Lebensziele
Sie können so verschieden ausfallen wie die Menschen, die sie haben. Viele Menschen haben auch gar keines. Entweder bedrängt sie die Not ihres Alltags so sehr, dass für den Luxus eines Gedankens an ein Lebensziel keine Zeit bleibt. Oder sie brauchen tatsächlich keines, weil sie sich ohne so etwas einfach wohler fühlen. Andererseits ist der Ausdruck 'Lebensziel' sogar in der Umgangssprache geläufig, die Sache scheint also verbreitet zu sein. Wir alle wissen, was damit gemeint ist, halbwegs jedenfalls. Oder... ist es vielleicht ein Ausdruck psychischer Not, sich über so etwas überhaupt Gedanken zu machen? Sigmund Freud äußerte einmal diesen Verdacht.
Zwischen Größenwahn und Lächerlichkeit
Womöglich. Häufig hat es allerdings eher etwas Ernstes, gar Feierliches, wenn eine erwachsene Person über ihr(e) Lebensziel(e) redet. Fällt ein solches Ziel jedoch zu 'flach' aus, kann die Feierlichkeit auch schnell einem anhaltenden Stirnrunzeln weichen. Deklariert ein Mann beispielsweise zum Ziel seines Lebens, ein superteures Auto zu fahren und möglichst viele andere Menschen zu beherrschen, dürfte dies ebenso auf Zurückhaltung stoßen wie das Bekenntnis einer Frau, wie Barbie ausschauen zu wollen und von einem Weißen Ritter geheiratet zu werden. Unter Lebenszielen stellen wir uns etwas anderes vor. Aber was?
Lebensziele scheinen etwas mit (englisch) passions, zu deutsch: mit Leidenschaften zu tun zu haben. Schwere Anerkennungsdefizite sind aber keine Leidenschaft, sondern tatsächlich Ausdruck psychischer Not. Damit hätten wir schon einmal den ersten Punkt geklärt; offenbar geht es um etwas anderes. Leidenschaften sind auch nicht dasselbe wie Lebensziele. Man kann beispielsweise sehr leidenschaftlich an den Herrn Jesus glauben und dafür sogar in ein Kloster ziehen. Ein Lebensziel ist für solche Personen dadurch allerdings nur sehr vage definiert, vielleicht als die Bereitschaft, das gesamte eigene Leben dem Streben nach Erfüllung religiöser Heilsversprechen zu widmen.
Diese Art von Lebenszielen ist schon seit langem aus der Mode gekommen, genauso wie jene andere, heldische Form, wo es um das Sterben für das Vaterland und ähnlich morbide Sehnsüchte geht. Die verbleibenden, gesellschaftlich tatsächlich hoch geschätzten Lebensziele findet man heute eher im Bereich der Naturwissenschaften, der Kunst und des humanitären Engagements. Unter Nobelpreisträger*innen der Physik und der Chemie stellt man sich beispielsweise Leute vor, die 'wirklich' leidenschaftlich für ihre Sache arbeiteten. Ähnliches gesteht man erfolgreichen Künstlern oder Menschen zu, die sich lebenslang für die Linderung der Not anderer Menschen einsetzen. Politiker kommen leider nur selten in den Genuss dieser Anerkennung, teilweise selbstverschuldet, teilweise nicht.
Können nur 'die Großen' Lebensziele haben?
Hm... was bleibt da für uns, die wir keine celebrities und keine Milliardäre sind? Ist unser Leben zur Bedeutungslosigkeit verdammt, die wir nur dadurch übertünchen können, dass wir ständig durch Social Media, Fernsehen, Drogen und jede Menge anderweitig unsinnigen Konsums einfach keine Zeit dafür haben, uns mit der absoluten Unwichtigkeit unseres Daseins auf dieser Welt zu befassen? Und ist der einzige Ausweg aus dieser Misere womöglich doch wieder der reumütige Gang in die Kirche, wo wir jeden Sonntag ins moralinsaure Faß nicht endender Bibelexegese tauchen dürfen? Bitte nicht.
Um hier vorwärts zu kommen, sollten zunächst zwei Grenzpflöcke eingeschlagen werden: Lebensziele sollten (a) nicht unerreichbar hoch gesteckt sein, wenn sie zur Motivation und Orientierung in unserem Leben taugen sollen, und sie sollten (b) auch nicht an ranziges Heldentum und andere Formen der Sucht nach sozialer Anerkennung gekoppelt werden. Aber auch (c) die blanke, leider statistisch vollkommen irreale Hoffnung auf den ganz großen Lottogewinn und ähnliche Flachheiten müssen wohl von der Liste der tauglichen Lebensziele für jedermann gestrichen werden. Ok, und dann ist da noch die Frage: Warum sich überhaupt einem Lebensziel verschreiben? Geht's nicht auch ohne?
Klar, es geht auch ohne. Das könnte allerdings zu einer Autofahrt ohne Anschnallgurte werden. Lange geht's gut. Aber plötzlich rasen wir auf ein wirklich starkes Hindernis zu, z.B. den Verlust einer geliebten Person, die schwere Krankheit, einen Unfall, den Firmenbankrott und viele andere Arten des persönlichen Ruins. Dann können diejenigen, die ein taugliches Lebensziel ihr eigen nennen, dieses wie ein As aus dem Ärmel ziehen und sagen: "So what, shit happens", sich den Staub vom Ärmel klopfen und neu beginnen. Ja: Neu. Das ist überhaupt das Zauberwort. Wer neu beginnen will, muss wohl wissen, warum. Eine solche Person muss nicht nur Lebensmut haben, sondern vielleicht auch wissen, so provisorisch dies auch immer ausfallen mag, wozu man seinen Mut überhaupt aufbringen soll. Damit kommen wir zu einer weiteren Möglichkeit, auch als Alltagsmensch seine Leidenschaften kultivieren zu können. Es muss nicht gleich für die Ewigkeit sein, was wir uns einmal als Lebensziel ausdenken. Und es dürfen sogar mehrere zugleich sein. Wenn wir einmal so weit gekommen sind, braucht man auch nicht mehr über eine allgemeine Liste tauglicher Lebensziele nachzudenken. Entsprechende Ideen stellen sich nämlich ganz von selbst ein, wenn man erst einmal darüber nachzudenken beginnt. Und das macht sogar Spaß.
Der besondere Genuss, nach dem Sinn zu fragen
Es geht also um eine Umkehrung des eingangs geäußerten Verdachts. Die Arbeit an den eigenen Lebenszielen muss kein Ausdruck von Not sein, sondern kann im Gegenteil die Kultivierung der Lebensfreude selbst sein, und zwar durch Wahl eines selbstgewählten Weges, der - vielleicht, vielleicht? - sogar am Ende ein ersehntes Ziel erreicht. Das ist aber gar nicht so wichtig, meine ich. Erst einmal müssen wir den Weg bestimmen, das Ziel ergibt sich dann von ganz alleine und muss obendrein sicher noch mehrfach korrigiert werden, je weiter wir auf unserem Weg voranschreiten.
Vergessen wir also Heideggers "Sein zum Tode", von dem er in Sein und Zeit vor sich hin redet. Vergessen wir auch all die weltanschaulichen und religiösen Narren, die den Boden dieser Welt schon lange verlassen zu haben scheinen und von irgendeinem Heldentum hier oder im Jenseits schwärmen. Gehen wir die Sache lieber nüchtern und von vornherein mit einer anderen Art von Spaß an, nämlich dem Genuss, sich endlich und wirklich in den Besitz unseres eigenen Lebensweges zu setzen. Schon das Nachdenken darüber ist wie ein Schluck Champagner.
Nebenbei, die ganze Welt redet vom Konsumverzicht als Voraussetzung der Rettung unserer Biosphäre. Ich vermute allerdings: Wer Ernst machen will mit dem Konsumverzicht, ohne einfach nur zum Asketen werden zu wollen, der braucht Lebensziele. Denn sonst tut sich hinter dem sich öffnenden, zerschlissenen Vorhang des Konsums nur eine leere Bühne auf. Und wer mag sich schon eingestehen, eine Eintrittskarte für ein Theater gekauft zu haben, in dem gar nichts gespielt wird? Lasst uns ein neues Stück entwerfen, ein Schauspiel, in dem wir selbst die Akteure und unsere eigenen Zuschauer sind, natürlich neben unseren Zeitgenossen. Die laden wir selbstverständlich auch ein. (ws)