Die zwei Wege der Philosophie.
Datum: 29.03.2009
Ort: (Diese Veranstaltung fand in privaten Räumen eines MoMo-Mitglieds statt.)
Vortragender: Lars Schuster
Bereits seit geraumer Zeit erhebt sich die Klage über den Niedergang der philosophisch-intellektuellen Geisteskultur in Deutschland. Gegenwärtig sei ein »Niedergang der Vernunft« (J. Jung, 1997) zu beobachten, wenn nicht gar ihre »Zerstörung« (G. Lukács, bereits 1953), zumindest aber ist von einer »Krise der Vernunft« die Rede, die für die »Krise der Gegenwart« (V. Hösle, 1990) verantwortlich sei. »Danken die Denker ab?«, fragte 1995 die Zeitschrift Information Philosophie (4/1995), und mehr als zehn Jahre später konstatiert der Spiegel: »Deutschland, keine Denker« (42/2008).
Die Gründe dieser Krise, an deren Realität kein Zweifel mehr bestehen kann, sind mannigfaltig: der sich nach Ende des Zweiten Weltkriegs vollziehende kulturelle Wandel innerhalb der demokratisch-konsumistischen Gesellschaft trägt zu ihr ebenso bei wie die rasant wachsende Spezialisierung und Ausdifferenzierung der Natur-, Technik- und auch Sozialwissenschaften. Die Synthese und Reflexion der wissenschaftlichen Ergebnisse stellte für eine lange Zeit eines der Kernziele philosophischen Denkens dar, das nun durch die Fülle von Erkenntnissen und Theorien an den Rand der Kapitulation gedrängt wird. Darüber hinaus erschwert oft das Fehlen hinreichender fachlicher Kompetenz, die zur adäquaten Bewertung wissenschaftlicher Erkenntnisse notwendig ist, jede Art von substanzieller Annäherung. Damit entgleitet der Philosophie zusehends ein zentraler Zugang zur außerphilosophischen Welt, was zu einem Rückzug auf den philosophischen Kernbestand führt: Eine zunehmende Scholastifizierung ist die Folge. Die damit einhergehende disziplinäre Ausdifferenzierung verstärkt die Sprach- und Ratlosigkeit, mit der Mitglieder der philosophischen Institute zusehends voreinander stehen, sofern sie sich nicht ohnehin, gezeichnet durch Intrigen und geistige Provinzialität, in verfeindeten Lagern verschanzen.
Ein nicht minder wesentliches, dennoch aber wenig beachtetes Moment für die Krise der Philosophie stellt das außeruniversitäre Milieu dar, das einerseits durch den oben bereits angeführten gesellschaftlichen Wandel, aber ebenso und in vielleicht noch weitaus stärkerem Maße durch den vorangehenden nationalsozialistischen intellektuellen Kahlschlag während des Dritten Reichs in seinem Kern verödet wurde. Ein Blick auf die Philosophiegeschichte der Neuzeit seit dem 15. Jahrhundert zeigt, dass zwar mit Kant, Fichte, Schelling und Hegel einerseits und Heidegger, Horkheimer und Adorno andererseits bedeutende Philosophen an den Universitäten angestellt waren. Doch übersteigt die Zahl der prägenden Denker, die aus den unterschiedlichsten Gründen nicht in den universitären Gelehrtenstand eintraten, bei weitem die Zahl der über ihre Zeit hinaus relevanten Vertreter der Universitätsphilosophie. Von Montaigne, Bacon, Descartes, Spinoza und Leibniz über Schopenhauer, Feuerbach, Kierkegaard und Nietzsche bis zu Benjamin, Bataille, Anders und Camus – um nur eine Auswahl zu nennen – reicht die lange Liste von außeruniversitären Philosophen, die jedoch in der Mitte des 20. Jahrhunderts ihr Ende findet. Die von ihnen betriebene Philosophie bewirkte stets eine Auffrischung philosophischen Gedankenguts, eine Rückbindung an die Welt, sei es aus wissenschaftlicher, sei es aus lebensweltlicher Perspektive. Mit der Verödung dieses Mileus verlor die Universitätsphilosophie, die heute als die Philosophie schlechthin angesehen wird, ihre wichtigste Inspirationsquelle.
In meinem gegenwärtigen Buchprojekt, das im Rahmen vom MoMo vorgestellt werden soll, plädiere ich für eine Philosophie der zwei Wege, die letztlich doch nur einer sind: die gegenseitige Abhängigkeit von universitärer Lehrphilosophie und außeruniversitärer Welt- und Lebensphilosophie.
Im ersten Teil des Buchs werden dazu die historischen Hintergründe dieser Krise und die historische Stellung der außeruniversitären Philosophie diskutiert. Daran anschließend werden im zweiten Teil prominente außeruniversitäre Philosophen der Neuzeit vorgestellt, und ihre familiäre Herkunft, ihre Ausbildung sowie die jeweiligen Schaffensbedingungen beleuchtet. Im Rahmen des dritten Teils werden schließlich konkrete Vorschläge zur Stärkung der außeruniversitären Philosophie gegeben. Als Ziel wird ein Modell der gegenseitigen Abhängigkeit und Stärkung entwickelt, in dem universitäre und außeruniversitäre Philosophie erneut in einen für beide Seiten fruchtbaren Dialog treten sollen.