Jesus: Die Idee
Zu Beginn: Widersprüche, nichts als Widersprüche
Ich bin Atheist, bete nicht und gehe nie in die Kirche. Die Idee, dass es irgendwo 'im Himmel' eine personale Autorität gibt, die streng darauf achtet, dass wir uns ordentlich benehmen, scheint mir einfach abwegig. Gerade deshalb ist es aber faszinierend zu fragen, wieso über 55% der Weltbevölkerung fest entweder an den christlischen, den islamischen oder den jüdischen Gott glauben. Diese Frage vermag ich bis heute nicht sicher zu beantworten. Wohl aber habe ich als jemand, der in einer Gesellschahft christlicher Prägung aufgewachsen ist, inzwischen eine Vorstellung davon, was eigentlich am Christentum so attraktiv sein könnte.
Zunächst ist das Christentum als Lehre besonders widersprüchlich, viel stärker und offensichtlicher als der Islam und das Judentum. Der Koran ist eher eine Sammlung moralischer Vorschriften für die Lebensführung auf Erden. Die jüdische Gotteslehre handelt zentral vom Autoritätsverhältnis zwischen 'dem Menschen' und seinem jüdischen Gottvater. Das Christentum konfrontiert uns dagegen mit der Zumutung, dass es eigentlich nur einen Gott, den aber dafür gleich dreifach gibt, nämlich als Vater, Sohn und Heiliger Geist. Um die Dinge aber nicht gleich wieder einfach werden zu lassen, hat der Vater seinen Sohn vor ca. zweitausend Jahren angeblich auf die Erde geschickt und dort auch noch am Kreuz exekutieren lassen, um auf diese Weise 'die Menschen' von all ihren Sünden zu erlösen. Das hindert denselben Gott angeblich aber nicht daran, dennoch irgendwann ein Jüngstes Gericht abzuhalten, wo alle nun doch entweder in den Himmel oder die Hölle kommen, je nachdem, wie sündig ihr Leben war. Calvin verstieg sich mit seiner Prädestinationslehre sogar zu der abstrusen Idee, dass der Mensch von vornherein infolge seiner Erbsünde zur Hölle verdammt sei und aus eigenem Willen rein gar nichts tun könne, um seine Erlösung zu bewirken. Er könne lediglich darauf hoffen, dass Gott aus reiner Willkür ihm am Ende doch gnädig sei. Derartige Ungereimtheiten sollten eigentlich zur Folge haben, sofern man die Vernunftbegabung der Spezies Mensch nicht zum Märchen erklärt, dass überhaupt niemand an Derartiges glaubt und solche intellektuellen Zumutungen folglich als schlichten Unsinn zurückweist. Die Wirklichkeit von über zwei Milliarden bekennenden Christen auf der Welt schlägt diesem Argument jedoch ins Gesicht.
Versuchen wir es wenigstens mit einer Antwort
Nun mag es fraglich sein, ob sich die Menschen dieser sich zumindest überwiegend um Vernunft bemühen oder nicht. Das heißt umgekehrt nicht, dass sie dumm seien, wenn sie dies nicht tun. Die Christen müssen folglich einen anderen Grund haben, an einen so ungereimten Gott zu glauben, da der Vernunftglaube in praktisch allen Religionen ohnehin keine sehr prominente Rolle spielt. Dieser Grund muss, wenn schon kein logisch-vernünftiger, dann wohl ein psychologisch-vernünftiger zu sein. In der Auslotung dieses Unterschieds scheint mir die Möglichkeit einer Lösung auch jenes Rätsels zu liegen, wieso so viele Menschen sich gerade zum christlichen Glauben bekennen. Die konkrete Antwort liefert hier nicht die Gestalt des christlichen Gottes selbst, denn die unterscheidet sich in ihren Eigenschaften nicht sonderlich von den Eigenschaften der Götter anderer Religionen. Der Schlüssel liegt vielmehr in der Figur des Jesus, der als Gottes Sohn, damit Halbgott und Vermittler zwischen göttlicher und irdischer Sphäre, schon von Anfang an die zentrale Abgrenzung zum Islam und Judentum als den beiden abrahamitischen Konkurrenten zum Christentum herstellte.
Die irdischen Berichte über die historische Person Jesu durch Zeitgenossen und nachgeborenen Aposteln schildern ihn als eine Person, die eigentlich wenig Anlass gibt, ihn zu einem Halbgott zu erklären. Er war ein fundamentalistisch gesonnener religiöser Rebell gegen das jüdische Establishment seiner Zeit, vor allem gegen die Phärisäer. Seine Lehre von der Gleichheit aller Menschen vor Gott erklärt sich vor diesem Hintergrund und ist insbesondere in Anbetracht der damaligen römischen Herrschaft über Palästina zu verstehen. Die brachte, obwohl politisch nur Besatzungsmacht, doch ein universalistisches Menschenbild griechischer Prägung nach Palästina. Es drängt sich deshalb der Gedanke auf, dass die historische Person Jesus in der über die folgenden Jahrunderte herausdestillierten christlichen Lehre nur eine Strohfigur ist, d.h. der personifizierte Platzhalter einer offenbar starken Idee. Die eigentliche Überzeugungskraft des Christentums hinter der historischen Figur Jesu ist also in dieser Idee kodiert. Deren Kern wiederum liegt, so mein Argument, in dem Versprechen der Erlösung des Menschen.
Entschuldigung: Was bedeutet 'Erlösung'?
Auch hier tut sich nun wieder Erstaunliches auf. Wieso und wovon muss 'der Mensch' eigentlich erlöst werden? Als biologisches Gattungswesen ist er doch nur ein Lebewesen wie andere auch. Die christliche Lehre meint allerdings, allein der Mensch sei zur Sünde fähig, weil Gott die Menschen nach seinem Ebenbild geschaffen habe, sie mithin grundsätzlich sein Willen untertan seien (das ist, cum grano salis, die christliche Vorstellung von Vernunft). Folglich seien sie bei Ungehorsam für ihr Verhalten verantwortlich zu machen. Der Mensch ist im christlichen Weltbild allerdings ein moralisch unzuverlässiges Wesen und deshalb letztlich, schon allein wegen der notorischen 'Erbsünde', letztlich doch alle Sünder, oder um es in etwas zeitgemäßeren Worten zu sagen, 'schlechte' oder 'böse' Menschen. Genau deshalb bedarf es zunächst der grundsätzlichen Idee einer Erlösung, auch wenn die allein am Ende nicht wirklich weiterhilft. Am Ende kann selbst der gläubige Christ, wenn er nicht aufpasst, doch wieder in die Hölle kommen. Irgendwie schwierig, das Ganze.
Nun hat 'uns' (womit unter frommen Christen bis auf den heutigen Tag unklar ist, ob das alle Individuen der biologischen Spezies Mensch betrifft oder nur sie selbst) Jesus durch seinen Tod am Kreuz angeblich von allen unseren Sünden erlöst, halbwegs jedenfalls. In dem ganzen Hin und Her von Sünde und Erlösung ist Gott durch den Tod seines Sohnes zwar erheblich in Vorleistung gegangen, ist dabei aber offenbar, insbesondere in Anbetracht seiner Allmacht und Allwissenheit, nicht sehr konsequent gewesen. Oh Mann, die Menschen sind immmer noch böse und schlecht! Die ganze Story geht also überhaupt nicht auf, wenn man sie für bare Münze nimmt. Der gordische Knoten löst sich aber, wenn man ihr Kernargument als eine Art von psychologischer Theorie auffasst, die in der Epoche zur Lebenszeit Jesu aufkam und seither erhebliche Teile der Weltbevölkerung nicht mehr loslässt. Diese Theorie geht so: Irgendwann im Laufe der sozialen Entwicklung der Menschheit entdecken ihre Mitglieder, dass es so etwas wie Moral gibt, und sie entdecken zu ihrem eigenen Erstaunen auch, dass es genau diese Fähigkeit zur Moral ist, die sie entscheidend von allen anderen Lebewesen der Erde unterscheidet. Jede Moral aber stellt die von ihr Betroffenen aber mindestens vor zwei sehr allgemeine Fragen: (a) Wer hat eigentlich die ihr zugrundeliegenden Regeln erfunden? und (b) Was passiert, wenn ich mich nicht an ihre Regeln halte?
Zur ersten der beiden Fragen: Nun, der Mensch mag zwar grundsätzlich ein moralisches und manchmal auch ein vernünftiges Wesen sein. Er ist aber auch ein einfältiges Wesen, das die Dinge gerne konkret vor Augen geführt haben möchte. Sonst glaubt er gar nichts. Folglich brauchen viele Menschen als Urheber grundlegender moralischer Benimmregeln die Vorstellung einer Person, die mit absoluter Autorität diese Regeln erlassen hat und sie auch durchsetzt. Zur zweiten der beiden Fragen: Weil es eine solcher Person auf Erden aber niemals gab und jede reale Person außerdem im Verdacht steht, ohnehin immer nur aus Eigennutz anderen Leuten Vorschriften zu machen, musste diese Autorität in 'den Himmel' verlegt werden, also in die Transzendenz, wo niemand sie mehr wegdiskutieren kann, weil der Glaube bekanntlich gegen jede Art rationaler Argumente immun ist. Auf die Idee, dass die Gesamtheit der jeweils lebenden Mitglieder einer Kultur der Schöpfer und Träger ihrer Moral ist, hätte man vielleicht kommen können. Sie ist aber unanschaulich und emotional blutleer. So etwas taugt nicht zur wirksamen Verhaltenssteuerung vieler Menschen. Die Soziologie und Psychologie als wissenschaftliche Disziplinen wurden ohnehin erst knapp zweitausend Jahre später erfunden. Dennoch war das Bewusstsein eines Menschenbildes, dass unentwirrbar oszilliert zwischen der Vorstellung eines prinzipiell zum Guten genauso wie zum Schlechten tendierenden Wesens, zu jener Zeit, als Jesus lebte, offenbar bereits voll ausgeprägt. Diese aufdringliche Ambivalenz, d.h. die existenziell gespürte Unentscheidbarkeit zwischen den beiden Extrema eines absolut guten und absolut schlechten oder bösen Menschen hat sich seitdem nicht etwa aufgelöst, sondern kontinuierlich immer weiter intensiviert. Die psychologische Denkfigur der Erlösung, personifiziert in der historischen Person Jesu, kann diese Ambivalenz ebenfalls nicht auflösen, wie sollte sie auch. Gerade darin entfaltet sich allerdings ihre Faszination und Attraktion. Die Idee des Jesus ist die kognitive Auslagerung des Wunsches, ein guter Mensch zu sein, es aber leider nicht zu schaffen, als Versprechen Gottes selbst, uns von dieser Pein zu erlösen. Jenes Erlösungsversprechen steht allerdings unter einer schwierigen Gehorsamsbedingung, die offenbar nicht vollständig zu erfüllen ist.
Und... gibt es eigentlich das Paradies?
Stellt man das ganze Konstrukt nun von seiner religiösen Wolkenschieberei auf seine irdischen Füße, so müssen wir die Begriffe 'Gott' und 'Jesus' zunächst durch den Namen jener realen Autorität ersetzen, die unser Verhalten tatsächlich prägt und lebenslang diktiert, nämlich die soziale irdische Gemeinschaft, in der wir leben (so schon Feuerbach und Marx vor einhundertfünfzig Jahren). Diese kollektive, gewachsene Autorität erlässt all die formalen und informellen Vorschriften, die zu erfüllen die meisten von uns sich zumindest manchmal bemühen. Abgesehen von realen Prozentsätzen des Regelgehorsams in unserem täglichen Verhalten, die niemand nennen kann, kommt es dabei aber auch auf etwas ganz anderes an, nämlich auf unser Bemühen, gute Menschen zu sein. Diesen Wunsch haben angebliche auch unverbesserliche Kriminelle und Soziopathen. Dieser existenzielle Wunsch ist tatsächlich ein besonderer. Er unterscheidet sich beispielsweise grundlegend von der Bemühung, unseren Lebensunterhalt zu verdienen oder andere weltliche Ziele zu erreichen. Der Wunsch, ein guter Mensch zu sein, ist uns (im Sinne zumindest einer großen Mehrheit der jeweils lebenden Menschen) inzwischen, d.h. seit einigen tausend Jahren, wie ein Stück Hardware in unser Gehirn eingebaut und lässt sich daraus auch nicht mehr entfernen. Damit ist aber gleichzeitig jene Ambivalenz, von der die christliche Lehre so zentral handelt, ein nicht mehr zu ignorierendes Stück unserer Beschaffenheit als Menschen. Aus dieser - zeitweise immensen - Spannung von Gut-sein-Wollen und Nicht-immer-gut-sein-Können resultiert die Attraktion eines ansonsten einfach nur kuriosen christlichen Glaubens. Hier liegt seine psychologisch existenzielle Wurzel.
Das christliche Erlösungsversprechen ist freilich genauso ambivalent wie jener psychologische Untergrund, auf dem es vor uns steht. Es ist folglich nicht einfach ein intellektuell billiger Betrug wie das, was uns die zahlreichen esoterischen Marktschreier dieser Welt aufzuschwatzen versuchen. Dieses Versprechen, das selbst von christlichen Würdenträgern als auf Erden uneinlösbar beschrieben wird, ist vielmehr ein anschauliches Abbild dessen, was sich viele von uns im Verhältnis zu unserer jeweiligen community sehnlichst wünschen, nämlich gute Menschen zu sein - in der Hoffnung, dass sich dann auch unsere Zeitgenossen mit gleicher Inbrunst darum bemühen werden. Der Begriff 'Erlösung' ist folglich Ausdruck einer Projektion des fernen, niemals erreichbaren sozialen Paradieses zumindest auf eine gegenwärtige Hoffnung, dass dieses Paradies nicht gänzlich unmöglich sei. Die psychologische Funktion dahinter ähnelt dem Motiv von Lottospieler*innen, trotz einer Chance auf den Höchstgewinn von ca. 1:92.000.000 (oder kleiner, je nach Umständen des Spiels) jede Woche in ihre Kiosk-Kirche zu gehen und von ihrem knappen Geld den zu bezahlenden Tippschein abzugeben: Die Hoffnung stirbt zuletzt. Lottospieler*innen leiden vielleicht nicht unter jener moralisch drückenden Ambivalenz, die die Christen zu ihrem Glauben treibt. An eine Erlösung glauben sie allerdings auch, wenn auch in Form der Chance auf einen ultimativen Hauptgewinn, der bei ihnen nicht den Namen 'Paradies', sondern 'Geld' trägt. Das sage ich nicht aus Ressentiment gegen den christlichen Glauben. Ehrlich gesagt: Ich glaube selbst an das Gute im Menschen. Und bin mir ebenfalls nicht sicher, ob es sich jemals zur dominanten Kraft in unserem Zusammenleben mausern wird. Und wenn, braucht man dazu nicht unbedingt einen Jesus. Vielleicht gibt es doch bessere Wege, dem Paradies auf Erden etwas näher zu kommen. (ws)