Kollektive Identität
Was Amartya Sen nicht verstanden hat
Der weltbekannte indische Wirtschaftswissenschaftler und Philosoph Amartya Sen kritisiert in seinem Buch "Die Identitätsfalle: Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt" (dtv Verlagsgesellschaft, 2010) die üblichen Identitätszuweisungen zu einzelnen Menschen z.B. als Moslems, Christen, Amerikaner, Deutsche etc. Er sagt, sie seien viel zu grob und meint ferner, hieraus resultierten schwere Konflikte, insbesondere wenn solche Zuweisungen von interessierter Seite in unlauterer Absicht missbraucht werden. Amartya Sen möchte uns helfen, indem er uns aufklärt, dass jeder Mensch in Wirklichkeit viele Identitäten gleichzeitig pflege und jegliche Reduktion auf nur eine dieser Teilidentitäten eine Art sozialer Vergewaltigung sei.
Gute Absicht, falscher Weg
Doch seine Analyse ist leider falsch, so gut seine Absichten auch immer sein mögen. Und sie ist untauglich, was die Lösung des von ihm angesprochenen Problems angeht. Unbestreitbar ist freilich, dass alle Menschen in unterschiedlichen Lebenszusammenhängen ständig mehrere oder sogar viele soziale Identitäten pflegen. Von der Nationalität über eine ethnische Zugehörigkeit, das religiöse Bekenntnis, den Beruf, das Geschlecht bis hin zu den Hobbies einer Person 'ist' jede Person unübersehbar vieles gleichzeitig. Das bestreitet niemand, auch nicht der Aggressor, der beispielsweise einen anderen Menschen nur wegen seiner Religionszugehörigkeit oder seiner sexuellen Orientierung angreift. Weder haben die Nazis bestritten, dass die von ihnen verfolgten Juden oder Homosexuellen in diesem Sinne sicherlich noch weitere Identitäten haben, noch würden die Hutu vor und während des Völkermords in Ruanda an den Tutsi im Jahre 1994 auf Nachfrage bestritten haben, dass jeder einzelne Tutsi auch noch etwas anderes als nur Tutsi-Angehöriger ist. Darum geht es in solchen Konflikten offenbar überhaupt nicht.
Wie falsch Sens Analyse ist, sieht man besonders deutlich, wenn man sein implizites Bewertungsschema umdreht (was methodisch als 'Gegenprobe' regelmäßig zu empfehlen ist): Man kann nämlich nicht einmal behaupten, dass die Behandlung eines Menschen im Hinblick auf eine bestimmte seiner vielen Identitäten immer ungerecht und folglich zu vermeiden sei (was Amartya Sen indirekt unterstellt): Wenn ich als Deutscher von einer Reise zurückkehre und an der EU-Außengrenze nur auf meine Staatsbürgerschaft hin kontrolliert werde, ist das vollkommen in Ordnung. Wir wären zu Recht empört, wenn man unsere Einreise z.B. auch von unserer sexuellen Orientierung, Religionszugehörigkeit oder anderen Merkmalen abhängig machte. Denn wir empfinden es als unbegründet, wenn jemand auf einzelne unserer Identitätsmerkmale in in einer Situation abstellt, in der diese irrelevant sind. Ein derartiges staatliches Verhalten ist nicht nur in Deutschland gem. Art. 3 GG unzulässig. Aber auch unterhalb des Verhältnisses von Staat und Bürger gilt dies, d.h. auch zwischen einzelnen Menschen. Wir müssen immer zwischen der Ebene des Einzelnen und jener der zusammenfassenden Vielheit unterscheiden, wenn wir mit der Wirklichkeit zurecht kommen wollen. Für beide Arten von Entitäten gelten in vieler Hinsicht unterschiedliche Regeln.
Amartya Sen verwechselt offenbar diese beiden Ebenen. Die Identität des einzelnen Menschen ist sicher ein wichtiger Indikator für seine situationsabhängig kollektive Identität - im Sportverein bin ich Vereinsmitglied, an der EU-Außengrenze bin ich EU-Staatsbürger, bei MoMo bin ich Philosoph etc. Unsere individuell-biographische Identität kann aber nicht unmittelbar auf unsere soziale Identität abgebildet werden. Nicht erst in gesellschaftlichen oder gar internationalen Großkonflikten ist es vollkommen unerheblich, welche zahlreichen Identitäten jedes einzelne betroffene Mitglied der Konfliktgruppen hat. Es wird dort vielmehr notwendig auf ganz wenige, für den konkreten Fall entscheidende Identitätsmerkmale abgestellt. Die kollektive Funktionsebene menschlicher Sozialität folgt anderen Regeln als die individuelle, weil sie sonst dysfunktional würde. Dies gilt keineswegs erst im Konfliktfall. Jede kollektive Situation nivelliert notwendig die bunte Vielfalt individueller Identität ihrer Beteiligten.
Die unter wechselnden Gesichtspunkten ebenfalls wechselnde Zusammenfassung von Individuen zu einem organisierten Kollektiv ist an sich weder gut noch schlecht. Sie ist zunächst schlicht notwendig zur Herstellung jeglicher sozialer Ordnung. Dies gilt für den guten Gesetzgeber, der im Interesse seiner Mandatsgeber handelt, genauso wie für den Despoten und Terroristen. Die anschließende Bewertung, ob eine solche Nivellierung im Einzelfall gut oder schlecht ist, kann das zugrunde liegende Prinzip nicht aufheben.
Es geht besser: Das Diskriminierungsverbot
Dennoch ist Sens Klage allein im Hinblick auf die Opfer kollektiver Diskriminierung natürlich hoch aktuell und sehr berechtigt. Die Frage ist nur, wie man solchen Diskriminierungen wirksam begegnen kann. Hier scheint mir nun der Weg, den viele Verfassungen zumindest der westlichen Welt, so auch Deutschland in Art. 3 des Grundgesetzes, gehen, der viel bessere, weil zielsicherer und auch schon seit Jahrzenten erprobt. Das Gleichheitsgebot sagt nämlich im Kern keineswegs, dass alle Menschen gleich seien. Es schreibt lediglich zwingend vor, dass im Verhältnis eines Bürgers zum Staat niemand wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen etc. benachteiligt oder bevorzugt werden darf. Dennoch darf eine dieser Identitäten im konkreten Fall durchaus das bestimmende Merkmal einer Rechtsfolge sein - nur eben nicht diskriminierend.
Es geht also um die universale Geltung eines individuellen Diskriminierungsverbots und nicht - wie Amartya Sen meint - um die Anerkennung der multiplen Identität von Menschen. Indem wir das Problem damit vom Kopf auf die Füße stellen (um das berühmte Diktum von Marx zu bemühen), zeichnet sich auch der institutionell sehr nüchterne Weg ab, wie ein solches Diskriminierungsverbot durchzusetzen ist, nämlich nur auf supranational-institutioneller Ebene. Das ist ein mühsamer Weg, zugegeben. Es ist aber der einzige, der letztlich Erfolg verspricht. Den einzelnen Hooligan, Rassisten, religionsfaschistischen Gewalttäter etc. werden wir weder durch Amartya Sens gutes Zureden, noch durch irgendwelche formalen Regeln zur Raison bringen. Das ist klar. Wenn aber tatsächlich von immer größeren Kreisen, insbesondere den Staaten der Welt, das besagte Diskriminierungsverbot anerkannt und auch durchgesetzt würde, wäre vielen von uns schon sehr geholfen. (ws)
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