Ein neuer Realismus

Der neue Realismus, der so neu gar nicht sein kann
Der neue Realismus, der so neu gar nicht sein kann

In ihrem neuen Buch "Die Wiedergewinnung des Realismus" von Hubert Dreyfus und Charles Taylor geht es um die alte Frage, ob "wir" Menschen eigentlich die Welt so begreifen, wie sie wirklich ist, oder ob wir uns nur irgendein mehr oder weniger zusammengeschustertes Bild von der Welt machen, das mal besser und mal schlechter zur Orientierung taugt, aber am Ende keinerlei Verbindung zu dem hat, was die Welt jenseits unserer Vorstellungen ist.

Taylor und Dreyfus gehen davon aus, dass es gute Gründe gibt davon auszugehen, dass die Welt tatsächlich weitgehend so beschaffen ist wie unsere Vorstellungen von ihr. Sie verorten als ersten und nach wie vor wirksamsten Gegner der gegenteiligen, also antirealistischen Behauptung René Descartes, der bekanntlich eine strikte ontologische Trennung der res extensa, sprich: allem Materiellen, und der res cogitans, also unseren Gedanken, Vorstellungen und Begriffen vom Materiellen, behauptete. Spätere Philosophen, besonders wirkungsmächtig unter ihnen Imanuel Kant, versuchten Descartes zwar zu wiederlegen, griffen die Grundthese der Trennung von Innen- und Außenwelt aber nicht an, sondern zementierten sie im Gegenteil noch.

Taylor und Dreyfus lehnen auch zeitgenössische amerikanische Philosophen wie Richard Rorty und Donald Davidson, die eigentlich ebenfalls gegen die Trennung von Innen und Außen eintreten, als inkonsequent ab. Sie berufen sich stattdessen auf Heidegger und Merleau-Ponty, aktuell auch auf Samuel Todes. Ihre eigene Strategie zur Begründung eines plausibleren Realismus ist mehrstufig:

  1. Die unmittelbare, rein praktische Integration des Menschen in seiner Welt sei primär eine vorsprachliche. Sie sei also nicht etwa erfolgreich, weil innere Bilder der Außenwelt sich als wahr (oder unwahr) erweisen, sondern weil unser alltägliches, unmittelbar körperliches Verhalten ständig zeige, ob wir im Einklang mit der Gesamtwirklichkeit handeln, von der wir ein Teil sind, oder nicht.
  2. Die darüber hinausgehende Begriffsbildung über die Welt baue auf dieser primären, körperlich-praktischen Erfahrung auf und könne sich nur in sehr begründeten Fällen über diese Erfahrung hinwegsetzen. Sie erlaube mit ihren logischen Schlüssen allerdings auch Feststellungen über die Welt, die nicht mehr unmittelbar sinnlich verifiziert sind. Deren Plausibilität gewinne sie aus der Kombination abgeleiteter Sinneserfahrungen, z.B. dem Ablesen von Messgeräten oder den Bildern aus technischen Geräten, die ihrerseits übereinstimmende Aussagen über die "objektive" Welt zulassen müssen, wenn die dadurch vermittelte Information glaubhaft sein soll.
  3. Daraus leiten Dreyfus und Taylor allerdings keineswegs ab, dass alle Kulturen, die bestimmte Dinge und Verhältnisse der objektiven Welt grundsätzlich anders auffassen als die abendländisch-westliche Kultur, mit ihren Ansichten schlicht als falsch abzuqualifizieren seien. Vielmehr gebe es unterschiedliche, vor allem praktisch begründete Perspektiven auf die Wirklichkeit, die durchaus ein Nebeneinander mehrerer Beschreibungen der Wirklichkeit erlaube, die nicht übereinstimmen - dies allerdings unter der Einschränkung, dass ein solches Nebeneinander nur so lange akzeptabel ist, wie die betreffenden Aussagen nicht in direktem Widerspruch zueinander stehen.

Der Beitrag von Taylor und Dreyfus ist nicht nur gut nachvollziehbar, sondern wird auch stilistisch überwiegend gut vorgetragen. Lediglich in der Mitte des 316 Seiten starken Buches verlieren sich die Autoren manchmal seitenweise in polemischen Auseinandersetzungen mit den im Grunde verwandten Positionen Rortys und Davidsons. Diese Partien hätten deutlich nüchterner und auch kürzer dargestellt werden können; so entsteht manchmal der Eindruck intellektueller Eitelkeit der Autoren, den ihre im Ganzen vorgetragene Position überhaupt nicht verdient.

Abgesehen von dieser Schwäche ist der besagte Beitrag aber sehr lesenswert, insbesondere auch im Hinblick auf die Toleranz gegenüber anderen Kulturen und ihrem Verhältnis zur Welt, wie es im letzten Kapitel entwickelt wird. Realismus muss keine Rechthaberei sein. Das zeigen Taylor und Dreyfus auf vorbildliche Weise. (ws)

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