung noch bis in die 1970erJahre geht. Und schließlich zeigen Graeber und Wengrow, dass die französische Aufklärung, sofern sie sich nicht gegen den eigenen Adel und Klerus richtete, keineswegs von den französischen Enzyklopädisten, Voltaire, Montesquieu etc. inspiriert war, sondern vielmehr von den "bestürzenden" Berichten aus Nordamerika, deren zahlreiche Gesellschaften intellektuell und politisch die europäischen Gesandten keineswegs bewunderten, sondern explizit verachteten, weil sie das "moderne" euorpäische Menschenbild schlicht unmenschlich fanden. Erst diese Auseinandersetzung mit den zu "noblen Wilden" erklärten Bewohnern Nordamerikas regte nachweislich die florierenden Pariser Salons an, intensiv über Gleichheit und Gerechtigkeit zu diskutieren, und erst diese Diskussionen führten zur Menschenrechtserklärung der Revolution von 1789.
Wolfgang Sohst berichtet über die Ergebnisse dieses Buches und weitere jüngere Veröffentlichungen zu diesem Thema.
Der Vortrag wurde aufgezeichnet und kann hier auf YouTube nachgehört werden.
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Zum Vortragenden:
Wolfgang Sohst ist freischaffender Philosoph und Gründer des wissenschaftlichen xenomoi Verlages, Berlin, sowie seit 2007 der Organisator des MoMo Philosophischen Arbeitskreises. Seine Forschungs- und Veröffentlichungsschwerpunkte liegen auf dem Gebiet der rationalen Metaphysik, der Logik und der Sozialphilosophie.