Vernunft als Methode, nicht als Vorschrift
Es dürfte nur wenige Worte geben, die eine größere Bedeutung für das westliche Selbstverständnis haben wie 'Vernunft', auch wenn das Wort selbst im Alltag gar nicht so häufig gebraucht wird. Wir kennen den Ausdruck bereits aus unser aller Kindheit, wo die Eltern und Lehrer uns anhielten, doch bitte zur Vernunft zu kommen. Und wenn heute Politiker oder andere Menschen, die öffentlich auftreten, ihr Auditorium mit dem Argument beglücken, ihr Vorschlag sei im Gegensatz zu allen übrigen einfach vernünftig, so breitet sich nüchterner Ernst aus, zurückhaltend, ohne Witz - eben ultimativ vernünftig.
Zunächst mal Kant
Zu Recht, wie ich meine. Die Vernunft hat immer noch ein sehr gutes Image, weil wir mit ihr das Gegenteil von Exzess verbinden - Extremisten sind per se unvernünftig. Das wusste schon Aristoteles, und mit der Aufklärung verlieh der Engel der Vernunft, endlich von Gott erlöst, dem gesamten intellektuellen Europa mächtig tragende Flügel. In dieser Zeit stieg auch einer der wirkunsvollsten Repräsentanten philosophischer Vernunft, Immanuel Kant, zu formidabler Berühmtheit auf. In seiner "Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" erklärte er dem staunenden Publikum, dass der Mensch nicht seiner biologisch-triebhaften Natur zu folgen habe, sondern erst dann frei sei von deren launischer und tendenziell asozialer Fremdherrschaft, wenn er sie durch die Vernunft in die Schranken weise. Näherhin sei vernünftig nur das, was man als Verhaltensvorschrift allgemein verkünden könne, ohne dass die Gesellschaft Schaden nehme, oder noch besser: wodurch sie gedeihe. Er ging mit dieser Idee in die Geschichte als der Erfinder des Kategorischen Imperativs ein - ein Produkttitel, der so umständlich klingt, dass er schlechterdings nur vernünftig sein kann.
Inhaltlich bleibt uns Immanuel Kant allerdings nähere Erklärungen schuldig, welches Verhalten denn nun im konkreten Fall seiner Forderung genügen würde. Lediglich formal konnten man sich darauf einigen, dass ein ethisch vernünftiger Mensch wohl jemand sei, dessen zahlreiche Verhaltensmaximen ein weitgehend konsistentes Ganzes bilden (so beispielsweise Christine Korsgaard in "Self-Constitution", Oxford University Press 2009). Das ist allerdings ein dürres Ergebnis, denn konsistente Persönlichkeiten können durchaus sehr böse sein, beispielsweise konsistent egoistisch, grausam, despotisch und menschenverachtend. Es fehlt auch der heutigen Welt nicht an politischen Machthabern sogar sehr großer Staaten, die man aus dieser Perspektive wohl ziemlich unfreiwillig als - Max Weber würde sagen: instrumentell - vernünftig bezeichnen müsste.
Da kann doch was nicht stimmen.
Hiergegen, d.h. gegen die Anerkennung von Willkürmenschen als vernünftig, hilft leider auch nicht der Einwand, dass deren Verhaltensmaximen den kategorischen Imperativ nicht erfüllen. Dieser Trumpf zieht nicht. Denn jedes Gemeinwesen kennt unterschiedliche Regeln für unterschiedliche gesellschaftliche Rollen. So werden der Despot und seine gläubigen Schafe auf diesen Einwand ungerührt erwidern, dass ihre Gesellschaft ohne die strenge Hand ihres autoritären Führers glattweg ins Chaos stürzen würde. Und schon stehen wir da wir die Dummchen mit unserer kantischen Vernunft, nichts mehr in den Händen.
Doch in der Tat, da stimmt etwas nicht. Der kapitale Fehler des kantischen Vernunftbegriffs ist seine vollständige Abstraktion von aller kommunikativen Praxis. Hiergegen gibt es allerdings Abhilfe in Gestalt einer Alternative, die wesentlich besser ist als das kantische Rezept, weil deutlich realistischer. Jürgen Mittelstrass hat, von der Öffentlichkeit seinerzeit weitgehend unbemerkt, bereits in seiner Habilitationsschrift von 1969 (erschienen unter dem Titel: "Neuzeit und Aufklärung. Studien zur Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft und Philosophie", Walter de Gruyter 1970) die Vernunft ganz anders definiert, und Jürgen Habermas hat sich ihm später darin wortgewaltig in seiner "Theorie des kommunikativen Handelns" angeschlossen - ohne ihn allerdings auch nur zu erwähnen. Vernunft ist Mittelstrass zufolge ein bestimmtes Kommunikationsverhalten, dass zwei hervorstechende Merkmale zeigt, ein positives und ein negatives:
a) Positiv äußert sich Vernunft in dem Willen (und der Pflicht) zur Begründung der je eigenen Auffassungen und Handlungsabsichten.
b) Negativ ist im vernünftigen Begründungsdiskurs die Berufung auf Tradition und schlichte Sitte grundsätzlich ungültig.
Vernunft ist also, kurz gesagt, begründetes Verhalten, wobei die Begründung nicht auf individuelle oder kollektive Gewohnheit rekurrieren darf. Ich nenne diese Konzeption der Vernunft die "Mittelstrass'sche Formel".
Das klingt gut: Vernunft ist plötzlich kein Bündel kompatibler und gemeinnütziger Vorschriften mehr, sondern das Ergebnis eines kollektiven Überzeugungsprozesses. Allerding: It comes with a cost, wie man im englischsprachigen Raum sagt. Denn eine solcherart ermittelte Vernunft ist immer provisorisch, kann jederzeit angefochten werden, verlangt dann nach neuen Begründungen. Es kann manchmal ziemlich anstrengend sein und lange dauern, bis wieder ein halbwegs stabiler, weil vernünftiger Konsens gefunden ist. Aber diese Nachteile wiegen gering im Vergleich zu den Vorteilen des Verfahrens. Es sorgt nämlich noch am ehesten für das, was wir als gesellschaftlichen Lernprozess bezeichnen können. Und das Beste ist: Hier hat der Despot keine Chance auf Anerkennung, nur weil er sich konsistent autoritär und willkürlich verhält. Selbst der kategorische Imperativ ist nach der Mittelstrass'schen Formel keineswegs ausgehebelt. Im Gegenteil, er erhält dadurch überhaupt erst eine reelle Chance auf seine Verwirklichung. Denn wie soll das gerechte, weil gemeinnützige Gesetz anders zustande kommen als durch einen Begründungsdiskurs unterschiedlicher Auffasssungen zum jeweiligen Problem?
Vernunft ist also...
Was also ist nun die Vernunft? Sie ist jedenfalls nichts Festes, Kompaktes, kein Gesetzbuch, keine Konvolut konsistenter Verhaltensregeln, schon gar nicht der Ausfluss irgendeines subjektiven guten Willens, wie Kant ebenfalls meinte. Vielmehr ist Vernunft... nun, sagen wir: eine Geduldsübung im Wettbewerb der Auffassungen, deren Fairness dadurch gewährleistet ist, dass sich niemand mit seinen Begründungen auf den Pfründen irgendeines "Wir haben das doch immer schon so gemacht" ausruhen kann. Der Mittelstrass'sche Vernunftbegriff ist im Übrigen auch ganz von selbst gemeinnutzenorientiert, ohne in die utilitaristische Zwickmühle zu geraten, die sich auftut, wenn man fragt, wie man eigentlich vom individuellen zum kollektiven Eigennutz kommen soll. Das alles regelt der vernünftige Diskurs von selbst. Die Mittelstrass'sche Formel ist auch nichts für soziale Faulpelze, die ihr Verhalten am liebsten dadurch rechtfertigen, dass sie auf andere zeigen, die es angeblich genauso machen. Machen sie gar nicht. Gilt nicht mehr.
Wenn wir also von einer demokratischen Gesinnung und den aus ihr folgenden Prozessen reden, können wir uns auch gegenüber hartnäckig autoritätsgläubigen Menschen ruhig auf die Kraft dieses nüchternen Begriffs der Vernunft verlassen. Gewaltverherrlichung, auch in ihren subtilen Formen, ist niemals vernünftig. Zu Risiken und Nebenwirkungen dieser gesellschaftlichen Medizin bedarf es nicht einmal einer Packungsbeilage. (ws)
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