Hegel, dieser nonkonformistische Nerd

Der seltsame Georg Friedrich Wilhelm
Der seltsame Georg Friedrich Wilhelm

Über die Hegelsche Geschichtsphilosophie ist wahrlich viel geschrieben worden, nicht zuletzt und besonders wirkungsmächtig von Karl Marx und Friedrich Engels. Dennoch verdient eine seiner besonders geheimnisumwitterten Denkmethoden noch weitere Aufmerksamkeit - nicht zuletzt, weil sie letztlich nur von wenigen Menschen verstanden wurde. Dabei ist sie auch heute noch äußerst relevant. Es geht um den Begriff der Dialektik und ihre Anwendung auf die gesellschaftliche Entwicklung.

Das dialektische Denken Hegelscher Provinienz ist insbesondere für Logiker eine Zumutung. Sie scheint die mögliche Konsistenz des Widersprüchlichen zu behaupten, und das war und ist vielen Philosophen - bis auf den heutigen Tag - ungefähr so plausibel wie die christliche Behauptung der Dreifaltigkeit von Vater, Sohn & Heiligem Geist: Hier soll 3 = 1 sein. Wie bitte? Wo sind die Leute, die so etwas behaupten, zur Schule gegangen? In Hegels dialektischem Denken scheint es nicht besser zuzugehen; bei ihm soll (angeblich) etwas der Fall und gleichzeitig nicht der Fall sein. Das klingt auch nicht viel besser als 3 = 1.

Tatsächlich werden hier wohl sowohl die christlichen Kirchen als auch der Herr Hegel missverstanden. Denn einfach nur dummdreist waren diejenigen, die so etwas in die Welt setzten, keineswegs. Sie mussten also etwas anderes gemeint haben. Im Folgenden beschäftigen wir uns allerdings erst am Schluss noch einmal kurz mit der christlichen Trinitätslehre; zunächst geht es um Hegel.

Die ganze Aufregung um die Behauptung, dass etwas zugleich dies und etwas anderes - mit einem Wort: real selbstwidersprüchlich - sein kann, gründet auf einem Missverständnis dessen, wovon Hegel überhaupt sprach, als der die Dialektik ins Spiel brachte. Spricht man von Zuständen, so scheint klar, dass ein Zustand nicht eine Eigenschaft aufweisen und zugleich nicht aufweisen kann. Das würde auch ein Hegel nicht behaupten. Vielmehr redet er von Prozessen, nicht von Zuständen. Prozesse sind etwas grundsätzlich (in philosophischer Begrifflichkeit: kategorial) anderes als Zustände. Prozesse sind ein mehr oder weniger geordnetes Durch- und Miteinander unterschiedlichster Kräfte, Gegenstände und Akteure. Hier nun ist es vollkommen alltäglich, dass beispielsweise gesellschaftliche Prozesse stark antagonistisch, d.h. in sich widersprüchlich, strukturiert sind. Dieser Gedanke allein wäre allerdings zu banal, um zu einer neuen Methode namens 'Dialektik' erhoben zu werden. Hegel sagt nun darüber hinaus, dass antagonistisch strukturierte Prozesse a) der geschichtliche Normalfall und b) die alleinige Ursache für die ständige Weiterentwicklung einer Gesellschaft sind. (Wir übergehen in diesem Zusammenhang seine Behauptung, dass die Entwicklung der Weltgeschichte, ja überhaupt des gesamten Universums, einer zwingenden Logik namens 'Weltgeist' gehorcht, denn diese weitergehende Behauptung ist für seine ursprüngliche Entdeckung gar nicht wichtig.)

Aus dem von Hegel konstatierten, permanenten prozeduralen Antagonismus folgt aber nicht nur eine ständige Entwicklung. Vielmehr ist der Clou seiner Idee, dass die zugrunde liegende Art des Widerspruchs immer dieselbe ist und auch immer dieselbe bleibt. Bei ihm ist dies der Widerspruch zwischen unbegriffenem Sein und begrifflichem Bewusstsein. Indem dieser Grundwiderspruch immer weiter fortbesteht, bringt er doch ständig neue 'Synthesen' hervor, d.h. ständig neue Formen des - freilich ewig provisorischen - Ausgleichs im Widerspruch. Dies lässt sich als eine Spirale darstellen:

Die Hegelsche Entwicklungsspirale
Die Hegelsche Entwicklungsspirale

Damit aber überholt er auf sehr moderne Art nicht nur das statische Denken all jener, die sich die Welt nur als ein buntes Kaleidoskop von Zuständen vorstellen und dabei vollkommen ihre Dynamik, d.h. ihre Prozesshaftigkeit, übersehen. Er interpretiert dadurch mit einem Streich auch alle Ereignisse der Weltgeschicht grundsätzlich anders, als dies vor und auch noch nach ihm geschah. Schauen wir uns an, welche Alternativen wir zum Hegelschen Spiralmodell haben. Das Interessante an dieser Betrachtung der Alternativen ist, dass wir wohlgemerkt vom angenommen vollkommen identischen Tatsachenmaterial ausgehen - seine Gegner 'sehen' es buchstäblich nur anders. Wir veranschaulichen diese unterschiedliche Sicht folglich ganz geometrisch. Das folgende Bild zeigt ebenfalls eine Spirale, allerdings senkrecht von oben gesehen. Was sehen wir dann? Nur einen Kreis, in dem sich eine kleine Menge immer wiederkehrender Ereignisse und Zustände endlos kreisförmig den Staffelstab der Geschichte in die Hand gibt:

Die menschliche Geschichte als ewige Wiederholung des Gleichen
Die menschliche Geschichte als ewige Wiederholung des Gleichen

Das ist aber nicht der einzige Perspektivwechsel, gegen den Hegel anging. Wenn wir seine Perspektive als die 'schräge' bezeichnen, also eine aus einer geometrischen Blickachse von ca. 45° zur Spiralachse, und die Ewige-Widerkehr-des-Gleichen-Perspektive als eine 0°-Perspektive, so gibt es noch eine 90°-Perspektive, und die ist ebenfalls überraschend anders. Sie führt uns die Geschichte nämlich plötzlich als eine wilde Zick-Zack-Reise vor, wo es ständig hin- und hergeht. Bei einem Zick zum anderen Zack wird es aus dieser Sicht allerdings meist ziemlich ungemütlich, insofern jede Zacke einen radikalen Wechsel der Lebensumstände bedeutet. Politisch nennt man solche Zacken 'Revolution', und genau davon sprach der Zick-Zack-Philosoph Karl Marx dann auch nach Hegel ziemlich intensiv:

Eine ziemlich ungemütliche Interpretation der Geschichte
Eine ziemlich ungemütliche Interpretation der Geschichte

Vergleichen wir nun diese drei Blicke auf ein und dieselbe Spirale, d.h. ein und denselben geschichtlichen Verlauf, so sehen wir, dass Hegel mit seiner dialektischen Idee nicht nur das prozedurale Denken aus seinem schon zwei Jahrtausende währenden Schlummer aufweckte (der letzte einflussreiche Prozessdenker der abendländischen Welt vor ihm war Heraklit). Ihm war darüber hinaus auch vollkommen bewusst, dass er mit seinem neuen Denkmodell gleich zwei alte und aus seiner Sicht gänzlich überholte, mithin falsche Interpretationen der gesellschaftlichen Entwicklung widerlegen konnte. Das Revolutionäre seines Denkens gründete gerade nicht in der prophetischen Vorhersage kommender, katastrophischer Weltumbrüche. Vielmehr sah er, dass menschliche Gesellschaft wegen grundlegender Antagnismen unserer Existenz ebenso einer kontinuierlichen Entwicklung unterliegt, wie es nur ca. 15 Jahre nach seinem Tod auch Darwin schließlich für die gesamte biologische Sphäre als Widerspruch zwischen lebendem Individuum und seiner Umwelt nachwies. Das war keine kleine Münze, mit der diese Autoren ihre Leser auszahlten. Leider war Hegels Schreibstil, gelinde gesagt, schwierig, weshalb man ihm eine Mitschuld für das permanente Missverständnis zuschreiben muss, dass seine Philosophie bis heute umwittert.

Hierzu noch zwei kleine Nachbemerkungen:

  1. Auch die christliche Theologie macht es ihren Schäfchen ziemlich schwer, mit der Trinitätslehre zurecht zu kommen. Dabei ist die Sache gar nicht so schwer. Tatsächlich meint sie wohl, dass es hier nur um eine Sache, nämlich das Göttliche, geht. Dieses Göttliche hat aber drei Aspekte, oder anders gesagt, es entfaltet sich kategorial in drei verschiedenen Dimensionen, als da sind: (a) Gott = Die absolute Herrschaft über den Weltverlauf; Physiker würden das heute wohl eher als die Naturgesetzlichkeit der Welt bezeichnen, aber egal. (b) Der Sohn Jesus = Die autoritativ vermittelnde Instanz zwischen der obersten Weltautorität, nenne man sie nun Gott oder Naturgesetze, und den Menschen; wir Atheisten nennen das heute vielleicht eher 'Über-Ich' (normativ) oder kulturell akkumuliertes Wissen (epistemisch). Und schließlich (c) der Heilige Geist = Das kreative, moralisch und logisch sich selbst kritisch reflektierende menschliche Individuum und seine soziale Gemeinschaft, die in der Lage sind, das alles zu verstehen, und vor allem: ihre eigene Rolle in einer solchen Struktur zu bestimmen. Das ist schon ein gewaltiges Stück Metaphysik, was man nicht zuletzt daran sieht, dass sich selbst die intelligentesten Aufklärer, von Diderot über Voltaire und Mendelssohn bis Kant, daran die Zähne ausgebissen haben.
  2. Wenn zumindest der junge Hegel ein Nonkonformist war - und das war er ganz gewiss, zumindest in der kollektiven revolutionären Erregung der 1790er Jahre - so sollte man sich ruhig einmal dem Gedanken hingeben, was Nonkonformisten eigentlich sind. Geschätzte 99% von ihnen werden nämlich, zu Recht oder zu Unrecht, als Kriminelle, Sozialparasiten, sonstige Schädlinge oder einfach als Idioten verfolgt bzw. gesellschaftlich 'ausgesondert'. Nur ein ganz kleiner Teil der Nonkonformisten wird von uns, meist im Nachhinein, als Genie verehrt. Dazu gehören die berühmtesten Personen der Weltgeschichte, angefangen bei Sokrates über Jesus, Luther, Darwin bis hin zu Einstein und einigen Weiteren. Nun verhält es sich aber hier wie bei den Goldwäschern des 19. Jahrhunderts an den Flussufern Alaskas: Auf eine Million Sandkörnchen kommt ein Korn Gold. Wir bekommen das Gold aber nicht ohne den Sand. Und am Ende wiegen die Goldkörner, obwohl doch so selten, in ihrem Wert all den Sand, zwischen dem sie lagen, um das Tausendfache auf. Allen Nonkonformisten gebührt, aus dieser Sicht jedenfalls, also unser Respekt, auch wenn wir die meisten von ihnen bekämpfen. Hegel hatte am Schluss Erfolg, wurde gar zum Befürworte preußisch-rigider Vorstellungen von Staatlichkeit. Aber wie gesagt: Wir bekommen das Gold-Nugget nicht ohne den Sand. (ws)

* * *

Zurück