Herrschaft wird prekär
Was populistische Empörung, tyrannische Chefs und die Emanzipation der Frau miteinander verbindet
Seit dem Aufstieg des modernen Kapitalismus erscheint soziale Herrschaft hauptsächlich in vier verschiedenen Formen:
- Die Hegemonie einzelner Staaten über andere Staaten
- Die Herrschaft einer politischen Elite über die übrigen Bürger eines Staates
- Die Herrschaft der Arbeitgeber und Auftraggeber über ihre Angestellten und Auftragnehmer
- Die Herrschaft der Männer über die Frauen
Die vorstehende Liste ist in Top-down-Form geordnet, von der sozialen Großform hinunter in die psychosoziale Mikrosphäre. Das heißt aber nicht, dass auch die Kausalität in dieser Reihenfolge zu verorten ist, wie es beispielsweise der Marxismus für das Verhältnis der ökonomischen zur symbolischen Sphäre behauptete. Vielmehr bedingen sich alle der genannten Herrschaftssphären in ihrer geschichtlichen Dynamik gegenseitig, bilden letztlich ein kompaktes Ganzes. Wie ich im Folgenden darstellen will, schwingt der Herrschaftsdiskurs auf sehr unterschiedliche Weise in den verschiedensten global-gesellschaftlichen Bewegungen mit, auch wenn sich diese Phänomene ansonsten stark voneinander unterscheiden. Und natürlich ist Herrschaft wohl immer und überall prekär, d.h. latent instabil gewesen. Ich meine allerdings, dass diese Instabilität heute umfassender und deshalb auch für jeden Einzelnen im geschichtlichen Mittel überdurchschnittlich zudringlich ist.
Infolge der deutlich verstärkten 'horizontalen' (geographisch-globalen) und 'vertikalen' (innergesellschaftlichen) Wechselwirkung sozialer Dynamik ist die Krise einer Herrschaftssphäre heute, d.h. in einer allseitig kommunizierenden Welt, immer auch eine Krise aller anderen: Auf allen Ebenen wird Herrschaft heute an sich selbst oder grundsätzlich in Frage gestellt. Diese Anfechtung bestehender Herrschaft kann sich zunächst grob zweifach äußern: (a) als einfache Verweigerung der Unterwerfung oder (b) als Forderung nach mehr Legitimität bestehender Herrschaft.
(a) Die Herausforderung der Gehorsamsverweigerung nimmt dabei auf den verschiedenen Herrschaftsebenen sehr unterschiedliche Gestalt an: Während sich beispielsweise die deutsche '68er-Generation gegen die US-amerikanische Hegemonie in Form öffentlicher Demonstrationen zu Wort (und Tat) meldete, äußert sich die aktuell in vielen Ländern aufflammende Wut gegen die politischen Eliten innerhalb ihres jeweiligen Landes eher als Chance illiberaler politischer Emporkömmlinge und selbsternannter strong men, siehe u.a. Polen, Ungarn, Russland, Türkei, USA. Die Infragestellung der vorwiegend ökonomischen Herrschaft am Arbeitsplatz und zwischen selbständigen Akteuren wiederum entlädt sich inzwischen weniger in Arbeitskämpfen, sondern vor allem international in vorauseilendem, teilweise speichelleckerisch, weil unehrlich anmutendem Wettbewerb von mächten, vor allem technikaffinen Arbeitgebern, Weisungshierarchien angeblich weitestgehend zu schleifen und stattdessen den Arbeitnehmer mit Ruhezonen, Yoga-Kursen und Gourmet-Essen am Arbeitsplatz zu locken, bevor die Knute der Zielvorgaben und Unterwerfung unter Unternehmensstrategien schmerzlich spürbar wird. Im Wechselspiel der großen wirtschaftlichen Playern dagegen, vor allem im internationalen Wettbewerb, herrscht mehr denn je ein Hang zur Steuerasozialität und einer undurchschaubaren Asymmetrisierung des Leistungsaustauschs, beispielsweise mittels kostenloser Webinhalte gegen die (mehr oder weniger freiwillige) Preisgabe persönlicher Daten zur Marketing-Ausbeutung. Und last not least, d.h. im psychosozialen Erdgeschoss, zeigt sich der sog. 'Kampf der Geschlechter' heute in einer zunehmenden Befreiung von überkommenen Geschlechterrollen bis in das häufig als diskriminierend empfundene Reden über Frauen bzw. Männer.
(b) Dem gegenüber nimmt sich die Forderung nach einer Reform der Legitimation bestehender Herrschaftsformen häufig schwach und geradezu konservativ aus. Wer beispielsweise mehr Gerechtigkeit in politischen Wahlen fordert, z.B. beim Gerrymandering, d.h. der parteiischen und undemokratischen Neuziehung von Grenzen zwischen Wahlbezirken in den USA, wird von jenen abgetan, die "das ganze System" ohnehin für verrottet und solche Reformen nur für lachhaft halten. Auf der supranationalen Ebene sind Reformbemühungen zur Einhegung legitimer Hegemonie dagegen ein schon seit Jahrhunderten ein Dauerthema und erfreuen sich durchaus stattlicher Fortschritte. Beispielsweise sind Angriffskriege und die gewaltsame Verschiebung von Staatsgrenzen heute weltweit generell nicht nur verpönt, sondern können UN-Beschlüsse zu deren legitimer militärischer Abwehr und Rückgängigmachung auslösen. Die Reform der Herrschaftsverhältnisse in Arbeitgeber- und Auftragnehmerbeziehungen ist wiederum ein vorwiegend legislatorisch ausgetragener Diskurs; er eignet sich vorzüglich als Thema in Wahlkämpfen in den politischen Wahlen. Die Reform des Geschlechterverhältnisses schließlich äußert sich zwar letztlich in Gesetzesänderungen, z.B. der in den letzten Jahrzehnten global starken Zunahme der Legalisierung gleichgeschlechtlicher Ehen und der gesetzlichen Gleichstellung von Mann und Frau. Allerdings ist das Verhältnis von Mann und Frau so tief in den unmittelbaren Persönlichkeitsstrukturen und mikrohabituellen gesellschaftlichen Mustern verwurzelt, dass hier selbst ein öffentlich noch so intensiv geführter Diskurs kaum sprunghafte Änderungen bewirken kann. Nichts ist träger als die unmittelbaren, individuellen Vorurteile und Verhaltensgewohnheiten.
Auf die verschiedenen Möglichkeiten der Begründung, d.h. Legitimierung von Herrschaft möchte ich nicht eingehen. Dies hat beispielsweise Max Weber in seinem Grundlagenwerk "Wirtschaft und Gesellschaft" ausführlich getan. Wenn sich der heutige globalisierte, horizontale und vertikale Herrschaftsdiskurs tatsächlich durch alle der beschriebenen Sphären mit deutlich größerer Intensität als im geschichtlichen Mittel zieht, so fragt sich allerdings, ob hier nicht auch ganz allgemeine Ratschläge zum Verhalten der Diskursteilnehmer möglich sind, die auf allen der genannten Ebenen zu beachten wären. Zwei solcher Empfehlungen möchte ich hier kurz skizzieren.
Zunächst an die radikalen Gehorsamsverweigerer: Es lohnt sich, die wichtigsten Gedanken vor allem der politischen Denker der Neuzeit zum Thema Herrschaft zu rekapitulieren. Wer Thomas Hobbes' Begründung der Vorzüge eines staatlich geordneten Gemeinwesens (bei ihm noch mit absolutem Souverän) gegenüber dem miserablen Kampf aller gegen alle verstanden hat, wer John Locke in seiner sehr englischen Betonung der Vorteile des Privateigentums zumindest einmal gelesen hat, wer den empfindsamen Rousseau in seiner schlussendlichen Neigung zur Kultur bei aller romantischen Verklärung des Wildmenschen und Kant in seiner eisernen Verteidigung der Vernunft gegen alles private Nützlichkeitsdenken und die 'tierische' Affektnatur des Menschen zumindest zur Kenntnis genommen hat, dem dürfte dämmern, dass Herrschaft nicht grundsätzlich schlecht ist, sondern einer akzeptablen Form bedarf - dann aber den herrschaftslosen Sozialformen deutlich überlegen ist. Man bedenke allein die vielfach höheren Homizidraten in egalitären Jäger- und Sammlergesellschaft oder die unbestreitbaren Vorteile der heute üblichen Solidarpakte in der Gesundheits- und Altersvorsorge. Die/der radikale Gehorsamsverweigerer/in muss sich in Anbetracht solcher Fakten fragen lassen, ob sie nicht einfach Opfer einer gravierenden Wissenslücke oder einfach privater, nicht verallgemeinerbarer unglücklicher Lebensumstände sind. Vom ideologischen Starrkrampf nicht zu reden. Das gilt mutatis mutandum auch für mögliche Rollendifferenzen zwischen den Geschlechtern. Rollendifferenz ist an sich noch keine Diskriminierung. Fraglich ist vielmehr, ob die jeweils geschlechtsbedingt öffentlich oder privat aufgedrängte Rolle freiwillig akzeptiert wird oder nicht. Schlechtere Bezahlung von Frauen bei gleicher Arbeitsleistung gegenüber Männern dürfte kaum begründbar und folglich inakzeptabel sein. In den psychologischen Verästelungen mikrosozialer Geschlechterbeziehungen sind solche Frage dagegen viel schwerer zu beantworten. Wer will einem Mann vorwerfen, dass er sich als 'Männchen' (aus der despektierlichen Sicht seiner Freunde) seiner Frau unterwirft, wenn's doch ihm gefällt? Wer darf eine Frau verachten, sie sei eine rückständige Sklavin ihres Mannes, weil sie es vorzieht, nicht täglich arbeiten gehen zu müssen und deshalb die eigentlich lästige Hausarbeit widerspruchslos verrichtet? Auf der Ebene der geschlechtlichen Emanzipation greift radikale Gehorsamsverweigerung zu kurz, verfällt selbst ideologischer Blindheit. Wer grundsätzliche Neutralität gegenüber früher so genanntem 'abweichendem Sexualverhalten', z.B. Masochismus oder Sadismus, einfordert, kann mildere Formen eines solchen 'abweichenden Verhaltens' der Geschlechter im Alltag von nunmehr von ihren/seinen eigenen ideologischen Wunschvorstellungen nur noch moralinsauer verteidigen. Schwierige Sache. Soviel zu den Gegnern jeglicher Form von Herrschaft.
An die Herrschaftsreformer: Ihnen lässt sich schwerlich vorwerfen, sie rechneten nicht mit der Trägheit des Gegebenen auf der Grundlage geschichtlich überlieferter Imperative. Sie laufen vielmehr Gefahr, sich zu schnell auf Kompromisse, häufig faule, einzulassen und letztlich von radikal-umstürzlerischen oder erzkonservativen Gegners ausgeschaltet zu werden. Sie sollten sich also, und dies auf allen Ebenen, von den Radikalen ein bisschen anstecken lassen, um nicht das unbedingt notwendige Beharrungsvermögen zu verlieren, das ihre Position von ihnen verlangt. Ihnen sei aber auch ein moralischer Trost mitgegeben, der sie gegen ein Übermaß an radikalem Einfluss imprägniert: Radikale Menschen handeln grundsätzlich verantwortungslos, weil sie gar nicht wissen können, ob das, was nach dem von ihnen betriebenen Zusammenbruch bestimmter sozialer Verhältnisse kommt, nicht womöglich noch viel schlimmer ist als das, was sie heute bekämpfen. Man denke an die Französische, Russische und die Chinesische Revolution, an die deutsche Nazi-'Revolution', an Robespierre, Napoleon, Stalin, Hitler und Mao. Danke für Obst. Der Herrschaftsreformer braucht aber nicht nur Zuspruch zur Erhaltung seiner Reformkräfte. Er braucht auch gute Argumente. Hier steht er in einem sehr ungünstigen Verhältnis zum Radikalen. Er kann nämlich nicht mit der Schürung öffentlicher Empörung, mit Aufhetzung und kollektiver Wut arbeiten. Er muss vernünftig überzeugen. Das ist schwer in Zeiten kollektiver Erregung. Hierfür muss er sich folglich auch argumentativ und rhetorisch wappnen. Das ist mühsam und frustrierend, wenn man immer wieder niedergeschrieben oder schlicht gar nicht gehört wird. Dennoch: Weil der Reformer von vornherein verantwortlicher denkt, hat er das moralische Urteil letztlich auf seiner Seite. Er darf nur nicht umfallen, weder ins radikale noch ins quietistische Lager.
Zusammenfassung: Die heutige, kommunikativ stark globalisierte Welt ist horizontalen und vertikalen Wechselwirkungen ausgesetzt, die früher deutlich schwächer waren. Dies wirkt sich insbesondere als eine Verschärfung des Herrschaftsdiskurses auf den vier Ebenen zwischenstaatlicher Hegemonie, innerstaatlicher politischer Herrschaft, ökonomischer Weisungsmacht und den Rollenkonflikten zwischen den Geschlechtern aus. Die beiden Hauptstrategien zur Teilnahme an dem allgemeinen Herrschaftsdiskurs kann man als 'radikal' bzw. 'reformorientiert' kennzeichnen. Beide Herangehensweisen haben ihre Vorteile. Die Reformstrategie ist aber grundsätzlich verantwortungsvoller und deshalb ethisch überlegen. (ws)