Die Welt als Hochseil (3. Teil)
Vom Wollen, Müssen, Sollen, Dürfen
Im vorangehenden 2. Teil dieses Beitrages beschrieb ich als Grundkonflikt aller menschlichen Sozialität den Widerspruch von individuellem und kollektivem Interesse. Die vielen, auch einander überlappenden Erfahrungsgemeinschaften, in denen wir uns bewegen, versöhnen uns teilweise mit diesem Konflikt. Sie können ihn aber nur mildern, nicht aufheben. Der schon lange vor der Genese des homo sapiens liegende Ursprung dieses Widerspruchs zeitigte auch in der Sprache des Menschen (und zwar, soviel ich weiß, in jeder Sprache) eine unübersehbare Spur, die interessante Aufschlüsse über seine Details gibt.
Ähnlich der grammatischen Funktion der Hilfsverben haben sich in den meisten Sprachen der Welt zwei Verbgruppen herausgebildet, die gewöhnlich erst in Verbindung mit anderen Verben, also analog den sog. Hilfs- und Vollverben, ihren vollen Sinn entfalten. Diese beiden Gruppen sind im Deutschen
a) ‚wollen’, ‚sollen’, ‚dürfen’ und ‚müssen’ einerseits und
b) ‚haben’ und ‚sein’ andererseits.
Die Grenze zwischen diesen beiden Gruppen ist eine sozialontologische, nicht nur eine linguistische. Dabei geht es im täglichen Umgang miteinander um den Unterschied zwischen dem Dynamisch-Veränderlichen und dem Statisch-Fixierten in allen sozialen Beziehungen. Die soziale Kraft, sozusagen der gesellschaftliche ‚Brennstoff’ hinter allem Tun von Akteuren, seien es menschliche Individuen oder organisierte Kollektive (in Webers Ausdrucksweise: ‚Verbände’) ist deren jeweiliges Interesse. Unsere Interessen sorgen für eine permanente Beziehungsdynamik. Die daraus resultierende permanente strukturelle Bewegung erkaltet nur unter besonderen Gleichgewichtsumständen zu einer fixierten Struktur, und das auch niemals ewig.
Zu (a): Wer selber ein Interesse geltend macht, der will etwas und darf dies vielleicht auch. Wenn dagegen an jemanden ein Interesse herangetragen wird, dann soll oder muss er darauf entsprechend reagieren. ‚Sollen’, ‚dürfen’ und ‚müssen’ bilden folglich eine eigene Untergruppe gegenüber dem Wollen. Sie repräsentieren die kollektiv-normative Regulierung gegenüber dem individuellen Wollen, das dadurch zum Gegenstand von Norm und Regulierung wird.
Zu (b): ‚Haben’ und ‚sein’ sind an sich selbst nicht interessensbelastet. Vielmehr sind sie das Resultat früherer Interessensausübung, sozusagen das manifeste Zeugnis vorangehender sozialer Dynamik.
Aus dieser Perspektive steht der jeweils interessierte Akteur[1] einem normativ-regulierenden sozialen Geflecht gegenüber, das sich ihm keineswegs immer als konkreter Gegner oder Förderer seiner Interessen darbietet. Vielmehr präsentiert es sich dem Akteur meist als übergeordnete soziale Ganzheit, vor deren Hintergrund sich wie vor einem Bühnenbild die Interessensbegegnungen der darin handelnden Akteure abspielen. Diese normative Hintergrundfolie wird selten im Alltag thematisiert, weil das zu einem Metadiskurs führen würde, der meist als lästig empfunden wird.
Wenn das Gegenüber im Nebel veschwindet
Tatsächlich prägen uns unsere sozialen Kollektive als uns umfangende Umwelten, d.h. gerade nicht als handelnde Gegen- oder Mitspieler unserer Interessen, sondern als sozialer Referenzrahmen aller darin Handelnden. Diese Prägung äußert sich z.B. in unserer Grundeinstellung zu unserer Lebenssituation insgesamt (im Deutschen gibt es dafür das anschauliche Wort ‚Lebensgefühl‘) und auch den meisten konkreten Sachverhalten. Dieser Einfluss ist aber, wenn man sich von jener Umfangung durch den Referenzrahmen etwas distanziert, keineswegs frei von den gesonderten und ganz eigenen Interessen des jeweiligen Kollektivs gegenüber anderen, teilweise konkurrierenden Kollektiven. Das Ausblenden dieser Kollektivinteressen durch jene Funktion des Umfangens, also dadurch, dass wir in das jeweilige Kollektiv mehr oder weniger unbewusst eingesunken oder eingebettet sind, verbirgt aber auch ein Risiko, und zwar die Gefahr, von den Kollektivinteressen unbemerkt instrumentalisiert, sprich: benutzt zu werden, und zwar unter Umständen durchaus stark entgegen den legitimen eigenen Interessen.
Das deutlichste Interesse eines jeden Kollektivs ist jenes am eigenen Fortbestand (ähnlich dem Selbsterhaltungsinteresse des Individuums), und das heißt im Kollektiv in erster Linie: an innerer Stabilität. Kollektive können aber auch in Spannungszustände geraten, die keineswegs stabilitätsorientiert sind. Ein extremer Fall dieser Art waren die sich gegenseitig in ihrer Kriegslust aufschaukelnden europäischen Nationen am Vorabend des 1. Weltkrieges. Es muss nicht immer katastrophal enden. Aber strukturell geschieht so etwas durchaus häufig, z.B. wenn infolge innerer Spannungen eines Kollektivs oder aufgrund von äußerer, tatsächlicher oder eingebildeter Bedrohung eine kollektive Aggression aufwallt. Dann beherrscht die ‚Stimmung’ alle einzelnen Mitglieder.
Wissen, auf welcher Bühne man spielt
Hier äußert sich nun eine fundamentale Asymmetrie. Der klare Interessensgegensatz konkreter Akteure kann ja noch relativ einfach angesprochen werden und ist an sich, selbst bei ungleicher Kräfteverteilung, strukturell nicht asymmetrisch. Dies gilt nicht im Falle des ‚Verschwindens‘ eines Kollektivs im Wahrnehmungshintergrund seiner Mitglieder. Unter solchen Umständen fällt es uns meist deutlich schwerer, uns gegenüber einem kaum ansprech- und greifbaren Referenzrahmen als selbständige Akteure wahrzunehmen; wir werden dadurch zu reinen Funktionen kollektiver Dynamik. Davor müssen wir auf der Hut sein: Wenn Kollektive unter der Tarnkappe eines uns umfangenden Hintergrundes verschwinden, laufen wir Gefahr, unverantwortliche Dinge zu tun, bis hin zu einer Art ‚Fernsteuerung’ des Individuums, die sich zu einer Art niederschwelligen Dauerhypnose (z.B. dem sog. ‚Brainwashing‘) steigern kann.
Dieser Befund ist nicht neu. Er bildet die Basis jeder Verstrickung in kollektive Gewalt. Sie paralysiert Täter und Opfer im Nachhinein gleichermaßen, weil niemand mehr versteht, wie das überhaupt passieren konnte. Die sozialontologische Struktur hinter solchen Ereignissen (die Zahl all der totalitären Gesellschaften, Firmen, Organisationen bis hin zu totalitären Familenclans überall auf der Welt in der Vergangenheit und Gegenwart ist Legion) lässt sich nicht auf einige Strippenzieher, Demagogen oder sonstige Führer oder Chefs reduzieren. Solche Leute hätten keine Chance, wenn sich der große dynamische Zusammenhang den übrigen Mitgliedern ihres Kollektivs nicht systematisch entziehen würde; regelmäßig äußert er sich neu im Gewand allgemeiner Aufwallung.
Unser Leben spielt sich auf einem Hochseil ab, schrieb ich zu Beginn dieses Essays. Damit meine ich, dass sich unsere Welt erst in der Spannung zwischen existenziellen Gegensätzen entfaltet. Dies ist keineswegs nur ein malerisch-aufregendes Bild. Jene dialektische Struktur kann für uns ziemlich unangenehm werden, wenn wir den jeweiligen Gegenpol einer solchen Spannungslage aus den Augen verlieren. Das gilt immer dann, wenn wir nicht mehr spüren, dass der Gegner oder Förderer unserer eigenen Interessen nicht nur jene konkreten Akteure mit ähnlichen oder entgegengesetzten Interessen sind, die wir fassen können, sondern dass es auch ein kollektives Gegenüber gibt, dass uns so grenzenlos umfängt, dass wir seine Anwesenheit gar nicht mehr spüren. Dann drohen Verantwortungslosigkeit und rohe Gewalt; schlimmstenfalls ist am Ende niemand und alle gleichzeitig schuld gewesen, und alle waren doch nur furchtbare Täter und schreckliche Opfer.
Starke Gefühle, aber warum eigentlich?
Wer unbeschadet über das besagte, existenzielle Hochseil jenes Widerspruchs zwischen sich als Individuum und seinen verschiedenen Kollektiven kommen möchte, der möge tunlichst die Pfähle und Haken im Auge zu behalten, zwischen denen sich unter seinen Fußsohlen das Seil seiner Lebensinteressen spannt. Darüber sollte er/sie sich insbesondere dann Rechenschaft ablegen, wenn er/sie vollkommen überzeugt ist, dass er/sie selbst oder jemand anderes etwas unbedingt will, soll, darf oder muss. Eine solche Redeweise ist verräterisch, wenn sie mit starken Gefühlen einhergeht. Woher kommt die Sicherheit, mit der ein solches Gefühl aufzutreten, gar aufzutrumpfen wagt? Worauf beruft es sich?
Soziale Hochseilakte bitte nur bei klaren Sichtverhältnissen.
Anmerkungen:
[1] ‚Der Akteur’ hat in dieser Ausdrucksweise ein lediglich grammatisches Geschlecht. Tatsächlich sind damit nicht nur Menschen weiblichen oder männlichen Geschlechts, sondern auch organisierten Kollektive umfasst, die eigene Interessen wahrzunehmen imstande sind.
(Autor: Wolfgang Sohst)
+ + +
(Kommentare zu diesem Beitrag sind erwünscht! Bitte begeben Sie sich dazu in die Momo-Lounge. Um einen Beitrag zu verfassen, können Sie sich dort formlos registrieren, falls sie dies nicht bereits sind. Herzlichen Dank.)