Eigenwert
Menschliches Handeln kann in vieler Hinsicht wertvoll oder auch wertlos sein. Im katholischen Europa galt bis zur Reformation die einfache Formel: Gut ist, was den jeweiligen säkularen Herrschern nützt oder den Vorgaben der katholischen Heilslehre entspricht; alles andere ist schlecht. Mit der Reformation änderte sich dies jedoch drastisch. Mit der calvinistischen Prädestinationslehre drängte ein Ideologem in der Vordergrund, das bis dahin nur eine Nebenrolle gespielt hatte, nämlich der Erfolg auf Erden als Hinweis auf die Chance, nach dem irdischen Leben ins Paradies zu kommen.
Die Entwertung aller Werte
Mit der Erfindung dieser Verhaltensform, die geradezu die Reinform dessen ist, was man in der Psychologie delayed gratification nennt, setzte eine zunächst unerkannte, auf längere Sicht aber grundstürzende moralische Revolution ein: Alles eschatologisch ausgerichtete Handeln stürzt in den Abrund absoluter Entwertung, wenn sich das ursprüngliche Heilsversprechen in Luft auflöst. Menschliches Handeln hatte von Calvin an keinen inhärenten Wert mehr, also keinen Eigenwert. Dieser entstand ab jetzt ausschließlich durch Evaluierung seiner eschatologischen Effizienz. Im Laufe der Jahrhunderte hat sich dieses Ideologem als so wirkmächtig erwiesen, dass es nach nur teilweisem Abstreifen seiner religiösen Wurzeln im Zuge der Aufklärung und der anschließenden Industrialisierung daraus gereinigt und sogar noch erheblich gestärkt hervorging. Das Ideologem der Reduktion des Handlungswertes auf seinen Beitrag zur Erreichung des jeweiligen Handlungsziels (die von der Frankfurter Schuler so genannte 'instrumentelle Vernunft') ist heute, egal ob man Max Webers Aufzeig der protestantischen Berufsethik als Wurzel des Kapitalismus folgt oder nicht, wohl unbestreitbar der stärkste dynamische Aspekt im Wettbewerbsdenken kapitalistischer Profitmaximierung. Es ist, zum Imperativ des ewigen Fortschritts gewendet, der ideologische Kern des heute global dominanten Weltbildes.
Die US-amerikanische Gesellschaft, die im Übrigen immer noch deutlich ihre religiösen Wurzeln zur Schau trägt, ist das Musterbild und Großlabor einer solchen Sozialordnung. Sie hat wie keine andere auf der Welt jenes Ideal des mittlerweile säkularen Erlösungsdenkens zur obersten Maxime erhoben - unter manchen ihrer Präsidenten gar zum Staatsziel. In der melancholischen Kino-Hommage auf das alte Hollywood La La Land beweist eine Szene der beiden Hauptdarsteller kurz nach dem musikalischen Intro, dass dieses Ideologem mittlerweile fest in den innersten Gefühlkammern des Individuums angekommen ist. Die beiden Hauptdarsteller (Frau und Mann) kommen in ihrer ersten, eigentlich enorm romantischen Begegnung am Griffith Observatory in Los Angeles enttäuscht zu dem Schluss, dass aus ihrer noch sehr jungen Beziehung wohl nichts werden könne. Ihr Beisammen sein sei folglich "Zeitverwendung" (waste of time). Der gesamte weitere Film lässt sich als der Versuch verstehen, überhaupt einen Eigenwert ihrer Beziehung zu gewinnen und zu erhalten. Ersteres gelingt den beiden, letzteres leider nicht.
Die Sehnsucht nach Eigenwert
Das Vermächtnis Calvins produzierte in den Kernländern westlicher Kultur ein immer weiter wucherndes Problem: Was im Leben eines Individuums und in der Geschichte eines Kollektivs hat überhaupt noch einen Wert, wenn die alte, christliche Eschatologie nicht mehr greift, wohl aber die Vorstellung fortlebt, man müsse jetzt auf ein späteres besseres Leben hinarbeiten? Seiner christlich-ideologischen Wurzel nach hat das Leben auf Erden überhaupt keinen Eigenwert; das glaubte bereits das katholische Mittelalter. Erst das Jüngste Gericht bringt die endgültige Entscheidung, ob sich alle Mühe gelohnt hat - Endstation Paradies - oder nicht - Endstation Hölle. Wie aber können wir den Eigenwert in einer säkularen Welt zurückgewinnen? Wie können wir die Knechtschaft einer entgöttlichten Eschatologie abstreifen und damit wieder am eigenen Leben froh werden? Hier stellt sich am Ende die beißende Frage nach der Erfüllbarkeit des gesamten Fortschrittsversprechens: Fortschritt wohin?
Die im gesamten 20. Jahrhundert dominante amerikanische Antwort auf diese Frage lautete: Lasst uns der Welt zeigen, wie wir 'gemeinsam' das Gelobte Land erreichen und währenddessen zur Entspannung ein paar spaßige Illusionen produzieren, z.B. in Gestalt von Disneyland und zahllosen anderen Unterhaltungsformen. Das letztendliche Ziel dieser Industrie ist es, die ansonsten unerträgliche Mühe und Eigenwertlosigkeit des Alltags zu übertünchen. Denn das 'wirkliche' Leben beweist uns tagtäglich, dass es nicht nur äußerst anstrengend ist, sondern obendrein unsere Lebensträume sehr wahrscheinlich enttäuschen wird. Ein solcher naiver Hedonismus ist jedoch gefährlich. Wenn seine Anhänger, sofern sie nicht bereits vollkommen abhängig sind von ihrer täglichen Dosis Wirklichkeitsablenkung, plötzlich entdecken, dass ihr Traum nur eine Seifenblase war, die gerade zerplatzt, werden sie unweigerlich wütend. Das dürfte, grob gesagt, der Grund dafür sein, dass ein Donald Trump zum Präsidenten dieser plötzlich unstillbar empörten Masse wird.
Die Rückgewinnung des Eigenwerts ist kein Quietismus
Man könnte den Versuch, auch unter stark suboptimalen Lebensumständen den Eigenwert unseres individuellen und kollektiven Lebens und all unserer Bemühungen zurückzugewinnen, als eine Aufforderung zum Stillschweigen missverstehen, d.h. zur Akzeptanz des in Wirklichkeit vollkommen Inakzeptablen. Das wäre in der Tat fatal. Eine solche Deutung des Versuchs der Rückgewinnung des Eigenwerts unseres Lebens und Handelns verkennt aber das enorme Konfliktpotenzial, dass das Calvin'sche Ideologem bereits in uns sähte. Menschen, die ihr Leben als verfehlt und damit als unwert empfinden, sind nur einen kleinen Schritt vom Abgrund höchst aggressiver Verzweiflung entfernt. Allein ein Mensch, der zu seinem eigenen Leben als etwas abschließend Sinnvollem und damit auch Wertvollem steht, ist auch ein friedlicher, sozial positiv wirkender und damit wahrscheinlich sympatischer Mensch.
Doch welche Optionen haben wir überhaupt in Anbetracht unserer christlichen, ins Protestantisch-Radikale gewendeten Geschichte, unseren individellen und kollektiven Eigenwert zurückzugewinnen? Der Hedonismus ist, als Illusionsdroge appliziert, wie gesagt, eher eine Gefahr als die Lösung des Problems. Er birgt das Risiko, dass der soziale Druck immer weiter steigt und eine solche Gesellschaft sich am Ende in einer gewaltigen aggressiven Explosion selbst zerstört. Auch der neue, weltweit aufflammende Nationalismus scheint mir nur ein weiterer Versuch zu sein, angeblich neuen Wert den alten, sinnlos gewordenen Lebensformen einzuhauchen, hier mit dem Schwerpunkt eigener kollektiver Aufwertung zu Lasten der jeweils "anderen", die entsprechend stark abgewertet werden müssen, damit der so geschaffene Wert überhaupt spürbar wird. Wo also versteckt sich die psychosozial neue Idee, jenes heiß ersehnte Narrativ, das uns erzählt, warum unser Leben in jedem Falle sinn- und wertvoll ist, auch wenn wir unsere Ziele vielleicht nicht erreichen werden?
Selbstbesinnung
Die einzige mir bekannte Heilslehre, die ziemlich genau auf diese Frage eingeht, scheint mir der Buddhismus zu sein. Der Stoizismus kommt zwar zu ähnlicher Einsicht, lehrt aber keine Techniken, wie sich der Einzelne von seiner ideologischen oder affektiven Fremdbestimmung lösen kann. Nun sind Menschen westlicher Provenienz allerdings nur zum geringsten Teil gläubige Buddhisten. Die meisten von uns wollen es auch gar nicht werden, schon aus dem prinzipiellen Grund, nicht wieder einem neuen Glauben zu verfallen, wo sich doch der alte weiterhin als so desaströs erweist. Aber vielleicht ließe sich aus dem Buddhismus ein ähnliches, diesmal jedoch heilsameres Extrakt gewinnen wie seinerzeit aus dem calvinistisch-christlichen Glauben. Diese Essenz würde, grob gesagt, Techniken der Selbstbesinnung und der Distanz zum Alltag propagieren, die uns von jener ideologsichen Fremdbestimmung erlösen, unter der die westliche Kultur leidet. Sie könnte vielleicht den Bann jener Zwangsvorstellungen auflösen helfen, die hinter solchen Worten wie 'Wachstum', 'Marktmacht', 'Wettbewerb' und ähnlichen, inzwischen globalen gesellschaftlichen Kampfbegriffen stecken. Sie würde auch die inhärente Aggression dämpfen, die früher als missionarisches Sendungsbewusstsein, heute als kapitalistische Doktrin am Ende den ganzen Erdball biologisch zu verwüsten droht.
Diese Idee ist alles andere als neu. Bereits die Hippie-Bewegung der 1970er Jahre kultivierte sie, in mancher Hinsicht mit durchaus beachtlichem Erfolg. Den Kurs der westlichen Welt insgesamt vermochte sie allerdings nicht zu korrigieren. Lasst uns daran auch philosophisch arbeiten! Denn wie sagte schon Victor Hugo: "Nichts ist mächtiger als eine Idee, deren Zeit gekommen ist." (ws)
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