Kollektive Aggression

 

Kollektive Aggression / Collective violence

Empörung kann berechtigt sein. Sehr häufig wird sie allerdings missbraucht.

Die Vereinigung von Menschen zu größeren Einheiten kann sehr unterschiedliche Formen annehmen, und so auch die Aggressionen, die von solchen Einheiten ausgehen. Die Einheit eines Unternehmens besteht beispielsweise aus seinen Aktionären, seinen Mitarbeiter*innn und Führungskräften. Sie ist sozialontologisch etwas anderes als die Gruppe der Staatsbürger eines Staates oder die Mitglieder einer eher zufällig entstandenen Bürgerinitiative.

Im Folgenden soll kurz dargestellt werden, dass in gewisser, wenngleich nicht allzu starker Abhängigkeit von der Form der Einheit von Menschen diese auch zwei grundsätzlich verschiedene Formen kollektiver Aggression ausüben. Ich unterscheide hier zwischen (a) identitärer und (b) possessiver Aggression.

Identitäre Aggression

Bestimmte menschliche Vereinigungsformen erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Mitglieder mit dieser Vereinigung persönlich identifizieren. Andere Vereinigungsformen haben für die Identität der Beteiligten dagegen gar keine oder nur eine sehr geringe Bedeutung. Die Fans eines Fußballclubs oder einer bekannten Musikgruppe dürften sich, diesem Gedanken folgend, wesentlich stärker mit ihrem Club oder ihrer Musikgruppe identifizieren als beispielsweise die Aktionäre irgendeines weltweit operierenden Konzerns. Sozialwissenschaftlich ist schon seit den 1970er Jahren immer wieder intensiv erforscht worden, welche Bedingungen erfült sein müssen, damit Menschen sich mit einer Gruppe identifizieren. Die einhellige Antwort lautet: Es bedarf dazu sehr wenig. Eine besonders starke Identitätsbindung geht insbesondere von ethnischen und religiösen Zugehörigkeiten sowie von der Bürgerschaft eines bestimmten Landes aus. Eine primitive Gruppenidentität kann man aber bereits erzeugen, indem man eine Menge einander vollkommen unbekannter Probanden willkürlich in zwei Gruppen einteilt und die eine "die Blauen" und die anderen "die Roten" nennt. In der Interaktion dieser beiden Gruppen wird man nach kürzester Zeit eine Voreingenommenheit der Mitglieder beider Gruppen für ihre Gruppe und eine Gegnerschaft gegenüber der anderen Gruppe feststellen.

Dringt eine solche Identifikation tief in das existenzielle Selbstverständnis der jeweiligen Gruppe ein, wie dies beispielsweise bei nationalen, ethnischen oder religiösen Kollektiven häufig der Fall ist, so lässt sich eine solche Identität politisch leicht instrumentalisieren. Für eine solche Ausbeutung der Gruppenidentität gibt es viele Gründe, und die Geschichte ist voll von Beispielen hierfür. Fast immer geht es dabei um die Macht und/oder die Bereicherung der jeweils Herrschenden, die zur Durchsetzung ihrer Interessen oder Befestigung ihrer Macht der 'Unterstützung' des Publikums bedürfen. Eine solche Unterstützung nimmt sehr häufig die Form kollektiver Aggression an. Die aufgewiegelten Mitglieder des betreffenden Kollektivs lassen sich dann willig zur Einschüchterung all jener Menschen und anderer Gruppen einspannen, die aus ihrer Sicht nicht zu ihrem Kollektiv gehören, bis hin zum Bürgerkrieg und zum Genozid. Diese Form der kollektiven Aggression bezeichne ich als identitär motiviert, egal, wie oder aus welchen Gründen sie geschürt wird.

Possessive Aggression

Die andere, von mir als possessiv bezeichnete Aggression hat dagegen mit der Identität von Täter- und Opfergruppen typologisch nichts gemein. Zwar hilft zur Beruhigung des eigenen Gewissens der Tätergruppe, wenn sie die Opfergruppe als ‚Andere‘ bezeichnen kann. Die eigentliche Motivation possessiver Aggression ist aber nicht die Beseitigung der ‚Störung‘ einer Gruppe durch räumlich benachbarte oder ideologisch abweichende Gruppen mit anderer Identität, sondern schlicht die Gier auf deren materiellen Besitz.

Ein gutes Bespiel ganz überwiegend possesiver Aggression ist der Austrag der Konkurrenz zwischen großen Wirtschaftsunternehmen. Da solche Unternehmen überwiegend börsennotierte Aktiengesellschaften sind, deren Aktionäre sich kaum kennen und folglich gar keine gemeinsame Identität entwickeln können, fällt auch jede identitäre Aggression von vornherein weg. Es geht solchen Unternehmen ausschließlich darum, Konkurrenten entweder durch eigene Entwicklungsanstrengungen oder durch andere Machenschaften und Geschicklichkeiten ihre Marktanteile wegzunehmen bzw. neue, weniger konkurrente Märkte zu ‚erobern‘. Bereits die Strategie- und Marketingsprache auf der Ebene solcher Unternehmen strotzt von militärischen Ausdrücken: ‚Produktoffensive‘, ‚feindliche Übernahme‘, ‚Eroberung von Märkten‘, ‚Kampf um Marktanteile‘, ‚Preiskampf‘, ‚Wettbewerbsniederlage‘ und ähnliches. Darin zeigt sich ihre inhärent aggressive Motivation.

Das Verhältnis dieser beiden Formen von Aggression

Interessant ist hier, dass beide Aggressionsmotive nicht notwendig der jeweils anderen bedürfen, um sich dennoch voll entfalten zu können. Identitäre Aggression kann durch verlockenden materiellen Gewinn allerdings ermutigt werden und sie deshalb unter Umständen verstärken. So motivierte Hitler beispielweise seinen Angriff auf die Sowjetunion primär ideologisch-rassistisch, d.h. als identitäre ‚Verteidigung‘ gegen die angebliche jüdische Weltverschwörung, die durch den Sowjetkommunismus drohte. Er stellte ergänzend aber auch einen entsprechenden Landgewinn nach Vernichtung und Versklavung der dortigen Bevölkerung in Aussicht. Hier diente die possessive Aggression also als Verstärker einer vorrangig identitären Motivation. Dagegen sind die Eroberungsfeldzüge Napoleons gegen andere europäische Länder bis hin zu seinem katastrophalen Krieg gegen Russland aus materiellen Gewinnmotiven heraus kaum zu verstehen. Vielmehr war Frankreich unmittelbar nach der Französischen Revolution identitär auf so neuen und noch ungefestigten Wegen, dass die Fragilität einer solchen ‚frischen‘ Identität ein besonders hohen Aggressionspotenzial produzierte.

Wiederum das umgekehrte Motivationsverhältnis sehen wir im Bürgerkrieg im Rwanda der 1990er Jahre, wo die Mehrheit der Hutus bis zu fünfundsiebzig Prozent der im Land lebenden Tutsis umbrachten. Hier wurde offensichtlich ein ethnisch-identitären Aggressionsmotiv mit aller Kraft angefacht, um in Wirklichkeit einen Machtkampf um politische Posten und materielle Vorteile auszufechten. Hier stand die possessive Aggression im Mittelpunkt der Ereignisse, auch wenn es zumindest primär nicht um den Raub von Material, sondern von Macht ging. In vielen anderen Konfliktfällen sind die Motivationsanteile wiederum nicht so deutlich zu trennen bzw. halten einander die Waage.

... und was daraus folgen könnte

Unter dieser analytischen Prämisse lassen sich einige bedeutende politische Schlussfolgerungen ziehen. Es folgt daraus vor allem die Notwendigkeit, bei der politischen Behandlung kollektiver Aggression genau zu beachten, aus welcher Motivationskategorie sich die jeweilige Aggression speist. Beide Kategorien, also sowohl die identitäre als auch die possessive Aggression, können wirksam letztlich nur durch Ansprache der Empathie mit den erklärten Opfern der jeweiligen Aggressoren beruhigt werden. Denn nur die Empathie als Einfühlung in die jeweiligen Opfer kann jene Differenz überbrücken, die unabdingbare Voraussetzung für die Ausübung von Aggression ist.

Die identitäre Differenz unterscheidet sich genau darin grundlegend von der possessiven. Wenn einer ethnisch, religiös oder nationalistisch aufgewiegelte Gruppe nahegebracht werden kann, dass die angeblich 'Anderen' in Wirklichkeit dieselben Wünsche, Sorgen und Lebenshoffnungen haben wie die Aggrressoren selbst, schmilzt die Scheinheiligkeit der identitären Differenz nachweislich wie Schneeflocken in der Sonne.

Zur Auflösung possessiver Aggression bedarf eines eines ähnlichen Mittels, wenn auch mit anderem Schwerpunkt. Wenn ein global agierendes Wirtschaftsunternehmen die Bevölkerung und ganze Regionen so genannter 'Billiglohnländer' massive schädigt, werden seine Aktionäre dies nur billigen, wenn ihnen nicht Schicksale vergifteter Kinder, verwüsteter Landstriche und Rolex-tragender Potentaten vor Augen geführt werden. Sicherlich gibt es Menschen, die gegen jede moralische Ansprache vollkommen immun sind. Diese sind aber zu jeder Zeit eine relativ kleine Minderheit gegenüber der großen Anzahl jener, die moralisch oft sogar sehr stark motiviert sind, nicht nur selbst 'gute' Menschen zu sein, sondern sich auch anderen Menschen gegenüber entsprechend zu verhalten.

Überwiegend liegt kollektiven Aggressionen eine Mischung beider Motive vor. In diesem Falle ist es die Aufgabe derjenigen, die einen mäßigenden Einfluss auf die Aggressoren haben (wobei ich hier nicht die Aufwiegler meine, denen politisch gesondert zu begegnen ist, sondern die von ihnen aufgehetzten Personen), ihnen vor Augen zu führen, dass ihre Aggression moralisch nicht zu rechtfertigen ist. Dies kann letztlich nur dann Erfolg haben, wenn man die Täter emotional anspricht und ihnen zeigt, gegen wen sich ihre Aggression überhaupt richtet und was sie tatsächlich bewirkt.

All dies ist keine Neuigkeit. Im Gegenteil, die Drahtzieher kollektiver Aggression drehen den Spieß häufig sogar um, indem sie die Medien mit falschen Bildern über vermeintliche Opfer versorgen, die ihnen bei der Aufhetzung ihres Publikums helfen sollen. Solche Fälschungen sind gesondert zu behandeln. Grundsätzlich ist aber zu unterscheiden, ob Menschen aus rücksichtsloser Bereicherungsgier handeln oder aus identitärer Abwehr anders lebender Menschen. Die Empathie als Basis aller nicht nur dirigistischen Moral dürfte hier das beste Mittel zur Mäßigung des Gewaltpotenzials sein. (ws)

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