Emergenz: Hoppla, was ist denn das?
Vorspiel
Wir sind uns, denke ich, einig, dass Elektronen nicht lachen und nicht weinen können. Friede dürfte auch der Behauptung beschieden sein, dass Tiere - also alle Lebewesen außer homo sapiens - keine Bücher schreiben können. Systematisiert man diese Gedanken, so ist die Einsicht unvermeidlich, dass die Welt sich entwickelt haben muss, und zwar nicht nur im Bereich des Lebendigen auf unserer heiß geliebten Erde, sondern auch das Universum insgesamt. Denn selbst seit dem Big Bang, also dem Urknall, bis zur Bildung der ersten Atomkerne vergingen in den Zeitbegriffen der modernen Physik bereits Millionen Jahre. Diese kosmische Fähigkeit zur Entwicklung mag uns fröhlich machen, denn immerhin legt sie nahe, dass wir zur Krone einer solchen Schöpfungspotenz gehören. Sie ist aber auch ein tiefes Rätsel, denn der alte Satz "Ex nihilo nihil fit" (zuerst von Melissos von Elea erwähnt; durch Aristoteles in seiner Physik I, 4 zu allgemeiner Akzeptanz erhoben), zu deutsch: "Aus Nichts entsteht nichts", lässt derlei eigentlich nicht zu. Wie kann es also sein, dass sich in einer Ursuppe plötzlich einzelne Elementarteilchen mit Eigenschaften bilden, die in der Ursuppe noch nicht vorhanden waren? Wie kann es sein, dass eine bestimmte Art von Lebewesen plötzlich zu Dingen imstande ist, die es nach unserem Wissen im gesamten Universum zuvor nicht gab, z.B. zum Bau von Smartphones?
Dieses große Rätsel fasst ein Begriff in einem einzigen Wort zusammen: Emergenz. Leider klingt dieses Wort auch nach einer Lösung des Rätsels. Das ist es jedoch mitnichten; es benennt das Ungeheure lediglich, so dass man besser darüber reden kann. Was also meint diese Begriff? 'Emergenz' wird bei Wikipedia folgendermaßen definiert: "Die Emergenz (lateinisch: emergere = „Auftauchen“, „Herauskommen“, „Emporsteigen“) ist die Herausbildung von neuen Eigenschaften oder Strukturen eines Systems infolge des Zusammenspiels seiner Elemente. Dabei lassen sich die emergenten Eigenschaften des Systems nicht – oder jedenfalls nicht offensichtlich – auf Eigenschaften der Elemente zurückführen, die diese isoliert aufweisen." So ähnlich lauten auch die Definitionen der Emergenz im anglo-amerikanischen Sprachraum. Wichtig zu ergänzen ist hier, dass der Begriff 'Emergenz' ein ontologischer ist und kein erkenntnistheoretischer: Er bezieht sich auf die tatsächliche, allgemeine Struktur des objektiv gegebenen Universums, unabhängig davon, ob diese Struktur von uns richtig oder überhaupt erkannt wird.
Schichten, alles Schichten
Die Geschichte der Emergenztheorie ist, verglichen mit anderen wissenschaftlichen Fragestellungen, ziemlich jung. Immerhin bringt sie es aber schon auf ungefähr 100 Jahre. Ursprünglich waren es englische, zutiefst christlich motivierte Hegelianer, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Phänomen der Weltentwicklung als Emergenz bezeichneten und untersuchten. Dabei kam es jedoch insofern zu einem theoretischern Geburtsunfall, als von vornherein nicht der seinerzeit bereits diskreditierte Hegelsche Holismus dem Forschungsansatz zugrunde gelegt wurde, sondern ein naturwissenschaftlicher Atomismus. Das bedeutete, dass man sich immerfort auf Beispiele einzelner 'neuer' Gegenstände oder ebensolcher Eigenschaften stürzte, dabei aber vollkommen übersah, dass ein einzelnes Radio oder eine singuläre Schreibmaschine, die durch blanken Zufall irgendwo im intergalaktischen Kosmos infolge einer Zusammenballung passender Moleküle entsteht, noch keineswegs ein Radio oder eine Schreibmaschine sind: Es fehlt ihnen schlicht die passende Umgebung, die sie zu solchen qualifizieren könnte. Das heißt im Umkehrschluss, dass das Rätsel der Emergenz nicht durch die Rückverfolgung der Entstehung einzelner neuer Gegenstände oder ihrer Eigenschaften gelöst werden kann, sondern zunächst und fundamental durch eine Klärung der Entstehung solcher neuer Existenzschichten, die die betreffenden Gegenstände und ihre Eigenschaften als Typen überhaupt erst ermöglichen.
Wenn wir nun zunächst von Schichten der Emergenz (oder Sphären bestimmter Existenzformen) sprechen, bevor wir uns auf die Einzelbeispiele stürzen, so stellt sich sofort die Frage, in welchem Verhältnis solche Schichten denn zueinander stehen. Unter der axiomatischen Annahme - die übrigens eine nirgends bestrittene Grundlage der gesamten zeitgenössischen Naturwissenschaften ist -, dass das Weltganze in sich konsistent, also widerspruchsfrei ist, kann die Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis solcher Emergenzschichten folglich nur lauten: Sie müssen in einem linear-aufsteigenden Verhältnis zueinander stehen. Daraus folgt wiederum, dass die jeweils höhere Schicht (höher, weil zeitlich später als die vorangehenden und komplexer als ihre Vorgänger) einen neuen Möglichkeitsraum eröffnet, der genau jene neue Gegenstände und Eigenschaften hervorbringt, die in der Emergenztheorie beispielhaft zitiert werden. Dieser neue Möglichkeitsraum muss sich gleichwohl mit seinen Vorgängerschichten gut vertragen, sonst wäre das universelle Konsistenzaxiom arg verletzt. Unsere Lebenwirklichkeit bestätigt dies auf ganz unspektakuläre Weise: Wir alle sind als Lebewesen aus wenigen chemischen Elementen zusammengesetzt; doch unsere Möglichkeiten übersteigen jene der chemischen Sphäre nicht nur quantitativ, sondern grundsätzlich.
Strukturelle Entwicklung
Mit diesen Vorklärungen beginnen die eigentlich spannenden Fragen aber erst. Eine ihrer drängendsten ist, ob es für diese Art von Entwicklung, die hier angedeutet wird, eine Obergrenze an Komplexität gibt oder nicht. Auch für die Verfolgung dieser Frage müssen wir aber zunächst eine Vorunterscheidung treffen, und zwar zwischen strukturkonformer und strukturverändernder Entwicklung. Stellen wir uns beispielsweise ein Brettspiel mit Steinen und Würfeln vor. Wenn wir dieses Spiel beginnen, passiert zwar viel, aber normalerweise immer nur innerhalb der bekannten Spielregeln. Das Spiel entwickelt sich sogar, insofern die Chancen der Spieler sich bald sehr unterschiedlich dartun. All das geschieht aber normalerweise innerhalb der Regeln, nicht außerhalb. Diese Art von Dynamik bezeichne ich als endostrukturelle Entwicklung. Einigen sich die Mitspieler während des Spiels nun aber auf eine Regeländerung, die sofort, also noch während des laufenden Spiels, in Kraft trifft, so handelt es sich um eine strukturverändernde Dynamik. Diese bezeichne ich als exostrukturelle Entwicklung. Diese Unterscheidung ist auch für die Entwicklung neuer Emergenzebenen sehr wichtig. Die eingangs in diesem Absatz gestellt Frage lautet nun also präziser so: Gibt es eine Obergrenze bzw. ein Ende der exostrukturellen Entwicklung des Universums? Ich meine, keinen Grund für eine solche Beschränkung zu sehen.
Wenn man ferner davon ausgeht, dass in unserem Bezirk des Universums, genauer: auf unserer Erde, wir selbst als Menschheit ein äußerstes Entwicklungsende exostruktureller Dynamik sind, so ist die Frage legitim, welche Entwicklungen sich konkret für die Menschheit noch ergeben könnten. Gibt es solche Entwicklungsgrenzen für die Menschen überhaupt? Kaum; es scheint nicht einmal ausgeschlossen, dass irgendwann sogar gänzlich neue Existenzformen in Gestalt ganz neuer Strukturen entstehen, die zu uns ein Verhältnis etablieren, wie wir es zu den Bakterien in unseren Gedärmen unterhalten. Das klingt nicht schön. Aber hat nicht die weit verbreitete (und vielleicht berechtigte) Sorge vor der Verselbständigung der sog. Künstlichen Intelligenz genau in dieser Ahnung ihren Kern? Eine andere, schönere Vision wäre es zweifelsohne, wenn die exostrukturelle Entwicklung auf dieser Erde uns mehr Frieden und höhere Formen des Handelns bringt. Das war der Traum der Kommunisten und Faschisten des 20. Jahrhunderts. Er blieb leider bis heute nicht nur unverwirklicht, sondern wurde obendrein durch unbegreifliche Grausamkeiten und mehr als 100 Millionen politisch motivierter Morde auch schwerstens beschädigt.
Das Spiel hört niemals auf
Bevor wir aber in die Niederungen der politischen Gegenwart abgleiten, sollte es lohnen, sich etwas gründlicher mit dem Begriff der strukturellen Entwicklung ganz allgemein auseinanderzusetzen. Ich habe dies in meinem Buch "Reale Möglichkeit. Eine allgemein Theorie der Entwicklung" (xenomoi, Berlin 2017) versucht. Ich kann allen, die dieses Thema fasziniert, nur versichern, dass die Beschäftigung mit ihm ein großes und sehr spannendes intellektuelles Abenteuer ist. Keineswegs meine ich, die angesprochenen Fragen bereits gelöst zu haben. Ich denke aber, dass man die Auseinandersetzung mit solchen fundamentalen ontologischen Fragen methodisch auf fruchtbarere Füße stellen kann, als dies bisher der Fall war. Wie gesagt, der von mir favorisierte Ansatz ist ein holistischer. Er vermeidet es zumindest, in die Falle von Pseudorätseln zu geraten, die entstehen, wenn man die Frage der Emergenz vorschnell auf einzelne neue Gegenstände und ihre Eigenschaften konzentriert. Schon Periander von Korinth, er der antiken Sieben Weisen, wusste es, als er den Seinen riet: "Habe das Ganze im Sinn." Denn das Ganze ist mehr als seine Teile. (ws)
(Wolfgang Sohst ist Autor auf ResearchGate. Seine Aufsätze zur Metapyhsik und Sozialphilosophie finden Sie hier.)