Keine Gleichheit im Unrecht

Schon mal in Versuchung geraten?

Keine rechtfertigende Berufung auf das Fehlverhalten anderer

Ein Straßenkrimineller verteidigte sich kürzlich vor Gericht, indem er vortrug: Hätte er den wohlhabenden, betrunkenen Mann neulich abends in jenem berüchtigten Viertel nicht niedergeschlagen und ausgeraubt, so hätten es sicher Gleichgesinnte getan, die ihm nachweislich schon in den folgenden Hauseingängen auflauerten. Warum also auf die ‚Gelegenheit’ verzichten, wenn der Schaden für das Opfer ohnehin gewiss war? Lächerliche Ausrede, werden Sie sagen.

Doch wie steht es mit Ihrem Urteil, wenn z.B. eine deutsche Firma ihre Bestechungs- und Betrugspraktiken im In- und Ausland damit zu rechtfertigen versucht, dass ein solches Verhalten ohnehin branchenüblich sei und dem heimischen Arbeitsmarkt obendrein ca. 100.000 Arbeitsplätze verloren gingen, wenn man hier einen ‚allzu strengen’ Maßstab anlegte? (Tatsächlich versuchte sich vor einigen Jahren Siemens mit diesem Argument zu rechtfertigen.) Überlegen Sie jetzt hin und her? Ich sage nochmals: Lächerliche Ausrede. Viele werden hier aber unsicher, obwohl sie gar nicht bestreiten, dass bestechliches und betrügerisches Verhalten moralisch, d.h. schon vor jeglicher rechtlichen Argumentation, verwerflich ist.

Das ethische Prinzip, demzufolge niemand sein Fehlverhalten damit rechtfertigen kann, dass sich vor ihm auch jemand anderes so verhalten hätte, wird üblicherweise in dem Satz zusammengefasst: „Keine Gleichheit im Unrecht“ (KGiU). Bei dieser Formulierung ist allerdings Vorsicht geboten. Denn das Wort 'Gleichheit' hat dort eigentlich nichts zu suchen. Hier geht es nicht um die Gleichbehandlung von Menschen durch den Staat z.B. im Sinne des Willkürverbots von Art. 3 Grundgesetz. Der Satz KGiU ist eben kein Rechtssatz, sondern Teil der vorgängigen öffentlichen Moral. Er entfaltet seine Wirkung nicht zwischen Individuen, sondern durch Beurteilung individuellen Verhaltens durch die Öffentlichkeit (bzw. durch eine die Öffentlichkeit vertretende Institution).

Die "Goldene Regel" und das Verhältnis beider Sätze

Es gibt wenige Grundsätze des sozialen Zusammenlebens, die weltweit und kulturunabhängig so starke Geltung haben wie der Satz KGiU. Dennoch ist dieser Satz dennoch in keiner aktuellen Rechtsordnung unmittelbar formuliert. Auch das römische Recht weist keine entsprechende Formel auf. Seine fundamentale Bedeutung wird auch erst bei genauerem Hinschauen klar. Nicht nur jegliche Form von Rechtsordnung im formalen Sinne, sondern überhaupt jedes auch nur halbwegs friedliche soziale Zusammenleben von Menschen hängt von seiner Geltung ab. Er ist ebenso fundamental wie sein Zwillingssatz, die so genannte „Goldene Regel“, die ebenfalls in praktisch allen menschlichen Kulturen und zu allen Zeiten galt und gilt. Sie besagt in einfachen Worten: Tue anderen nicht an, was du nicht willst, dass man es dir antut.

Es gibt sozialempirisch und ethnologisch starke Hinweise darauf, dass die Goldene Regel deshalb so universell verbreitet ist, weil das Individuum bei seiner Beachtung und bei ungefährer Kräftegleichheit der Mitglieder seiner Gruppe den auf Dauer größten Nutzen im Mittel aller internen Wettbewerbssituationen erzielt. Damit aber ist die Goldene Regel auch die stärkste psychosoziale Kraft, die überhaupt zur Bildung sozialer Strukturen führt. Denn ihre Befolgung ist sowohl individuell rational geboten als auch ein Garant der Entstehung stabiler Kollektive.

Der Satz KGiU wirkt ähnlich, besser gesagt komplementär zur Goldenen Regel. Während die Goldene Regel aus allen möglichen Verhaltensweisen diejenigen herausfiltert und empfiehlt, deren Erfolgschance deswegen so überdurchschnittlich hoch ist, eben weil ihre Erwiderung so wahrscheinlich ist, filtert der KGiU-Satz diejenigen heraus, die unterlassen werden sollten, um die bestehende soziale Ordnung nicht grundsätzlich in Gefahr zu bringen. Die Goldene Regel wirkt deshalb unmittelbar zwischen Individuen, KGiU nur im Verhältnis von Individuum und Öffentlichkeit. Würde der KGiU-Satz nicht gelten, so hätte die Goldene Regel einen dynamischen Gegner, der im Durchschnitt sehr wahrscheinlich zur Stagnation sozialer Ordnung führen würde: Jegliche Aufbaudynamik dank Goldener Regel würde gebremst durch die Abbaudynamik der Nichtbeachtung von KGiU. Da aber jede normativ basierte und damit spezifisch menschliche soziale Ordnung irgendwann einmal entstanden und gewachsen ist, wäre aufgrund dieses Antagonismus eben wahrscheinlich gar nichts entstanden, so dass alles, was wir menschliche Kultur nennen, schlicht nirgends existierte. Erst beide zusammen, Goldene Regel und der KGiU-Satz, ergeben also die Bedingung der Möglichkeit sozialer Ordnung überhaupt, und zwar von Anfang an und immerfort. Das ist eine sozialontologisch fundamentale Feststellung.

Dies ist also der wesentliche Unterschied zwischen beiden. Während die Goldene Regel jedoch dem Individuum nützt und ihre sozial konstruktive Kraft deshalb ohne jeglichen äußeren Zwang entfaltet, muss die Durchsetzung von KGiU normativ postuliert und mittels kollektivem Zwang durchgesetzt werden. Denn das Individuum soll in den fraglichen Situationen auf einen eigenen Vorteil verzichten, dessen langfristig schwerer Nachteil für die Sozialordnung ihm häufig egal sein dürfte. Die Goldene Regel profitiert also unmittelbar von einer Symmetrie zwischen Anwender und Nutznießer der Regel, während der KGiU-Satz die gefährliche Asymmetrie von individuellem Nutzen und kollektivem Schaden unterdrückt. Kein Wunder also, dass der Mensch Ausflüchte sucht, sobald er mit diesem Satz konfrontiert wird: Er soll ja auf einen Nutzen verzichten, und zwar selbst dann, wenn sich sein Wettbewerber in ähnlichen Situationen bereits rechtswidrige Vorteile verschafft hat. Erst das komplementäre Zwillingspaar von Goldener Regel und KGiU stiftet also die fundamentale, weil psychosozial-dynamische Begründung einer jeglichen Sozialordnung.

Und es lohnt sich doch

Die Tiefe der anthropologischen Verschwisterung dieser beiden Primärsätze wird selten thematisiert. Beide weisen eine begrifflich sehr klare Gestalt auf. Umso deutlicher sollten wir sie uns, eben weil sie in keiner Verfassung und keinem Gesetzt geschrieben stehen, als Teil unserer je eigenen Verhaltensordnung bewusst halten. Im Falle des KGiU-Satzes bedeutet dies – um auf die eingangs genannten Beispiele zurückzukommen –, dass wir allgemein anerkannte Normen, insbesondere wirksam zustande gekommene Gesetze, ohne Ansehung ihrer Beachtung durch Wettbewerber zu erfüllen haben. Für diese Unbequemlichkeit winkt sogar ein gar nicht so schwacher Lohn: Die Goldene Regel lässt sich nämlich auch auf den KGiU-Satz selbst, also auf den eigenen Zwilling, anwenden. Denn wer sich der Goldenen Regel entsprechend verhält und dies öffentlich vertritt, kann mit überwiegender Wahrscheinlichkeit damit rechnen, dass seine Wettbewerber ihm unter dem Druck der Öffentlichkeit schließlich folgen und das unerwünschte Verhalten ebenfalls unterlassen werden.

Was wollen wir mehr? (ws / v2 vom 22.06.2016)

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