Die Bedeutung der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft im demokratischen Sozialstaat der Gegenwart

Von Ernst-Wolfgang Böckenförde

Ernst-Wolfgang Böckenförde
Gesellschaft und Staat: Nicht immer ein "dream team"

Während die klassische politische Theorie den Staat schon seit Thomas Hobbes (qua Vertrag der Gründungsmitglieder) über Lorenz von Stein (als Idee des Sozialstaats) bis zum modernen Institutionalismus z.B. bei Francis Fukuyama als Lösung des Problems ansieht, wie man den Einzelnen vor dem ungezügelten Egoismus seinesgleichen schützen kann, gibt es - um mit Freud zu sprechen - ein zunehmendes Unbehagen in der politischen Kultur angesichts einer immer umfassenderen und kaum mehr zu kontrollierenden Staatsmacht, die sich verselbständigt und tendenziell die Bürger weit über das Maß hinaus unterwirft, wie dies für das Gemeinwohl notwendig ist. Dies gilt keineswegs nur für autoritäre Staaten, sondern zunehmend auch für die westlichen "Kernländer" demokratischer Verfassung. Ernst-Wolfgang Böckenförde hat bereits im Jahre 1972, gegen den damaligen Mainstream, vor einer solchen Entwicklung mit wirkungsmächtigen Argumenten gewarnt. Sein Text hat nichts an Aktualität verloren. (Wolfgang Sohst)

Erstdruck in: Rechtsfragen der Gegenwart. Festgabe für Wolfgang Hefermehl zum 65. Geburtstag. W. Kohlhammer, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1972, S. 11-36.

Die Bedeutung der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft im demokratischen Sozialstaat der Gegenwart

Von Ernst-Wolfgang Böckenförde

Es gilt heute[1] als herrschende, wenn nicht gar allgemeine Meinung, dass die Trennung von ‚Staat’ und ‚Gesellschaft’ im Zeichen der mo­dernen Demokratie und der Entwicklung zum Sozialstaat überholt sei und theoretisch ihre Rechtfertigung verloren habe.[2] An die Stelle der dem 19. Jh. zugehörigen Trennung sei eine notwendige Verbin­dung von Staat und Gesellschaft getreten: es gebe, empirisch gese­hen, keine sogenannte staatsfreie, d.h. sich selbst regulierende Gesellschaft mehr, vielmehr sei die gezielte staatliche Intervention in gesellschaftliche Abläufe und deren Regulierung von bestimmten politisch-sozialen Zielsetzungen her eine gewohnte und notwendige Erscheinung, und umgekehrt könne, theoretisch-normativ gesehen, im Zeichen des demokratischen Prinzips der Staat nicht mehr als von der Gesellschaft losgelöst und ihr gegenüber eigenständig, sondern nur als deren Funktion und eine Form der „Selbstorganisation der Gesellschaft“ angesehen werden.[3] Mit dieser letzteren Kritik ver­bindet sich nicht selten ein ausgesprochener oder unausgesprochener Ideologieverdacht gegenüber jenen, die heute noch an der Trennung von Staat und Gesellschaft als einem verfassungstheoretischen und verfassungsorganisatorischen Prinzip festhalten: dies sei der Versuch einer Restauration einer gesellschaftstranszendenten staatlichen Autorität, die demokratisch illegitim sei.[4]

Angesichts dieser Lage soll im Folgenden versucht werden, zur Frage der Berechtigung und möglichen Bedeutung der Unterschei­dung von Staat und Gesellschaft in unserer gegenwärtigen Verfas­sungsordnung einige prinzipielle Überlegungen beizutragen. Zu diesem Zweck wird zunächst nach den historischen Grundlagen und Voraussetzungen der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft gefragt, d.h. aus welchen historisch-politischen Gegebenheiten heraus diese Unterscheidung entstanden ist und in welcher Weise sie sich entwickelt hat (I.); sodann ist zu erörtern, was die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft als verfassungsorganisatorisches Prinzip inhaltlich besagt und besagen kann und welcher Ausgestaltung sie fähig ist (II.); auf dieser Grundlage läßt sich dann ermitteln, ob und inwieweit die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft unter den Voraussetzungen einer demokratischen Staatsstruktur (III.) und angesichts des modernen Sozialstaats (IV.) Bestand haben und welche Bedeutung ihr dabei zukommen kann. Schließlich ist nach den Auswirkungen der zunehmenden Identifikation von Staat und Wirt­schaft auf das Verhältnis von Staat und Gesellschaft zu fragen (V.).

Die Unterscheidung von ‚Staat’ und ‚Gesellschaft’ ist keine allge­meine, für beliebige geschichtliche Epochen gültige Gegebenheit, sondern eine verfassungsgeschichtlich entstandene und bedingte.[5] Sie ist einerseits nicht das Erzeugnis bloßer Theorie, also ein abstraktes gedankliches Modell ohne Beziehung zur geschichtlichen Wirklich­keit, anderseits kann von einer Unterscheidung oder irgendwie gear­teten Trennung von Staat und Gesellschaft nur unter bestimmten, angebbaren Bedingungen der politisch-sozialen Ordnung, und so­lange diese Bedingungen fortbestehen, gesprochen werden. Das führt zu der Frage, welches die historischen Bedingungen sind, die zur Herausbildung der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft in der politisch-sozialen Wirklichkeit geführt haben.

1. Die politische Ordnung des Mittelalters und auch noch die Lan­desherrschaft der frühen Neuzeit sind dadurch gekennzeichnet, dass in ihr vielfach zerstreute und je begrenzte eigenständige politische Herrschaftsbefugnisse bestehen, ohne dass sich darüber eine umfas­sende, letztentscheidende politische Herrschaftsgewalt erhebt.[6] Die Unterscheidung, das Auseinandertreten von ‚Staat’ und ‚Gesellschaft’ wird dadurch vorbereitet, dass die vielfach zerstreuten politischen Herrschaftsbefugnisse zunehmend bei einer Person bzw. Instanz konzentriert und dort planmäßig zu einer einheitlichen und um­fassenden politischen Herrschaftsgewalt organisiert und ausgebaut werden; Gerichts- und Jurisdiktionsbefugnisse, insbesondere das sich ausweitende Gesetzgebungsrecht, die Ausübung von Hoheitsrechten, der Befehl über Polizei und Heer u. a. m. werden dem Anspruch und stufenweise der Realität nach (allein) Sache des Landesherrn bzw. Monarchen und der von ihm Beauftragten; sie können von anderen Personen nur in seinem Namen, als von ihm delegierte (und damit begrenz- und rücknehmbare) Befugnisse ausgeübt werden.[7] Auf diese Weise entsteht aus der herrschaftlich-politisch durchform­ten und geschichteten Gesellschaft (societas civilis cum imperio) des Mittelalters und der frühen Neuzeit auf der einen Seite die einheit­liche und umfassende, gegenüber ihren individuellen Trägern orga­nisatorisch verselbständigte Staatsgewalt, auf der andern Seite die einheitliche neue Gesellschaft (societas civilis sine imperio) der dieser Staatsgewalt Unterworfenen.[8] Die Französische Revolution voll­endet hier nur, was die absoluten Monarchen erstrebten, und wech­selte dabei den Träger der einheitlichen Staatsgewalt aus.[9]

Der junge Karl Marx[10] hat diesen Vorgang sehr klar gesehen und beschrieben. „Die alte bürgerliche Gesellschaft“, heißt es bei ihm, „hatte unmittelbar einen politischen Charakter, d.h. die Elemente des bürgerlichen Lebens, wie z. B. der Besitz oder die Familie oder die Art und Weise der Arbeit, waren in der Form der Grundherrlichkeit, des Standes und der Korporation zu Elementen des Staatslebens erhoben.“ „[...] Die politische Revolution [...], welche den politischen Staat als allgemeine Angelegenheit, d.h. als wirk­lichen Staat konstituierte, zerschlug notwendig alle Stände, Korporationen, Innungen, Privilegien, die ebenso viele Ausdrücke der Trennung des Volkes von seinem Gemeinwesen waren. [...] Sie zerschlug die bürgerliche Gesell­schaft in ihre einfachen Bestandteile, einerseits in die Individuen, ander­seits in die materiellen und geistigen Elemente, welche den Lebensinhalt, die bürgerliche Situation dieser Individuen bilden. Sie entfesselte den poli­tischen Geist, der gleichsam in die verschiedenen Sackgassen der feudalen Gesellschaft zerteilt, zerlegt, zerlaufen war[...].“

2. Mit der Konzentrierung und dem organisatorischen Ausbau der bis dahin zerstreuten politischen Herrschafts- und Entscheidungs­gewalt ergibt sich zugleich der bei Marx angedeutete Umbau der alten ‚Gesellschaft’. Denn diese Konzentrierung bedeutet, dass die zahlreichen Zwischengewalten und Statusordnungen der alten Ge­sellschaft Stück um Stück abgebaut und eingeebnet, ihres herrschaft­lich-politischen Charakters entkleidet werden. Die Einzelnen werden zunehmend aus der herrschaftlich-politischen Einbindung in die konkreten Herrschafts- und Lebensordnungen der alten Gesellschaft (Grund-, Stadt-, Kirchen-[Kloster-]Herrschaft) freigesetzt; es bleibt — und tritt dadurch besonders hervor — die Herrschaftsbeziehung Monarch (Landesherr) — Untertan, die eine unmittelbare wird und sich, im Zuge der gedanklichen Verselbständigung der ,staatlichen` Herrschaftsbefugnis gegenüber der Person des Monarchen, zur Be­ziehung Staat—Untertan umformt. Das Prinzip, das zur Verwirk­lichung drängt, ist folgendes: Nicht mehr bestimmte einzelne sollen über andere einzelne Herrschaftsgewalt ausüben, nicht ein Stand (Adel) über einen anderen (Bauern), sondern nur der Träger der umfassenden staatlichen Gewalt einheitlich gegenüber allen; im Übrigen ist der einzelne ,frei’, d.h. frei von anderer als staatlicher Herrschaftsgewalt. Das entspricht der Sozialtheorie und Staatsbe­gründung des Vernunftrechts, die die ursprüngliche Freiheit und Gleichheit des Individuums als Prämisse setzt und über den Individuen nur eine, und zwar einheitliche Entscheidungs- und Ordnungsgewalt begründet, der alle in gleicher Weise unterworfen sind.[11]

Diese Umbildung der Gesellschaft macht aus den Ständen, die bis dahin herrschaftlich-politische Bildungen und gegeneinander abge­schlossene Rechtsklassen waren, soziale Schichten. Soweit sie noch einzelne Herrschaftsrechte behaupten, wie z. B. der grundbesitzende Adel in Preußen, die gutsherrliche Gerichtsbarkeit bis 1848 und die gutsherrliche Polizei bis 1878, sind sie ‚privilegierte` Untertanen mit Vorzugsrechten gegenüber den anderen. Der Maßstab, von dem aus ihre Stellung nunmehr als Privileg erscheint, ist der der rechtlichen Gleichheit, und zwar sowohl in der Unterordnung aller einzelnen unter die eine Staatsgewalt als auch in der Unabhängigkeit der ein­zelnen im Verhältnis zueinander: die „Subjekt“-stellung im doppel­ten Sinn.

Auf diese Weise entsteht die neue, dem Staat als der Organisation der einheitlichen politischen Herrschafts- und Entscheidungsgewalt gegenüberstehende Gesellschaft der ‚freien’ und rechtlich gleichen einzelnen und ihrer Gruppierungen.

3. Der organisatorische Ausbau der einheitlichen Staatsgewalt bringt nicht nur eine Konzentrierung und Erweiterung der politi­schen Herrschaftsrechte zu einer umfassenden politischen Entschei­dungsgewalt und die Verselbständigung und ,Objektivierung‘ dieser Entscheidungsgewalt gegenüber der Person und dem Belieben des Monarchen,[12] er bringt auch eine Bindung und Begrenzung dieser Entscheidungsgewalt. Das ist die andere, nicht selten übersehene Seite der Entwicklung. Diese Bindung und Begrenzung erfolgt durch die Aufstellung und Verbindlichmachung grundlegender Staats­zwecke; diese Staatszwecke begleiten die Errichtung und den Aus­bau der Staatsgewalt von Anfang an.[13] Sie sind es, die das „Um­willen“ des Staates ausmachen, die die Unterwerfung der Einzelnen unter die sich konzentrierende staatliche Macht und Entscheidungs­gewalt sinnvoll begründen und den Staat als Institution der Allge­meinheit von einer zufälligen Machtzusammenballung unterscheiden. Es ist die Funktion dieser Staatszwecke, die Ziele und die Reichweite der organisierten staatlichen Entscheidungsgewalt gegenüber den einzelnen und der freigesetzten Gesellschaft zu bestimmen und zu begrenzen. Der Einzelne und die Gesellschaft sollen dem Zugriff des Staates, seiner Organisierung und Aktualisierung individueller Ver­haltensleistungen nicht total, d.h. in jeder Hinsicht, sondern nur in bestimmter Hinsicht und bestimmten Bereichen, eben jenen, die für die Erreichung der Staatszwecke notwendig sind, unterworfen sein. Was jenseits dessen liegt, bleibt in einem spezifischen Sinn vorstaat­lich, von staatlicher Organisierung und Aktualisierung frei: die Freiheitssphäre der Individuen und der Gesellschaft. Ihren Nieder­schlag findet diese Bestimmung und Begrenzung der staatlichen Ent­scheidungsgewalt in den individuellen Freiheitsrechten, am nach­drücklichsten in der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 4.8.1789.[14] Sie sind Richtmaß und Ausgrenzung für die Freiheit der Individuen, aber auch für die Freiheit der Ge­sellschaft als der Individuen in ihrem sozialen Zusammenhang.

4. Diese Begrenzung und Zweckbindung der staatlichen Entschei­dungsgewalt (und damit des Staates selbst) gegenüber dem einzelnen und der Gesellschaft erfolgt in der französischen Revolution und durch die bürgerliche Freiheitsbewegung in einer spezifischen Weise, die den Charakter der Gesellschaft als Erwerbsgesellschaft begrün­det. Die tragenden Elemente sind die Herstellung und Gewähr­leistung der (bürgerlichen) Rechtsgleichheit, der allgemeinen Er­werbs- und Vertragsfreiheit, der Freizügigkeit und der Garantie des erworbenen Eigentums. Die Fesseln des bürgerlichen Erwerbs, die für die alte Gesellschaft durch das ständisch und korporativ gebun­dene Berufs-, Gewerbe-, Eigentums- und auch persönliche Recht, das seine Erscheinungsform im ‚Privileg’ hatte, bestimmend waren,[15] werden beseitigt. Sie werden ersetzt durch ein neues, auf die Ver­wirklichung der Rechtsgleichheit, Erwerbs- und Vertragsfreiheit usf. abzielendes allgemeines Recht, dessen Ausgangs- und Bezugs­punkt die freie, selbstbestimmte und erwerbsorientierte Einzelper­sönlichkeit ist.[16] Durch die Schaffung und Gewährung dieser neuen ‚bürgerlichen’ Rechtsordnung setzt der Staat die Gesellschaft in den Erwerb und zum Erwerb frei; sie wird im spezifischen Sinn „bür­gerliche Gesellschaft“. In der Entfaltung ihrer Produktivkräfte auf dem Boden der Rechtsgleichheit und Erwerbsfreiheit führt sie einer­seits neue (ökonomische) Macht- und Gruppenbildungen (sog. wirt­schaftlich-sozialer Pluralismus), anderseits den sozialen Antagonismus herauf. Denn die Trias von Rechtsgleichheit, Erwerbsgleichheit, Erwerbsfreiheit und Garantie des erworbenen Eigentums baut nicht nur alte Privilegien ab, sie ermöglicht zugleich die volle Entfaltung der natürlichen und besitzbestimmten Ungleichheit der Menschen, aus der sich im Zuge des ökonomischen Prozesses dann, vermittelt durch die Garantie des Eigentums, die soziale Klassenspaltung er­gibt.[17] So ist es die Gesellschaft selbst, die aus sich heraus (neue) soziale Ungleichheit und Unfreiheit hervorbringt und den Staat mit dem Problem der „sozialen Frage“ konfrontiert.

5. Mit der Herausbildung des Sich-Gegenüberstehens von ‚Staat’ und ‚Gesellschaft` ergibt sich ferner (zugleich) das Problem des An­teils der Gesellschaft an der staatlichen Entscheidungsgewalt und ihrer Ausübung. In ihrer Entstehung war die Gesellschaft, zunächst von der staatlichen Herrschaftsorganisation und den sie tragenden Schichten streng gesondert. Der Staat setzte die Individuen und die Gesellschaft in die bürgerliche Freiheit, er erhielt sie darin durch die Schaffung und Gewährleistung der neuen allgemeinen Rechtsord­nung, aber die einzelnen und die Gesellschaft erlangten keine poli­tische Freiheit, d.h. keinen Anteil an der beim Staat konzentrierten politischen Entscheidungsgewalt und keine institutionalisierte Mög­lichkeit der aktiven Einflussnahme auf sie. Der Staat als Herrschafts­organisation stand gewissermaßen in sich selbst, d.h. soziologisch getragen von Königtum, Beamtentum und Heer, teilweise auch dem Adel[18], und war als solcher von der durch das Bürgertum repräsentierten Gesellschaft organisatorisch und institutionell ‚ge­trennt’.

Diese Verhältnisbestimmung und Zuordnung von Staat und Ge­sellschaft entsprach der Phase des Spätabsolutismus und frühen Kon­stitutionalismus, vor allem in Deutschland. Aber sie bezeichnete nur eine bestimmte historische Phase, nicht das Prinzip dieser Zuordnung. Schon die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, Art. 6[19], ging davon aus, dass die staatliche Gesetzgebungs-Gewalt, als das wesentliche Ordnung- und Lenkungsmittel des Staates für die Gesellschaft, notwendig gebunden sei an die Zustimmung des Volkes bzw. von ihm gewählter Repräsentanten. Das bedeutete die Forderung und Anerkennung der Einflussnahme auf den Staat bzw. das sogenannte Staatshandeln durch die Gesellschaft und aus der Ge­sellschaft heraus. In die gleiche Richtung zielten die konstitutionellen Verfassungen, indem sie das Erfordernis der Zustimmung der Volks­vertretung zu allen Gesetzen bzw. zu solchen, die „Freiheit und Eigentum der Bürger“ betreffen, festlegten[20], und ebenso die früh­liberale und nachhegelsche Staatslehre, die die bestimmende Teil­nahme der Bürger an der gesetzgebenden Gewalt zu einem wesent­lichen Begriffsmerkmal des Gesetzes selbst zählte.[21] An die Stelle einer strikten Trennung im Sinne des vielberufenen „Dualismus“ von Staat und Gesellschaft trat eine verfahrensmäßig und institutio­nell ausgeformte Wechselbeziehung zwischen Staat und Gesellschaft auf der Grundlage ihrer organisatorisch-institutionellen Unterschei­dung. Welche konkrete Ausgestaltung diese Wechselbeziehung je nach der politischen und verfassungsrechtlichen Lage annehmen konnte und dass sie den Übergang zur demokratischen Staatsform keineswegs ausschloss, hat dann bereits 1850 Lorenz von Stein in seiner Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich, in der er die all­ gemeine Entwicklung in Europa am paradigmatischen Beispiel Frankreichs vorausgreifend analysierte, dargetan.[22]

II.

Die Betrachtung der historisch-politischen Grundlagen der Unter­scheidung von Staat und Gesellschaft und des geschichtlichen Ent­wicklungsgangs, in dem sie sich herausgebildet und ihre nähere Ausgestaltung erfahren hat, lässt erkennen, dass der Inhalt der Un­terscheidung und Gegenüberstellung von Staat und Gesellschaft nicht eine strikte ‚Trennung`, geschweige denn Beziehungslosigkeit oder Unverbundenheit zwischen beiden Größen sein kann. Das wird durch systematische Überlegungen noch weiter bestätigt.

1. Der Staat ist, wie andere politische Ordnungsgebilde auch, seinem Wesen nach keine substantielle Einheit, auch kein ‚Gemein­wesen‘, wie eine heute verbreitete Kennzeichnung lautet, sondern eine Organisation, genauer: eine organisierte Wirkeinheit.[23] Das besagt, dass er seine Einheit und Realität nicht in einem (hypostasier­ten) einheitlichen Willen oder einer sozialpsychischen Erlebniseinheit hat, sondern in einem organisierten Handlungs- und Wirkungszu­sammenhang. Als organisierte Wirkeinheit entsteht und besteht der Staat dadurch, dass einzelmenschliches Wirken durch leitende Or­gane zusammengefasst, einheitlich gelenkt bzw. ausgerichtet und aktualisiert wird. Er kann also nicht unabhängig von menschlichen Personen gedacht werden, die im eigentlichen Sinn seine „Träger“ sind, d.h., die den organisierten Handlungs- und Wirkungszusam­menhang, als der er sich darstellt, durch ihr planendes, entscheiden­des, ausführendes Handeln aktualisieren und verwirklichen. Diese menschlichen Träger kommen indessen selbst aus der Gesellschaft bzw. aus einer bestimmten Schicht oder Gruppe der Gesellschaft. Sie können zwar, indem sie sich ihre staatliche Aufgabe und Rolle, näm­lich die Angelegenheiten der Allgemeinheit zu besorgen, ganz zu eigen machen, ihre gesellschaftliche Gebundenheit und Interessen­lage „überschreiten“, sich dazu in ein Verhältnis der Distanz set­zen[24], aber sie hören nicht schon eo ipso auf, auch Glieder der Gesellschaft zu sein. Es besteht immer die Möglichkeit und Gefahr, dass sie die staatlichen Herrschafts- und Entscheidungspositionen nicht nur im Sinne der notwendigen allgemeinen Angelegenheiten, sondern auch (oder primär) zugunsten partikulärer, gesellschaftlich­gruppenmäßiger Ziele handhaben und aktualisieren.[25]

Auf der andern Seite ist der Staat, als organisierte politische Ent­scheidungseinheit, in seiner Tätigkeit funktional auf die Gesellschaft bezogen. Er nimmt für die Gesellschaft eine notwendige, ihren Be­stand bedingende Erhaltungs-, Sicherungs- und auch Veränderungs­funktion wahr[26], indem er Verfahren und Instanzen zur friedlichen Konfliktregelung bereitstellt (Rechtsschutz und Rechtsdurchsetzung), indem er durch Gesetze die Rahmenordnung festlegt und garantiert, innerhalb deren die freie, staatlich nicht gelenkte Tätigkeit und Entfaltung der Gesellschaft sich abspielen kann, indem er Gefahren für den Bestand und die Sicherheit der Gesellschaft durch eingreifen­de oder vorbeugende (planend-koordinierende) Maßnahmen ab­wehrt. Staat und Gesellschaft sind also nicht zwei je geschlossene, voneinander isolierte Verbände oder Gemeinwesen,[27] der Staat ist vielmehr die politische Entscheidungseinheit und Herrschaftsorga­nisation für eine Gesellschaft (oder, wenn man will, „über“ ihr); er steht in notwendiger und mannigfacher Wechselbeziehung mit dieser, ohne darum aufzuhören, von ihr organisatorisch und funktional unterschieden und gesondert zu sein. Diese organisatorische Zusam­menfassung und Verselbständigung der politischen Entscheidungs­funktionen, ihre relative Herauslösung aus gesellschaftlicher Unmittelbarkeit ist es gerade, die einerseits die innerstaatliche Friedenseinheit möglich macht, anderseits die wirksame funktionale Reduzierung und Zweckausrichtung aller politischen Entscheidungs­gewalt zugunsten der individuellen Freiheit. Erst im totalitären System, wenn dem staatlichen, d.h. herrschaftlich-politischen Zu­griff auf individuelle Verhaltensbereiche und die Verhaltensaktua­lisierung der Individuen keine Grenze mehr gezogen ist, ihm nichts mehr im eigentlichen Sinn vorausliegt, fallen Staat und Gesellschaft ineinander und kommt es zur sogenannten „Identität“ von Staat und Gesellschaft; sie bedeutet zugleich das Ende der individuellen Freiheit.

2. Damit wird deutlich, dass die vielfache Kritik an der Unter­scheidung und Gegenüberstellung von Staat und Gesellschaft weit­gehend von falschen Voraussetzungen ausgeht. Diese falschen Voraussetzungen beruhen einmal auf der Auffassung, dass es sich bei der Unterscheidung und Gegenüberstellung von Staat und Gesell­schaft um eine solche von zwei Verbänden oder Gemeinwesen han­delt,[28] zum andern darauf, dass unterstellt wird, der notwendige Inhalt dieser Unterscheidung und Gegenüberstellung sei eine strikte Trennung und Unverbundenheit.[29] Das führt dann dazu, dass eine bestimmte Phase in der konkreten Ausgestaltung des Beziehungs­verhältnisses von Staat und Gesellschaft, nämlich die des Spätabso­lutismus und frühen Konstitutionalismus, mit der Unterscheidung und Gegenüberstellung von Staat und Gesellschaft überhaupt gleich-gesetzt wird. Da die Voraussetzungen jener Phase heute in der Tat entfallen sind, wird folgeweise die Unterscheidung und Gegen­überstellung im Ganzen für überholt erklärt. Die Blickverengung des Ausgangspunktes lässt übersehen, welche institutionellen Freiheitssicherungen dabei mit für überholt erklärt werden, weil sie durch die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft bedingt sind.[30]

Exkurs: In der modernen Soziologie, insbesondere soweit sie systemtheo­retisch geprägt ist, hat sich der Sprachgebrauch durchgesetzt, den Staat als ein „Untersystem“ der Gesellschaft zu bezeichnen, und zwar als dasjenige Untersystem, dessen Funktion die Produktion politischer Entscheidungen und deren Durchsetzung ist (Niklas Luhmann, Grundrechte als Institution, 1965, S. 15 ff.). Hier wird der Begriff „Gesellschaft“ weiter gefasst, näm­lich als das Gesamt zwischenmenschlicher Beziehungen. Von diesem Aus­gangspunkt, der für die Soziologie als Wissenschaft von sozialem Handeln seinen Sinn hat, ist es dann folgerichtig, vom Staat als einem Teil oder Untersystem der Gesellschaft zu sprechen. Die Unterscheidung und Gegen­überstellung von Staat und Gesellschaft als staatstheoretisches und ver­fassungsrechtliches Problem, die hier interessiert, ist damit denn auch weder widerlegt noch erledigt; sie wird nur in einem anderen Begriffsrah­men diskutiert (etwa bei Luhmann, a. a. 0., S. 17-24). Um terminolo­gischen Missverständnissen zu begegnen, wäre dieses Problem in der soziologischen Begriffssprache dahin zu formulieren, dass im Zuge einer bestimmten geschichtlichen Entwicklung die politisch-soziale Ordnung der Gesamtgesellschaft in der Weise ausgebildet wird, dass alle politischen Entscheidungsfunktionen bei der Organisationseinheit „Staat“ zusammen­gefasst und gegenüber anderen Handlungssystemen relativ verselbständigt werden und dass diese Organisationseinheit Staat durch die allein ihr zu­kommende verbindliche Regulierungs- und politische Entscheidungsfunk­tion, die auf die andern Handlungssysteme (Wirtschaft, Kultur, Religion usw.) bezogen ist und sie steuert, diesen Handlungssystemen, d.h. der Ge­sellschaft im engeren Sinne, nicht gleichordnet, sondern auf einer andern Ebene gegen­übersteht, weshalb diese Gesellschaft auf den staatlichen Entscheidungs­prozess jeweils Einfluss zu gewinnen sucht.

3. Das Ergebnis der vorangegangenen Überlegungen lässt sich dahin formulieren, dass die Herausbildung der Unterscheidung und das Sich-Gegenübertreten von Staat und Gesellschaft notwendiger­weise ein je nach konkreter Ausgestaltung verschiedenartiges, immer aber vorhandenes und wirksames Beziehungsverhältnis zwischen beiden konstituiert. Dieses Beziehungsverhältnis ist zu bestimmen als eine Wechselbeziehung (dialektischer Art) auf der Grundlage einer organisatorischen Unterscheidung und Trennung. Der Staat (als organisierte Wirk- und Entscheidungseinheit) gibt und erhält der Gesellschaft ihre (Rechts-)Ordnung, wirkt in sie hinein und erbringt Leistungen für die Gesellschaft. Die Gesellschaft, d.h. die Individuen als einzelne und in ihren Gruppierungen, ist daher not­wendigerweise an der Art der Festlegung und dem Inhalt staatlicher Entscheidungen interessiert. Daraus ergeben sich Aktionsprozesse aus der Gesellschaft auf den Staat hin. Die Gesellschaft, genauer: gesellschaftliche Gruppen oder Wirkbereiche, suchen auf die staat­lichen Entscheidungsorgane Einfluss zu nehmen, sie sich dienstbar zu machen oder mit eigenen Vertrauenspersonen zu besetzen, um da­durch die staatliche Entscheidungsgewalt und Wirkmacht zugunsten ihrer Interessen zu aktualisieren. Umgekehrt ist der Staat, genauer: die staatliche Organisationseinheit für ihr Wirken, nicht zuletzt für die Effektivität der in ihr getroffenen Entscheidungen, auf die Lei­stungen und Leistungsbereitschaft der Gesellschaft angewiesen.[31] Sie bedarf, um mächtig zu sein, durchaus eines Konsenses in der Gesell­schaft für ihre Maßregeln und Entscheidungen. Das notwendige Maß dieses Konsenses ist unterschiedlich, je nach der durch die Staats­form bedingten Ausgestaltung der Wechselbeziehung zwischen Staat und Gesellschaft und nach der Bewusstseinslage in der Gesellschaft; es ist in der Diktatur geringer als in der Demokratie, aber entbeh­ren kann diesen Konsens kein Staat.[32] Die leitenden staatlichen Organe einschließlich der sie jeweils tragenden Gruppen suchen daher Einfluss in die Gesellschaft hinein zu nehmen, um deren Lei­stungsbereitschaft zu erhalten oder zu erhöhen und dadurch die (eigene) staatliche Wirkmacht zu verteidigen oder zu befestigen; in dem Maße dies gelingt, verstärkt oder erhält sich das Aktionsfeld für staatliche Entscheidungen.

Auch die Realisierung der geistigen und ethischen Gehalte des Staates, in denen die staatliche politische Entscheidungsgewalt letzt­lich ihre Begründung und Rechtfertigung findet, unterliegt dieser Art Wechselbeziehung; sie ist nicht mit der staatlichen Organisations­einheit ein für alle Mal, gewissermaßen von selbst, gegeben. Sie wird dadurch bewirkt, dass die jeweiligen Träger der staatlichen Entschei­dungspositionen, die selbst in gesellschaftlichen Bezügen stehen bzw. aus ihnen kommen, sich in die Zweckausrichtung und Verantwort­lichkeit staatlicher Ämter und Befugnisse hineinstellen, und dass ihr davon getragenes Handeln bei den einzelnen und in der Gesellschaft Widerhall findet in einem lebendigen Engagement für die allgemei­nen, d.h. allen gemeinsamen Angelegenheiten.

4. Erkennt man diese spezifische Eigenart des Beziehungsverhält­nisses zwischen Staat und Gesellschaft, so zeigt sich, welches die Grundfrage für seine konkrete Ausgestaltung ist. Sie liegt in der (verfassungsrechtlichen) Festlegung der Art, verfahrensmäßigen Ge­staltung und Begrenzung der Einflussnahme aus der Gesellschaft auf den Staat hin, also insbesondere der Organisation und Ausgestaltung des Prozesses der politischen Willensbildung und staatlichen Ent­scheidung, sowie der Art, Ausgestaltung und Begrenzung der staat­lichen Einflussnahme und Durchführung staatlicher Entscheidungen in die Gesellschaft hinein. Es ist dies zugleich die Grundfrage der Staats- und Verfassungsform. Diese Festlegung bzw. Ausgestaltung kann, führt man die vielfältigen Variationsmöglichkeiten auf einige Grundmuster zurück, erfolgen im Sinne einer offenen Wechselbezie­hung zwischen Staat und Gesellschaft, im Sinne eines einseitig de­terminierten Beziehungsverhältnisses der Gesellschaft zum Staat hin oder im Sinne eines einseitig determinierten Beziehungsverhältnisses des Staates in die Gesellschaft hinein.

Je nach dem maßgeblichen Grundmuster lassen sich verschiedene Typen oder Modelle der Ordnung des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft unterscheiden.[33] Das autoritäre Modell zielt auf die Eigenständigkeit und Unabhängigkeit der politischen Entscheidungs­sphäre des Staates von Einwirkungen aus der Gesellschaft; die staat­liche Herrschaftsorganisation wird gegenüber der Gesellschaft als in sich selbst stehend abgesondert, d.h. die den Staat tragende Gruppe steht nicht in Konkurrenz um die Ausübung staatlicher Herr­schaftsmacht. — Das demokratisch-liberale Modell geht von einer geregelten Teilnahmemöglichkeit aller an der politischen Willens­bildung und einem offenen Zugang zu den staatlichen Entscheidungs­positionen aus, ungeachtet der festgehaltenen Grenzen staatlicher Einwirkung auf die Gesellschaft. — Das institutionelle Modell, eine Zwischenform zwischen autoritärem und demokratisch-liberalem Modell, sucht die staatliche Wirkeinheit in konkreten Institutionen zu verkörpern, die nicht von der Gesellschaft streng abgesondert, sondern Institutionen der Vermittlung (Hegel) sind, wie z. B. Be­amtentum, berufsständische Korporationen, gemeindliche Selbstver­waltung und auch (aber nicht allein) die Volksvertretung. — Das totalitäre Modell schließlich bedeutet die Aufhebung der Gegen­überstellung von Staat und Gesellschaft; es enthält einerseits eine unbegrenzte Ausdehnung der staatlichen Zuständigkeit, um den herr­schaftlich-politischen Zugriff auf das soziale Ganze und das Indivi­duum in allen seinen Lebensäußerungen zu ermöglichen, und macht anderseits den Staat zum reinen Instrument oder Vollzugsorgan einer gesellschaftlichen Gruppe, der Partei, wodurch der Charakter des Staates als übergreifende Organisation, seine Ausrichtung auf die All­gemeinheit aufgehoben wird.

III.

Ungeachtet der bisherigen Überlegungen stellt sich das Problem der Unterscheidung und Gegenüberstellung von Staat und Gesell­schaft in der Demokratie, genauer: in einem demokratisch organi­sierten Staat in besonderer Weise. Nach dem demokratischen Prinzip, wie es auch das GG in Art. 20 II 1 festlegt, muss sich alle staatliche Entscheidungsgewalt auf das Volk zurückführen; sie muss sich vom Volk her konstituieren, durch periodische Wahlen in die staatlichen Entscheidungsordnungen oder Entscheidungen des Volkes selbst, und dem Volk gegenüber legitimieren, durch eine Verantwortlich­keits- und Kontrollbeziehung zum Volk selbst oder von ihm kon­stituierter Organe. Da aber das Volk, konkret betrachtet, nicht ‚neben’ oder ‚vor` der Gesellschaft existiert, sondern insgesamt ge­nommen (auch) die Gesellschaft ist, welchen Sinn und welche Not­wendigkeit soll dann die Unterscheidung und Gegenüberstellung von Staat und Gesellschaft noch haben? Muss sie nicht zu einer Re­lativierung des demokratischen Prinzips, einer Begrenzung oder sogar teilweisen Aufhebung der jeweiligen Maßgeblichkeit des Volkswillens führen?

1. Die Aufrechterhaltung der Unterscheidung und Gegenüber­stellung von Staat und Gesellschaft im demokratischen Staat bedeu­tet nicht die Aufhebung des demokratischen Prinzips, wohl aber eine gewisse Begrenzung und Einbindung desselben zum Zwecke der Sicherung der individuellen und gesellschaftlichen Freiheit. Die demokratische, sich vom Volk her konstituierende Herrschafts- und Entscheidungsgewalt wird auf diese Weise eingebunden in eine Ver­mittlung: Einerseits wird die demokratische Willensbildung und Mitwirkungsfreiheit für die Entscheidungen der Organisationsein­heit Staat durchgeführt, der Staat wird ‚demokratischer` Staat, auf der andern Seite wird die Begrenzung und Funktionsreduzierung der Staatsgewalt im Hinblick auf die individuelle und gesellschaft­liche Freiheit, die in der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft angelegt ist, beibehalten. Die Freiheit wird also ,doppelt genäht’: zur politischen Freiheit der Mitwirkung und Mitbeteiligung aller an den Entscheidungen der Staatsgewalt tritt hinzu die bürgerliche Freiheit der Einzelnen und der Gesellschaft vor bestimmten Zugriffen der Staatsgewalt überhaupt. Eben diese Konstituierung und zugleich Einbindung des demokratischen Prinzips um der doppelten Siche­rung der Freiheit willen ist es, für die sich das Grundgesetz entschie­den hat, wenn es die Demokratie als rechtsstaatliche, freiheitliche Demokratie verfasst (Art. 20 II u. 28), die Grundrechte auch für den Gesetzgeber verbindlich macht (Art. 1 III) und ihren Kerngehalt für unantastbar erklärt (Art. 19 II, 79 III).[34]

Wird demgegenüber die Funktionsreduzierung des Staates unter Berufung auf den demokratischen Charakter der staatlichen Ent­scheidungsgewalt aufgegeben, so reduziert sich die Freiheit auf die demokratische Mitwirkungsfreiheit. Denn eine Allzuständigkeit der demokratischen staatlichen Entscheidungsgewalt, eben weil sie de­mokratisch ist, bedeutet zugleich, dass die Einbeziehung des einzelnen und der Gesellschaft in die staatliche Entscheidungsgewalt total wird. Demokratie heißt dann, dass alle über alle alles beschließen können;[35] es gibt nur noch eine (Mitwirkungs-)Freiheit im demo­kratischen Prozess, nicht mehr eine Freiheit gegenüber dem demo­kratischen Prozess. Das Ergebnis ist die totale Demokratie, in der der einzelne voll und ganz Glied des demokratischen Kollektivs ist, und die eben darum notwendigerweise einen totalitären Charakter annimmt.

An dieser Stelle zeigt sich die Ambivalenz des Begriffs „Demo­kratisierung“.[36] Demokratisierung kann eine sinnvolle politische Forderung sein, wenn sie bedeutet, dass die demokratische Struktur der staatlichen Entscheidungsgewalt verbessert und dass gesellschaft­liche Machtpositionen, die die Freiheit anderer oder den demokra­tischen Staat selbst gefährden, demokratischer Kontrolle unterstellt werden müssen. Bedeutet sie hingegen, dass alle Bereiche gesellschaft­licher Freiheit einer ‚demokratischen` Bestimmungsgewalt partieller Kollektive unterstellt werden müssen, um so die Gesellschaft einer­seits vom Staat ‚frei’ zu machen und anderseits in sich zu demokra­tisieren, so ist sie eine Wegmarke zum Totalitarismus. Sie löst dann eben jene Konzentrierung der politischen Entscheidungsgewalt bei der staatlichen Organisation auf, die eine notwendige Bedingung zur Sicherung individueller Freiheit ist, gerade um sie gegenüber den Lenkungs- und Vereinheitlichungsansprüchen partieller gesellschaft­licher Kollektive zu gewährleisten.

2. Die praktisch-verfassungsrechtliche Bedeutung der Beibehal­tung der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft auch im de­mokratischen Staat liegt nicht allein in der Begrenzung der staatlichen Entscheidungsgewalt als solcher; sie zeigt sich ebenso im Hinblick auf die Organisationsformen der politischen Willens­bildung und die Abgrenzung des staatlichen vom öffentlichen Bereich.

a) Geht man davon aus, dass Staat und Gesellschaft in der Demo­kratie „ineinander fallen“, der Staat „Selbstorganisation der Gesell­schaft“[37] wird, so wird die politische Willensbildung, prinzipiell gesehen, weder ein „staatlicher“ noch ein „gesellschaftlicher“, son­dern ein einfachhin „öffentlicher“ Vorgang, wodurch beliebige Reglementierungen durch den Staat und beliebige Einfluss- und Auto­nomieansprüche durch gesellschaftliche Bildungen, und damit eine fortschreitende Parzellierung der einheitlichen politischen Entscheidungsgewalt legitimiert werden[38] Erscheint sie hingegen als ein Vorgang aus der vom Staat unterschiedenen und seinem Zugriff prinzipiell vorausliegenden Gesellschaft auf den Staat hin, so ver­bieten sich staatliche Einflussnahmen auf diesen Prozess, die über die Gewährleistung der Rahmenordnung als notwendige Regelung ge­sellschaftlicher Freiheit hinausgehen. Die politischen Parteien können nicht, ungeachtet ihrer politischen Funktion und ihres Hineinwir­kens in die staatliche Organisation, selbst Organe des Staates werden, sondern bleiben notwendigerweise in einer besonderen Zwischenstellung zwischen Gesellschaft und Staat: Aktionsorgane aus der Gesellschaft, soweit sie politisch aktiv wird, auf den Staat hin und in ihn hinein, oder, um an ein Wort Lenins anzuknüpfen, „Trans­missionsriemen“ zwischen Gesellschaft und Staat.[39] Ebenso können die Verbände, als freie Bildungen innerhalb der Gesellschaft, nicht staatlich gelenkt und kann ihr Aktionsfeld nicht eingeengt werden, es sei denn zur verfahrensmäßigen Regulierung von erstrebten Ein­flussnahmen auf den staatlichen Entscheidungsprozess, um diesen von Pressionen demokratisch nicht legitimierter Instanzen freizuhalten. Endlich bleiben Gewährleistungen wie Pressefreiheit, Freiheit der Meinungsäußerung, Vereins- und Versammlungsfreiheit als Berei­che individueller und gesellschaftlicher Freiheit, ungeachtet ihrer eminenten Bedeutung’ und Funktion für den politischen Willens­bildungsprozess, dem gezielten Zugriff staatlicher Organe, etwa unter Berufung auf eine erstrebte demokratische Funktionserhöhung dieser Grundrechte, verschlossen.[40]

b) Bei einer Aufgabe der Unterscheidung von Staat und Gesell­schaft geht ferner jede Möglichkeit der Abgrenzung der staatlichen von den öffentlichen bzw. öffentlich-relevanten Aufgaben verloren. Die sich hier in Judikatur und Literatur ausbreitende Unklarheit und Verwirrung sind dafür sehr aufschlussreich.

So hat das BVerfG jüngst, im Urteil über die Unzulässigkeit der Umsatzsteuer für die Rundfunkanstalten,[41] aus dem Umstand, dass die Rundfunkanstalten eine öffentliche Aufgabe wahrnehmen und in entsprechender, den Bindungen aus Art. 5 I GG Rechnung tra­gender Weise organisiert sind, ohne weiteres den Schluß gezogen, dass es sich um eine öffentlich-rechtliche Aufgabe handelt, obwohl für ihre Wahrnehmung zugleich das Gebot der Staatsfreiheit be­steht. Ungeachtet der Frage, wieweit sich das Gericht im konkreten Fall durch die Quilifizierung der Tätigkeit der Rundfunkanstalten als „öffentliche Verwaltung“ im Fernsehurteil (E 12,205 [244 f.]) präjudiziert sah[42] - die Logik dieser Argumentation spricht für sich; ihre Basis ist das Fehlen jeder Unterscheidung von staatlichem und gesellschaftlichem Bereich, staatlicher und gesellschaftlicher Auf­gabe, ihre Folge das Fehlen der Möglichkeit, öffentliche und öffent­ lich-rechtliche Aufgabe und Verantwortlichkeit auseinander zu halten.[43]

Ähnlich hat jüngst W. Kewenig die These aufgestellt,[44] dass sich für die Kirchen aus ihrem prominenten Charakter innerhalb der sozialen Gruppierungen, der sie „in die Sphäre des öffentlichen“ und damit in die Nähe der „institutionalisierten Staatlichkeit“ rücke, und aus den von ihnen wahrgenommenen (sozialen und kulturellen) öffentlichen Aufgaben einerseits ihr Status als Körperschaften des öffentlichen Rechts rechtfertige, anderseits ein Anspruch auf staat­liche Subvention ergebe, falls ihnen das Recht der Kirchensteuerer­hebung aberkannt würde.[45] Gewerkschaften und Arbeitgeberver­bände können, akzeptiert man den Begründungszusammenhang, auf eine kaum geringere „Prominenz“ und Wahrnehmung öffmtlicher, d.h. für das gedeihliche Zusammenleben der einzelnen und der Ge­sellschaft notwendiger und unabdingbarer, daher allgemeiner Auf­gaben und damit einen entsprechenden Anspruch auf staatliche Subventionen verweisen. Tages- und Wochenpresse, aber auch der Milchhandel, können und werden nachfolgen.

Der hier gezogene Schluss von der öffentlichen Position und/oder Aufgabe auf besondere staatliche Anerkennung, Förderung und Subvention ruft ein neues System der Herausnahme aus der allge­meinen rechtlichen Gleichheit, d.h. von Vorrechten und Privilegien hervor, das dem demokratischen Prinzip widerspricht. Die Konse­quenz im Sinne des demokratischen Prinzips kann dann nur sein, alle Träger solcher bevorrechtigter öffentlicher Positionen und Auf­gaben auch einer demokratischen Willensbildung und Kontrolle zu unterwerfen. Das führt freilich, bei der Reichweite solcher in der Gesellschaft wahrgenommenen öffentlichen Aufgaben und Positio­nen, zu einer weitgehenden Verstaatlichung oder, was im Zuge der Zeittendenz näher liegt, ‚Demokratisierung’ gesellschaftlicher Berei­che, deren Gefahren oben geschildert sind.

Dem lässt sich nur entgegentreten, wenn man zum Ausgangs- und Bezugspunkt verfassungsrechtlicher Betrachtung nicht das Materiell-öffentliche und die (materiell) öffentlichen Aufgaben nimmt, wie es heute zunehmend geschieht,[46] sondern die Gegenüberstellung von staatlichen und gesellschaftlichen Aufgaben (und damit die Unter­scheidung von Staat und Gesellschaft). Damit wird nicht in Abrede gestellt, dass innerhalb der Gesellschaft in vielfältiger Weise öffent­liche Aufgaben (in dem S. 418 f. bezeichneten Sinn) wahrgenommen werden und auch Privatpersonen, wie etwa beim Milch- oder Le­bensmittelhandel, Träger solcher öffentlicher Aufgaben sein können. Aber es folgt eben daraus noch kein Übergang in den staatlichen oder öffentlich-rechtlichen Bereich.[47] Die entscheidende Frage ist vielmehr, ob eine öffentliche Aufgabe durch die Verfassung oder durch eine im Rahmen der Verfassung getroffene Entscheidung des demokratischen Gesetzgebers zu einer staatlichen Aufgabe erklärt und entsprechend organisiert oder ob sie als gesellschaftliche Auf­gabe belassen bzw. ausdrücklich sanktioniert ist. Ist sie zur staatli­chen Aufgabe erklärt, so muss auch ihre Wahrnehmung in den staat­lichen Organisations- und Verantwortlichkeitszusammenhang hinein­genommen werden; sie darf dann nicht, unbeschadet der Möglichkeit staatlich beaufsichtigter Selbstverwaltung, einzelnen Gliedern der Gesellschaft oder gesellschaftlichen Gruppen, die außerhalb des demokratischen, d.h. auf das Staatsvolk bezogenen Verantwortlich­keits- und Kontrollzusammenhanges stehen, als eigene „öffentliche“ Aufgabe zur Erledigung überantwortet werden. Das bedeutet die

Errichtung para-konstitutioneller Gewalten.[48] Ist sie hingegen eine gesellschaftliche, nicht vom Staat in Anspruch genommene Aufgabe, so unterliegt ihre Wahrnehmung dem allgemeinen, in der und für die Gesellschaft geltenden Recht; bei einer gegebenen besonderen Bedeutung für die Allgemeinheit kann sie entsprechenden Bindun­gen unterworfen werden, die die Art ihrer Erledigung im Hinblick auf diese Bedeutung sicherstellen, sie tritt aber dadurch nicht aus dem gesellschaftlichen Bereich heraus und vermittelt kein Anrecht auf ein ‚öffentliches’ Privileg. Die Frage einer gezielten staatlichen Förderung bzw. Subvention stellt sich nicht im Hinblick auf die öffentliche Relevanz, sondern im Hinblick auf die Verantwortung des Staates für die Erhaltung gesellschaftlicher Freiheit, wozu heute in einem gewissen Umfang auch die Garantie der sozialen Vor­aussetzungen zur Realisierung der Freiheit gehört. (Dazu unten IV.)

Welche der öffentlichen oder öffentlich relevanten Aufgaben zu staatlichen Aufgaben erklärt werden können bzw. müssen, ist dabei im Rahmen der gegebenen Verfassung eine Sache demokratischer, d.h. gesetzgeberischer Entscheidung. Der Entscheidungsspielraum ist allerdings begrenzt. Es gibt etliche öffentliche Aufgaben, die not­wendig staatliche Aufgaben sind, wie z. B. Rechtspflege, Polizei, Sicherung nach außen. Es gibt daneben eine breite Skala öffentlicher Aufgaben, die zu staatlichen Aufgaben erklärt werden können, aber keineswegs müssen, die daher auch als staatliche und gesellschaftliche Aufgaben nebeneinander wahrgenommen werden können (z. B. Schule und Bildung); es gibt schließlich einen Bereich durchaus öffent­licher oder öffentlich relevanter Aufgaben, deren Inanspruchnahme als staatliche Aufgaben kraft grundrechtlicher Verbürgung aus­geschlossen ist, die also der Gesellschaft allein vorbehalten sind (z.B. Pressewesen, religiös-weltanschauliches Bekenntnis).

IV.

Führt somit das demokratische Prinzip keineswegs mit Notwen­digkeit zu einer Aufhebung der Unterscheidung und Gegenüber­stellung von Staat und Gesellschaft, so bleibt die Frage, ob eine solche Aufhebung nicht aus einem andern Grund, nämlich dem Über­gang vom bürgerlichen Rechtsstaat zum modernen Sozialstaat, be­reits eingetreten ist oder eintreten muss. Kann die zunehmende Steuerung der wirtschaftlichen und sozialen Abläufe durch den Staat, die wachsende Regulierungs-, Ausgleichs- und Verteilungsgesetz­gebung zum Zweck der Relativierung sozialer Spannungen und der sozialen Ungleichheit, das stets weiter ausgreifende Vorhalten lebens­wichtiger Dienst- und Vorsorgeleistungen durch den Staat etwas anderes besagen, als dass die organisatorische Unterscheidung und Trennung von Staat und Gesellschaft fortschreitend unterlaufen wird und sich damit selbst aufhebt?

Die Frage scheint schnell beantwortet, doch die Antwort bedarf genauer Überlegung. Denn die sozialstaatliche Zunahme der Staats­tätigkeit, insbesondere das Vorhalten lebenswichtiger sozialer Lei­stungen durch den Staat und die soziale Intervention des Staates in gesellschaftliche Abläufe hinein, ist als solche kein Gegenprinzip zur Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, sondern ihr sachlich und systematisch zugeordnet.[49] Die (bürgerliche) Gesellschaft hat ihre vom Staat gewährleisteten tragenden Ordnungsprinzipien, ihre „Verfassung“ gewissermaßen, in der Rechtsgleichheit, der Erwerbs­freiheit und der Garantie des erworbenen Eigentums. Aus der Aktualisierung dieser Prinzipien, die die natürliche und wirtschaftliche Ungleichheit zur vollen, nur durch die gleiche Freiheit des andern begrenzten Entfaltung freisetzen, ergibt sich mit Notwendigkeit die besitzbestimmte soziale Ungleichheit und, in deren rechtlicher Ver­festigung und Fortschreibung durch die Garantie des Eigentums, ein klassenmäßiger Antagonismus in der Gesellschaft. Wird dieser in der Gesellschaft aus ihrer Verfassung heraus angelegten Entwick­lung freier, d.h. vom Staat nicht gehinderter Lauf gelassen, so wird die staatlich gewährleistete und geschützte rechtliche, Freiheit und Gleichheit für eine immer wachsende Zahl von Menschen zur leeren Form: die dem Prinzip nach freieste, auf der Gleichheit des Rechts beruhende Gesellschaft entlässt aus sich die materielle Unfreiheit.[50] Der Staat ist daher ganz im Sinne der ursprünglichen Zuordnung von Staat und Gesellschaft, gemäß seiner Funktion als Garant der freien Gesellschaft und ihrer Grundverfassung, zur Intervention, zum gezielten Einsatz seiner hoheitlichen Regulierungsmacht gehal­ten, um die Gesellschaft vor ihrer Selbstzerstörung zu bewahren.[51] Das gleiche Prinzip, demgemäß die Gesellschaft zunächst von herr­schaftlich-politischen und korporativen Bindungen frei-gesetzt, in die Entfaltung ihrer Erwerbsstruktur entlassen wurde, erfordert nun, in einer fortgeschrittenen Phase der Entwicklung dieser Gesell­schaft, den sozial aktiven, in die Mechanismen angeblich ‘funktio­naler Selbstregulierung intervenierenden Staat. Der Staat muss der sozialen Ungleichheit, die sich angesichts der Dialektik von Freiheit und Gleichheit auf dem Boden der Gesellschaft immer wieder pro­duziert, entgegenwirken, sie durch sozialen Ausgleich und soziale Leistungen relativieren, um dadurch die individuelle und gesell­schaftliche Freiheit und die rechtliche Gleichheit real zu erhalten. „Die Freiheit ist eine wirkliche erst in dem, der die Bedingung derselben, den Besitz der materiellen und geistigen Güter, als die Vor­aussetzung der Selbstbestimmung, besitzt“ (L. v. Stein).[52]

Nicht anders verhält es sich mit dem durch die industriell-tech­nische Entwicklung eingetretenen Verlust des „beherrschten Lebens­raums“[53], d.h. der Autarkie des einzelnen in seinem Lebensbereich. An seine Stelle ist, um die prägnante Formulierung Dieter Suhrs zu gebrauchen, der „soziale Lebensraum“ getreten.[54] Die daraus resultie­rende vermehrte rechtliche Regelung individueller Lebensbeziehungen bedeutet aus sich keine Aufhebung individueller und gesellschaftli­cher Freiheit durch den Staat, sondern entspricht der Notwendigkeit, die Freiheit der einzelnen und der Gesellschaft nunmehr in den immer dichter gewordenen Sozialbezügen und Sozialleistungen, statt wie früher ihnen voraus, wirksam zu erhalten.[55]

Im Hinblick auf die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft ist beide Male nicht entscheidend, dass staatliche Intervention, so­zialer Ausgleich durch den Staat und vermehrte rechtliche Regelung der individuellen und gesellschaftlichen Lebensvorgänge stattfinden, sondern welchem Prinzip sie folgen und welchen Grenzen sie dem­entsprechend unterliegen. Das ist, unter anderen Voraussetzungen, schon von L. v. Stein gesehen worden.[56] Es kommt darauf an. ob die Gesellschaft den Charakter des an sich Vorausliegenden behält oder unter Berufung auf die notwendige sozialstaatliche Aktivität von vornherein das soziale Ganze dem staatlichen Lenkungs- und Regulierungsanspruch unterstellt wird. Der Umschlag tritt dann ein, wenn diese Maßregeln nicht mehr jeweils ihre Begründung und Be­grenzung in der Erhaltungs- und Gewährleistungsfunktion des Staates für die Gesellschaft und ihre Ordnung finden, d.h. zur Sicherung und im Rahmen der Grundverfassung der Gesellschaft er­folgen, um auch die sozialen Voraussetzungen zur Verwirklichung der Freiheit für alle zu schaffen, sondern weitergreifenden politi­schen Zielen, wie etwa der Übernahme des wirtschaftlich-sozialen Prozesses in unmittelbare staatliche Lenkung folgen. In diesem Fall verliert die Gesellschaft gegenüber dem Staat den Charakter des an sich Vorausliegenden, das seinem Zugriff nur begrenzt und im Hin­blick auf bestimmte Zwecke unterliegt, und wird in ihm aufgehoben. Entscheidend ist also die Maßbestimmung für die soziale Verwaltung des Staates; sie entscheidet über den (offenen oder verdeckten) Um­schlag in der Zuordnung von Staat und Gesellschaft.[57]

Das Grundgesetz hat solchem Umschlag in die Ununterscheidbar­keit von Staat und Gesellschaft vorbeugen wollen; es hat dem Sozialstaat nicht einfach freies Feld eröffnet, sondern — bewusst — Rechtsstaat und Sozialstaat nebengeordnet, d.h. in ein Verhältnis rechtlicher Verknüpfung und wechselseitiger Begrenzung gestellt.[58] Die auf Daseinsvorsorge, sozialen Ausgleich und soziale Umvertei­lung zielenden sozialstaatlichen Aktivitäten, zu denen Gesetzgeber und Verwaltung ermächtigt und aufgerufen sind[59], dispensieren nicht von den Anforderungen des Rechtsstaats, insbesondere Frei­heitsverbürgungen für Individuen und Gesellschaft; sie müssen sich in den Rahmen rechtsstaatlicher Gewährleistungen und Begrenzun­gen einfügen. Das Grundgesetz hat ebenso wie für die Realisierung des demokratischen Prinzips auch für die staatliche Antwort auf die ‚soziale Frage’, die es als verfassungsrechtliches Gebot statuiert, die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft fest- und offengehalten. Aber ist diese damit auch schon wirklich?

V.

Hier gilt es, einen Vorgang näher ins Auge zu fassen, der mit dem Übergang zum (rechtsstaatlich gebundenen) Sozialstaat nicht iden­tisch ist, jedoch mit ihm in einem engen sachlichen Zusammenhang steht, dabei aber erheblich weiter ausgreift: die zunehmende Iden­tifikation von Staat und Wirtschaft.

1. Diese zunehmende Identifikation hat ihren Grund einmal im industriell-technischen Prozess selbst, der im gegenwärtigen Expan­sionsstadium aus seiner immanenten Funktionalität heraus und um seiner Produktivität willen in immer weiter greifende Planungszu­sammenhänge hineindrängt, um potentiellen Störungsfaktoren im Hinblick auf Produktion und Absatz wegen ihrer immens wachsen­der Kostendimension zu begegnen.[60] Dieser Planungszusammen­hang bedarf der Abstützung durch entsprechende Planungs- und Steuerungsvorgänge im staatlichen Bereich, um die relative Verläss­lichkeit der wirtschaftlichen Planungsdaten zu sichern, insbesondere der staatlichen Nachfrageregulierung und Marktkrisenverhütung (Konjunktursteuerung) je in Antwort auf den Zyklus der immanen­ten Wirtschaftsentwicklung.

Zum anderen ergibt sich diese Identifikation aus den neuen sozial-staatlichen Staatsaufgaben. Der Staat soll heute, über den sozialen Ausgleich und die Schaffung der sozialen Voraussetzungen zur Ver­wirklichung der rechtlichen Freiheit hinaus, umfassende soziale Sicherheit, wachsenden Wohlstand und gesellschaftlichen Fortschritt gewährleisten.[61] Diese Erwartung an den Staat ist gegenwärtig all­gemein und begründet in hohem Maße seine Legitimität. Will der Staat diese Ziele, wenn auch nur in Annäherung, erreichen, so setzt das ein wachsendes Sozialprodukt voraus. Der Staat ist daher not­wendigerweise in hohem Maße an der Wirtschaft interessiert und mit ihr identifiziert. Er muss, um seiner eigenen Aufgaben willen, eine Erhaltungsfunktion für den wirtschaftlichen Prozess und Pro­gress übernehmen. Das führt, auch von dieser Seite, zur Nachfrage­regulierung und Krisenvorbeugung durch den Staat, d.h. zur staat­lichen Globalsteuerung des wirtschaftlich-sozialen Prozesses und einer entsprechenden Gesamtplanung. Diese Steuerungsfunktion durch den Staat[62] kann nicht hoheitlich, durch unmittelbares Gebot oder Verbot erfolgen; sie ist in einem System der freien Wirtschaft nur in Anpassung an die immanenten Steuerungsmittel des wirt­schaftlichen Prozesses möglich. Es werden bestimmte, und fortschrei­tend immer weitere Bereiche des wirtschaftlich-sozialen Verhaltens (Investitionen, Konsum, Spartätigkeit) in einen staatlichen Planungs­zusammenhang und eine darauf bezogene Überdetermination durch vom Staat ausgehende marktstrategische Datensetzung (Investitions­anreize durch Steuererleichterung, Sparförderung durch Prämien­system, Konsumdrosselung durch steuerlichen Kaufkraftentzug usf.) einbezogen. Die Mittel, deren sich der Staat dabei bedient, sind solche der Steuerpolitik, Haushaltspolitik, Geldpolitik und Zutei­lungspolitik. Sie treffen die einzelnen meist nicht unmittelbar mit Gebot oder Verbot, sondern indirekt, durch Anreize, Erleich­terungen, vermehrte oder geminderte Zuteilungen; sie entziehen sich daher nahezu ganz der rechtsstaatlichen Formtypik und Kontrolle.[63] Gleichwohl vollzieht sich hier ein fortschreitendes Unterlaufen der Grenzlinie zwischen Staat und Gesellschaft, die auch und primär eine Grenzlinie zugunsten der individuellen Freiheit ist.

In welcher Weise hier Staat und Gesellschaft ineinander über­gehen, zeigt die von H. J. Arndt[64] herausgestellte dreifache Funk­tion des Parlaments im Verhältnis von Staat und Wirtschaft. Vermöge seines Gesetzgebungs- und Budgetrechts ist das Parlament 1. Träger der globalen Einkommens- und Verteilungspolitik durch Steuer- und Zuteilungsgesetze — hier steht es der Gesellschaft und ihren Interessen in sozialstaatlicher Regulierungs- und Ausgleichs­funktion (s. oben IV.) gegenüber; es tritt 2. über die Festlegung der staatlichen Ausgaben und damit der staatlichen Nachfrage am Markt als Teilnehmer am Wirtschaftsprozess auf, und zwar kraft der Größenordnung des staatlichen Haushalts als marktmächtiger, den Wirtschaftsablauf entscheidend beeinflussende Teilnehmer; ihm ob­liegt 3. die erwähnte Globalsteuerung des wirtschaftlichen Prozesses, wofür indes keine besonderen, eigenständigen Mittel zur Verfügung stehen, sondern die Mittel zu 1. und 2. eingesetzt werden müssen, nun zwar nicht nach der eigenen Sachlogik dieser Aufgaben, sondern aus einer Überdetermination zum Zwecke der Globalsteuerung heraus. Es liegt im Sinne dieser Überdetermination, dass z. B. Ein­kommen, Verdienst, Vermögensbildung, soweit sie vom staatlichen Haushalt bzw. staatlichen Gesetzen abhängen,[65] zunehmend nicht mehr allein aus ihrer eigenen Sachlogik, sondern ebenso, wenn nicht primär, aus ihrer Funktionsbeziehung zur Regulierung der Gesamt­nachfrage (verantwortbare Erhöhung der Kaufkraft; Beispielswir­kung für Tarifverhandlungen in der Wirtschaft) bestimmt werden, und dass private Unternehmertätigkeit, wenn sie eine bestimmte Größenordnung erreicht, in eine öffentlich relevante umschlägt mit der Maßgabe, dass Verluste und mangelnde Liquidität (Henschel, Krupp) „sozialisiert“, d.h. vom Staat übernommen bzw. ausgegli­chen werden,[66] (was natürlich zu der Frage herausfordert, mit wel­chem Grund dann die Gewinne weiter ‚privatisiert‘ bleiben).

2. Die hier angedeutete Entwicklung könnte die Vorstellung vom Moloch Staat entstehen lassen, der Wirtschaft und Gesellschaft zu­nehmend in sich einbezieht und beherrscht. Es ist jedoch für die gegenwärtige Identifikation Staat und Wirtschaft kennzeichnend, dass der Staat in eine Dienstfunktion gegenüber dem industriell-wirtschaftlichen Prozess gerät. Es wächst zwar die Weite seiner Auf­gaben, aber in gleichem Maße wächst die Schwäche seiner eigenen Entscheidungsmacht.[67] Bei seiner Regulierungs- und Steuerungs­funktion ist er nicht in der Position des „höheren Dritten“, der selbst die Zügel in der Hand hält, sondern Träger einer Komple­mentärfunktion für den industriell-wirtschaftlichen Prozess.[68] Er setzt nicht seinerseits die für die Entwicklung und Regulierung des wirtschaftlichen Prozesses maßgeblichen Daten, sondern handelt re­aktiv auf die aus dem wirtschaftlichen Prozess ihm gegenüber auto­nom sich ergebenden Daten und Tendenzen. Subjekt des sogenannten globalen Steuerungsprozesses ist nicht der Staat, sondern der industriell-wirschaftliche Prozess selbst; der Staat ist ihm gegenüber ,Erfüllungsgehilfe“, leistet die ,Ausfallbürgschaften`, um sein imma­nentes, auf Wachstum, Produktivität und Ertrag ausgerichtetes Funktionieren zu gewährleisten.

Dass diese Kennzeichnung keine polemische Übertreibung ist, wird durch nichts so deutlich wie durch die Situation der öffentlichen Investitionen. Die öffentlichen, genauer: staatlichen und kommuna­len Investitionen sind, im gegenwärtigen System der Identifikation von Staat und Wirtschaft, prinzipiell nachrangig gegenüber den sogenannten privaten, d.h. wirtschaftsimmanenten und gewinn­orientierten Investitionen. Dies gilt ohne Rücksicht auf ihre objek­tive Dringlichkeit für die Allgemeinheit. Sie können in größerem Umfang nur dann angebracht, d.h. als Steigerung der Staatsaus­gaben effektuiert werden, wenn der industriell-wirtschaftliche Prozess aus sich selbst rückläufig ist und einer anregenden Nachfrage­ausweitung bedarf. Hält dieser sich aus seinen eigenen Antriebskräf­ten auf der Höhe des Booms oder angemessener Expansion, so hat der Staat kraft seiner Erhaltungsfunktion seinen eigenen Anteil am Markt, und das sind die öffentlichen Ausgaben, als Mittel der gegen­steuernden Stabilisierung einzusetzen, d.h. er muss Enthaltsamkeit üben, um die Konjunktur nicht weiter anzuheizen. Seinerseits hat der Staat indessen keine Möglichkeit, die immanenten Antriebs­kräfte des wirtschaftlichen Prozesses, zu denen neben den Investi­tionsentscheidungen der Wirtschaftssubjekte nicht zuletzt auch die Vorverfügung über die Verteilung des Sozialprodukts im Rahmen der Tarifautonomie gehört, zu kontrollieren; er muss sie als ihm gegenüber autonom gesetzte Daten hinnehmen.[69] Die Subjekt-Stellung des industriell-wirtschaftlichen Prozesses als solchen, der selbst keiner verbindlichen Verantwortung für die Allgemeinheit unterliegt, wird hier offenbar: der Staat hat die Gewährleistungs­funktion für dessen aus seinen immanent-autonomen Antrieben heraus grenzenlose Selbstentfaltung.[70]

Anderseits, oder besser: zugleich wird vom Staat erwartet, dass er in wichtigen Bereichen die Aufgaben der Daseinsvorsorge über­nimmt und sich als Träger des gesellschaftlichen Fortschritts ausweist: Er soll eine Vielzahl öffentlicher Einrichtungen, deren die Allge­meinheit bedarf (Schulen, Krankenhäuser, Spielplätze, Altenheime usf.), vorhalten, er soll von sich aus die Entwicklung und Verbesse­rung der Infra-Struktur, auf deren Grundlage erst der industriell-wirtschaftliche Prozess sich ‚frei’ entfalten kann, betreiben, er soll schließlich einen wachsenden Anteil an den allgemeinen Sozialkosten des industriell-wirtschaftlichen Prozesses (Umweltsicherung, Ver­kehrssicherung und -erweiterung etc.) übernehmen. Damit ist der innere Widerspruch, den das gegenwärtige System der Identifikation von Staat und Wirtschaft in sich enthält, offenbar: Einerseits wird dem Staat sowohl die Verantwortung für die Regulierung der Ge­samtnachfrage (Konjunktursteuerung) als auch die für Daseinsvor­sorge und gesellschaftlichen Fortschritt übertragen; anderseits bleibt ihm eine verbindliche Einflussnahme auf die Entscheidungen über Investitionen und Investitionsprioritäten sowie über die tarifver­tragliche Vorverteilung des Sozialprodukts, die beide unüberholbare Daten für Konjunkturentwicklung, Zielausrichtung der Wirtschafts­produktivität und möglichen staatlichen Ausgabenrahmen setzen, verschlossen. Der Staat soll, kurz gesagt, geben, ohne zu nehmen. Die Kernfrage des gegenwärtigen Verhältnisses von Staat und Wirtschaft ist damit die, ob der Staat Konjunktursteuerung und Vorsorge für den gesellschaftlichen Fortschritt wirksam leisten kann, wenn ihm das Recht der Investitionslenkung (bei allen Folgen, die damit impliziert sind) und der verbindlichen Einflussnahme auf die Tarifautonomie der Sozialpartner vorenthalten wird. Diese Frage kann nur dann nicht verneint werden, wenn hinreichende Gründe die Annahme rechtfertigen, dass das industriell-wirtschaftliche Sy­stem aus sich selbst in der Lage ist, eine Investitionslenkung und Investitionsprioritäten, die sich an den Belangen der Allgemeinheit orientieren, hervorzubringen, und ebenso eine Selbstregulierung der Tarifautonomie. Entspricht dem die bisherige Erfahrung?

3. Beziehen wir das Problem auf die uns interessierende Frage­stellung zurück, so ergibt sich die Frage, ob — als Ausweg aus dem aufgewiesenen Widerspruch — der industriell-wirtschaftliche Prozess in den unmittelbaren staatlichen Regelungs- und Verantwor­tungsbereich einbezogen, und das heißt aus dem Bereich der dem Staat an sich vorausliegenden, daher nur punktuell zu regulieren­den, im übrigen aber zu gewährleistenden gesellschaftlichen Freiheit herausgenommen werden muss? Die Antwort kann nicht ein ein­faches „Ja“ oder „Nein“ sein. Es kommt dafür entscheidend auf das Verhältnis der Gesellschaft zu den über die elementare Daseinssiche­rung und den elementaren sozialen Ausgleich hinausgehenden sozial­staatlichen Zielsetzungen des modernen Staates an. Historisch ebenso wie systematisch steht die Funktionsreduzierung des Staates am Anfang gesellschaftlicher Freiheit.[71] Wird sie aufgegeben, sei es aus objektiven Bedingungen einer gegebenen gesellschaftlichen Lage, sei es aus einem gesellschaftlichen Wollen, so muss auch die gesell­schaftliche Freiheit abnehmen. Der Staat kann nicht geben, ohne auf der andern Seite zu nehmen.[72] Sind umfassende soziale Sicherheit, wirtschaftliches Wachstum, Steigerung des Lebensstandards nicht nur staatlich freigesetzte und ermöglichte, sondern vom Staat un­mittelbar zu verwirklichende und zu gewährleistende Ziele, so muss der wirtschaftliche Gesamtprozess — ebenso wie die Verteilung des Sozialprodukts — in staatliche Lenkung und Regie übernommen werden. Er scheidet dann notwendigerweise aus dem Bereich einer dem Staat prinzipiell vorausliegenden, zwar punktuell von ihm zu regulierenden, aber an sich von ihm zu erhaltenden individuellen und gesellschaftlichen Freiheit aus. Die Frage der direkten oder in­direkten Lenkung und Steuerung, die die Frage der Übernahme maßgeblicher Großindustrien in staatliche Hand einschließt, ist dann nicht (mehr) eine Frage des Prinzips, sondern der Zweckmäßigkeit, einer Zweckmäßigkeit, deren Realisierung Art. 15 GG offenhält; die mit dem liberalen Zeitalter begonnene Trennung von staatlicher Macht und Wirtschaftsmacht[73] ist dann an ihr Ende gekommen.

 



[1] D.h. im Jahre 1972, als dieser Aufsatz zum ersten Mal veröffentlicht wurde [ws].

[2] Die Auffassung hat sich nicht nur bei Politikwissenschaftlern, sondern auch bei Juristen zur communis opinio verdichtet. Vgl. aus jüngster Zeit statt anderer Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 4. Aufl. 1970, S. 8 ff.; v. Krockow, Staatsideologie oder de­mokratisches Bewußtsein: PVS 6. Jg. 1965, S. 118 ff.; Abendroth, Zum Begriff des demokratischen und sozialen Rechtsstaats im GG, in: Festschrift für Bergsträsser, 1954, S. 279-300.

[3] So Hesse, a.a.O. (N. 1), S. 8.

[4] Vgl. etwa O. H. v. d. Gablentz, Staat und Gesellschaft: PVS 2. Jg. 1961, S. 2 ff.; v. Krockow, a.a.O. (N. 1), S. 120.

[5] Die älteren Lehrbücher der Rechts- und Verfassungsgeschichte haben wie den Staatsbegriff auch die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft als eine allgemeine, über die verschiedenen geschichtlichen Epochen hinweg, gültige und verwendbare vorausgesetzt; vgl. etwa H. Brunner, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 1.2, 2. Aufl. 1906; Schröder/v. Künßberg, Lehrbuch der deutschen Rechtsgeschichte, 7. Aufl. 1932; Schwerin/Thieme, Grund­züge der deutschen Rechtsgeschichte, 1949, aber auch noch H. Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 1: Frühzeit und Mittelalter, 1952, 2. Aufl. 1962. Die prinzipielle Kritik dazu ist von Otto Brunner, Land und Herr­schaft, zuerst 1939, 3. Aufl. 1943,S. 124 ff., vorgebracht worden; vgl. ferner E.-W. Böckenförde, Die deutsche verfassungsgeschichtliche Forschung im 19. Jahrhundert. Zeitgebundene Fragestellungen und Leitbilder, 1961. —Ebenso werden in der marxistischen Theorie die Begriffe und die Unter­scheidung von Staat und Gesellschaft, ursprünglich aus der Analyse der eigenen geschichtlichen Gegenwart entwickelt, zu einem allgemeinen sozial­wissenschaftlichen Kategoriensystem verabsolutiert, das für alle sozial­geschichtlichen Formationen zwischen Urkommunismus und klassenloser Gesellschaft Gültigkeit hat.

[6] Siehe dazu jetzt die die versprengten neueren Forschungsergebnisse systematisch zusammenfassende Darstellung bei Helmut Quaritsch, Staat und Souveränität, Bd. 1, S. 178-201 und 155-177; früher schon Otto Brunner, a.a.O. (N. 4), S. 160 ff.

[7] Vgl. das Auftreten des einheitlichen Begriffs der ‚Landeshoheit’ (ius territoriale), der seiner Tendenz nach umfassenden Charakter hatte im Westfälischen Frieden, IPO Art. V, 30 und Art. VIII, § 1, die Begründung und Ausformung der ,suprema potestas des Herrschers in der Staatstheorie des 16.-18. Jh. — dazu immer noch O. v. Gierke, Johannes Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorien, 4. Aufl. 1929, S. 143 ff., und die abschließende Kodifikation dieser Entwicklung im preußischen ALR von 1794, §§ 1-4 II 13. Ein zusammenfassender Überblick über die Entwicklung bei G. Oestreich in: Gebhardt/Grundmann, Handbuch der deutschen Geschichte, 9. Aufl. 1970, §§ 91, 100-104, 108.

[8] Otto Brunner, Die Freiheitsrechte in der altständischen Gesellschaft, in: ders., Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, 2. Aufl. 1968, S. 187 ff.; E. Angermann, Das Auseinandertreten von Staat und Gesellschaft im Denken des 18. Jahrhunderts: ZPo1 1963, S. 89 ff; neuesten M. Riedel, Zur Theo­rie und Geschichte des Begriffs ,Bürgerliche Gesellschaft’ zwischen Aristo­teles und Hegel, 1970.

[9] Die Kontinuität zwischen absoluter Monarchie und Revolution unter diesem Aspekt ist schon von Tocqueville, L’ancien regime et la Révolution (Ausg. J. P. Mayer, Paris 1950), Teil I, 2, II, 5 und 9, herausgestellt worden.

[10] Frühschriften, hrsg. v. Landshut, 1953, S. 196 ff.; dort auch die fol­genden Zitate.

[11] Vgl. dazu F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. 1967, S. 267 ff., 272 ff.; H. Conrad, Individuum und Gemeinschaft in der Privatrechtsordnung des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts, 1956, insbes. S. 16 f., 22 ff.; Carl G. Suarez, Vorträge über Staat und Recht, 1960, S. 464-68.

[12] Das Vehikel dieser Objektivierung und Verselbständigung, die, wie H. Heller, Staatslehre, S. 132, richtig feststellt, zum Ausschluss von Eigen­tum an Herrschafts- und Verwaltungsmitteln und der Privatnützigkeit von Hoheitsrechten führt, war der Amtgedanke. Er trug auch die Verselb­ständigung der Herrschaftsbefugnisse zur ,persona moralis` und, in einer weiteren Phase, die Ausbildung eine gegenüber dem Herrscher selbständigen Staatsperson; vgl. dazu jetzt auch H. Quaritsch, a.a.O. (N. 5), S. 471 ff., insbes. 479 f.

[13] Dies ist eine der wesentlichsten Leistungen der vernunftrechtlichen Staatslehre, die damit nicht nur Widerhall im allgemeinen Bewusstsein, sondern im 18. Jahrhundert prinzipiell auch an den Fürstenhöfen fand. Wegweisend schon, ungeachtet der absolutistischen Komponente seiner Staatstheorie, Thomas Hobbes, Elementa philosophica de cive, 1647, c. XIII, 6; J. Locke, Two treaties an Government, T. 2, Nr. 124 ff.; I. Kant, Metaphysik der Sitten, T. 2, Anm. A nach § 49; der praktische Nieder­schlag in §§ 1-2 II 13 ALR.

[14] Insbes. in Art. 2, der als « but final » des Staates die Gewährleistung der unveräußerlichen Menschenrechte aufstellt, in Art. 4, 6 und 17 (Ga­rantie des Eigentums). Auch die Grund- oder Bürgerrechte der (früh)kon­stitutionellen Verfassungen haben diese gegen die staatliche Exekutive gerichtete Begrenzungsfunktion; vgl. E. R. Huber, Deutsche Verfassungs­geschichte seit 1789, Bd. 1, 2. Aufl. 1963, § 21.

[15] Es sei erinnert an die städtischen Bannrechte, die monopolartigen Gewerbeberechtigungen, handwerklichen Zunftzwang, bäuerliche Berufs-und Schollenpflichtigkeit, an die Rechtsklassen des adeligen, städtisch-bürgerlichen und bäuerlichen Eigentums u. a. m. Vgl. dazu A. Zycha, Deut­sche Rechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. 1950, §§ 43-49.

[16] L. v. Stein, Gegenwart und Zukunft der Rechts- und Staatswissen­schaften Deutschlands, 1876, S. 141; ders., Geschichte der sozialen Bewe­gung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage, Ausg. Salomon, 1921, Bd. 1, S. 415 ff.

[17] Diese notwendige innere Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft ist schon sehr frühzeitig von L. v. Stein und Karl Marx erkannt und analy­siert worden. Vgl. etwa die Strukturanalyse der ,Industriellen Gesellschaft’ bei L. v. Stein, Geschichte der sozialen Bewegung, a.a.O., Bd. 2, S. 16 ff., 27-34, 65-68. Siehe auch unten Abschnitt IV, 1.

[18] Kennzeichnend dafür die Funktionsbeschreibung des Adels (§ 1 II 9) und des Beamten (§ 68 II 11) als Staatsstände und das Verschwinden des Königtums unter dem Begriff ,Staatsoberhaupt‘ im preußischen ALR, Vgl. auch R. Koselleck, Staat und Gesellschaft in Preußen, in: Staat und Gesell­schaft im Vormärz, hrsg. v. W. Conze, 2. Aufl. 1970, S. 79 ff.

[19] „La loi est l’expression de la volonte générale. Tout les citoyens ont le droit de concurrir personnellement ou part leurs représentants à sa for­mation [...]” (Altmann, Ausgewählte Urkunden zur außerdeutschen Ver­fassungsgeschichte seit 1776, 1897, S. 58 f.).

[20] Vgl. E. R. Huber, a.a.O. (N. 13), S. 346f.; Dietrich Jesch, Gesetz und Verwaltung, 1961, S. 123 ff.

[21] Dazu E.-W. Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, 1958, S. 130 f. Der staatstheoretische Gehalt dieses konstitutionellen Gesetzes­begriffes ist am nachdrücklichsten von L. v. Stein, Die Verwaltungslehre, Bd. 1, 1, 2. Aufl. 1869, S. 85 f., formuliert worden.

[22] Geschichte der sozialen Bewegung, a.a.O., Bd. 3, S. 111-210. Unter heutigen Aspekten s. J. H. Kaiser, Die Repräsentation organisierter In­teressen, 1956.

[23] Hermann Heller, Staatslehre, 1934, S. 228 ff.; dort auch zum Folgenden.

[24] Das war — in seinen großen Tagen — die zwar nicht absolut, aber doch in vergleichsweise hohem Ausmaß verwirklichte herausragende Lei­stung des Beamtentums.

[25] Eine prägnante Analyse dieses Zusammenhangs bei J. Fijalkowski, Artikel ‚Herrschaft‘, in: Evangelisches Staatslexikon, Sp. 758.

[26] M. Drath, Der Staat der Industriegesellschaft: Der Staat 5 (1966), S. 274 ff.

[27] So Ehmke, Staat und Gesellschaft als verfassungstheoretisches Pro­blem, in: Staatsverfassung und Kirchenordnung, Festgabe für Rudolf Smend, 1962, S. 25 f.

[28] Ehmke, a.a.O.

[29] Dieses — auch sonst verbreitete — Missverständnis bei Hesse, a.a.O. (N. 1), S. 8 f. und Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl. 1970, S. 135, 138.

[30] Siehe dazu insbes. unten Abschnitt III.

[31] Heller, a.a.O. (N. 22), S. 237, 238 f.

[32] Soziologisch gesehen ist ein entscheidender Faktor für das Maß des erforderlichen Konsenses die besondere Leistungsbereitschaft der sog. Exe­kutionsstäbe, die in einem besonderen Organisations- und Beziehungsver­hältnis zu den leitenden Staatsorganen stehen. Ist diese (letztlich freiwillige) Leistungsbereitschaft groß, können die leitenden staatlichen Organe eine vergleichsweise weitgehende Herrschaftsanspannung ohne Rücksicht auf vorhandenen Konsens riskieren. Vgl. zum Problem Fijalkowski, a.a.O. (N. 24), Sp. 757 f.

[33] Das Kurzlehrbuch der ,Allgemeinen Staatslehre’ von R. Zippelius (2. Aufl. 1970) enthält zu dieser wichtigen Grundfrage einer gegenwärtigen Staatslehre so gut wie nichts.

[34] Eine Konkretisierung dieser Entscheidung stellt der Begriff der „frei­heitlich-demokratischen Grundordnung" dar, wie ihn das BVerfG ent­wickelt hat, vgl. BVerfGE 2, 1 (12 f.), 5, 85, (140 f.); ferner auch BVerfGE 17, 306 (313 f.) zu der ‘aus dem Redustaatsprinzip fließenden Freiheits­vermutung zugunsten des Bürgers.

[35] Eben darauf läuft die Gesellschaftsvertragsformel bei Rousseau, Con­trat social I, 6 hinaus: „Chaqun de nous met en commune sa personne et toure sa puissance sous la suprême direction de la volonté générale; et nous recevons encore chacque membre comme partie indivisible du tout“. Vgl. auch Julien Freund, Der Grundgedanke der politischen Philosophie von J. J. Rousseau: Der Staat 7 (1968), S. 1 ff.

[36] Aus der jüngsten Auseinandersetzung siehe einerseits: für die theore­tische Grundlegung J. Habermas, Strukturwandel der Offentlichkeit, 1962, S. 242 ff., für die weitere Ausgestaltung Nitsch/Gerhard/Offe/Preuß, Hochschule in der Demokratie, 1965, S. 189 ff.; Ulrich K. Preuß, Zum staatsrechtlichen Begriff des öffentlichen, 1969, S. 166 ff., 184 ff.; H. v. Hentig, Die Sache und die Demokratie: Die Neue Sammlung, 9 (1969), S. 101 ff.; anderseits: W. Hennis, Demokratisierung. Zur Problematik eines Begriffs, 1970; H. Maier, Vom Getto der Emanzipation: Hochland 62. Jg. 1970, S. 390 ff. — Aus der älteren Literatur s. vor allem Franz Neu­mann, Zum Begriff der politischen Freiheit: ders., Demokratischer und autoritärer Staat, 1967, S. 100-142, insbes. 130 ff.

[37] So Hesse, a.a.O. (N. 1), S. 8, eine Formulierung der Weimarer Zeit aufnehmend.

[38] In dieser Richtung werden die Folgerungen ausdrücklich entwickelt bei Ulrich K. Preuß, a.a.O. (N. 35), §§ 9-13.

[39] Das geltende Parteienrecht, wie es im Parteigesetz von 1967 seinen Niederschlag gefunden hat, ist ein Ausfluss dieser Zwischenstellung und sichert sie normativ ab. Die Parteien gehören von ihrer Entstehung, der Innenorganisation und dem Mitgliedschaftsrecht her in den Bereich der Gesellschaft, unterstehen insoweit grundsätzlich dem Privatrecht, in ihrer Funktion reichen sie in den Bereich der staatlichen Organisation hinein und unterstehen insoweit dem Verfassungsrecht. Da von dieser in Art. 21 ausdrücklich anerkannten Funktion eine Rückwirkung auf ihren Status ausgeht, unterliegen sie auch in ihrer Innenorganisation und dem Mitglied­schaftsrecht bestimmten verfassungsrechtlichen Bindungen, die Art. 21 II GG selbst bereits vorsieht. Man kann daher in Anlehnung an das ‚Ver­waltungsprivatrecht’ von einem ,Parteienprivatrecht‘ sprechen. Zu den vom Parteiengesetz (noch) nicht geregelten Problemen, die sich hier stellen, vgl. etwa Knöpfle, Der Zugang zu den politischen Parteien: Der Staat 9 (1970), S. 321 ff.

[40] Die entscheidende Bedeutung, die darin für die Grundrechtsinter­pretation liegt, ist offenbar. Siehe — für die Pressefreiheit des Art. 5 GG —E. Friesenhahn, Die Pressefreiheit im Grundrechtssystem des Grundgesetzes, in: Recht und Rechtsleben in der sozialen Demokratie. Festgabe für Otto Kunze, 1969, S. 21 ff.; Hans H. Klein, Öffentliche und private Freiheit. Zur Auslegung des Grundrechts der Meinungsfreiheit: Der Staat 10 (1971), S. 145 ff.; für die Versammlungsfreiheit Fritz Ossenbühl, Ver­sammlungsfreiheit und Spontandemonstration: Der Staat 10 (1971), S. 53 ff.; anderseits A. Dietel und Kurt Gintzel, Demonstrations- und Versammlungsfreiheit, 1968 [dazu D. Merten in: Der Staat 9 (1970), S. 274 ff.].

[41] BVerfG v. 27. 7. 1971: NJW 1971, S. 1739 ff.

[42] Die dissenting opinion der Richter Geiger, Rinck und Wand zu diesem Urteil tritt der Annahme einer solchen Präjudizierung ausdrücklich ent­gegen; die dafür gegebene Begründung ist jedoch recht gewunden und überzeugt nicht, vgl. NJW 1971, S. 1743 r. Die von der dissenting opinion gerügte Unklarheit und Widersprüchlichkeit des jetzigen Urteils ist schon im Fernsehurteil angelegt.

[43] Anders demgegenüber die dissenting opinion der Richter Geiger, Rinck und Wand, die klar zwischen öffentlicher und staatlicher Aufgabe unter­scheidet, a.a.O. S. 1742 ff.

[44] W. Kewenig, Das Grundgesetz und die staatliche Förderung der Reli­gionsgemeinschaften, in: Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 6, 1972, S. 24 f.

[45] a.a.O., S. 28.

[46] Vgl. statt anderer Peter Häberle, „öffentliches Interesse“ als juristi­sches Problem, 1969; ders., Besprechung von Ulrich K. Preuß, Zum staats­rechtlichen Begriff des Öffentlichen: AöR Bd. 95 (1970), S. 651 ff.; A. Rin­ken, Das Öffentliche als verfassungstheoretisches Problem, 1971.

[47] Zum Problem siehe Hans H. Klein, Zum Begriff der öffentlichen Aufgabe: DCV 1965, S. 755 ff.; Hans Peters, Öffentliche und staatliche Aufgaben in: Festschrift Nipperdey, 1965, Bd. 2, S. 877 ff.

[48] Der oft als Einwand gebrachte Hinweis auf das Bestehen und die Garantie der kommunalen Selbstverwaltung ist unzutreffend. Erstens ist die kommunale Selbstverwaltung über die staatliche Aufsicht und nicht wenige staatliche Genehmigungsvorbehalte durchaus noch in den staatlichen Verantwortlichkeits- und Kontrollzusammenhang, wenn auch in gelocker­ter Form, einbezogen; zweitens unterliegen alle autonomen Entscheidungen der kommunalen Selbstverwaltung einer eigenen, entsprechend dem ört­lichen Aufgabenkreis auf die Gemeinde-, Kreisbevölkerung als gebietsbe­zogene Personenallgemeinheit (und soweit „Teilvolk") bezogenen demo­kratischen Legitimation und Kontrolle. Dadurch unterscheidet sie sich wesentlich von einer sich auf bestimmte Interessen oder Funktionen grün­denden „Selbstverwaltung", die eben solcher von einer Personenallgemein­heit herrührender demokratischer Legitimation entbehrt.

[49] Grundlegend dazu immer noch L. v. Stein, Geschichte der sozialen Bewegung, a.a.O. (N. 15), Bd. 1, S. 123 f., 131 ff.

[50] L. v. Stein, a.a.O. (N. 15), Bd. 2, S. 72 ff.

[51] Art. 2 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte erklärt zum Zweck des Staates „la conversation des droits naturels et imprescriptibles de l’homme“. Lorenz von Stein formuliert als Prinzip des Staates, wie er in der französischen Revolution gesetzt wird, die „Erhebung aller einzelnen zur vollsten Freiheit zur vollsten persönlichen Entwicklung“ (a.a.O. [N. 15], Bd. 1, S. 35).

[52] L. v. Stein, Geschichte der sozialen Bewegung, a.a.O. (N. 15), Bd. 3, S. 104. — Man kann diesen Zusammenhang auch mit dem Dictum von Wolfgang Hefermehl ausdrücken: „Geld ist geprägte Freiheit". Der kapi­talistische Anschein dieser Formel trügt; denn ihre Aussage ist ja gerade, dass Freiheit von Geld, als kapitalmäßig verflüssigtem Besitz, abhängig ist, also Freiheitssicherung nicht unabhängig von, sondern gerade durch Besitz­sicherung und Besitzschaffung erfolgt. Alle sozialstaatlichen Ausgleichs-und Umverteilungsziele erhalten so, dringt die Formel in ihrer Evidenz ins allgemeine Bewusstsein, eine neue und sehr prinzipielle, weil von der Freiheit statt von der Gleichheit ausgehende Legitimation.

[53] Ernst Forsthoff, Verfassungsprobleme des Sozialstaats, 2. Aufl. 1967.

[54] Dieter Suhr, Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit: Der Staat 9 (1970), S. 67 ff. (83-87).

[55] Dazu Suhr, a.a.O., S. 85 f.

[56] L. v. Stein, Handbuch der Verwaltungslehre, 3. Aufl., Bd. 3, 1887. Stein entwickelt hier Begriff und Inhalt der „sozialen Verwaltung", vgl. insbes. S. 34 ff., 45-48, 82-86.

[57] Eine solche Maßbestimmung ist nicht möglich ohne eine an den ver­bindlichen Staatszielbestimmungen orientierte Lehre von den (notwendi­gen, möglichen und unzulässigen) Staatsaufgaben, die nach wie vor ein Desiderat der Staatsrechtslehre darstellt. Ansätze dazu bei Hans J. Wolff, Verwaltungsrecht I, 8. Aufl. 1971, § 11, S. 53 ff.

[58] Siehe E.-W. Böckenförde, Entstehung und Wandel des Rechtsstaats­begriffs, in: Festschrift für Adolf Arndt, 1969, S. 68-71; ein beachtlicher Konkretisierungsversuch dieser Nebenordnung bei D. Suhr, a.a.O. (N. 53), S. 87 ff.

[59] Zum Sozialstaatsprinzip als Auftrag an Gesetzgeber und Verwaltung vgl. P. Badura, Auftrag und Grenzen der Verwaltung im sozialen Rechtsstaat: DOV 1968, S. 446 ff., unter Bezugnahme auf die Judikatur des BVerfG Werner Weber, Die verfassungsrechtlichen Grenzen sozialstaatli­cher Forderungen: Der Staat 4 (1965), S. 409 ff. (430 ff.); seitdem noch BVerfGE 22, 180 (204).

[60] Siehe dazu J. K. Galbraith, Die moderne Industriegesellschaft, 1968, S. 67 ff., 332-355. Die Struktur dieses Prozesses entspricht dem von H. Freyer, Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, 1956, entwickelten Mo­dell „Sekundäres System", vgl. daselbst S. 79 ff.

[61] Schon die Präambel der Weimarer Verfassung proklamierte den Staat als Träger des gesellschaftlichen Fortschritts.

[62] Dazu jetzt die Referate von K. H. Friauf und H. Wagner, Staat und Wirtschaft, in: VVDStRL Heft 27 (1968), S. 1 ff., 47 ff.

[63] Eine Ausnahme besteht für Steuerregelungen, die den einzelnen un­mittelbar treffen. Sie sind jedoch kraft des bislang unangefochtenen Prin­zips, dass Steuer keine Enteignung ist, vom rechtsstaatlichen Gewährlei­stungssystem freigestellt; vgl. Forsthoff, Begriff und Wesen des sozialen Rechtsstaats: ders., Rechtsstaat im Wandel, 1964, S. 52/53.

[64] H. J. Arndt, „Staat" und „Wirtschaft": Studium generale 21 (1968), S. 712-733, insbes. 719 ff.

[65] Also für die Beamten sowie die Angestellten und Arbeiter des öffent­lichen Dienstes, teilweise auch für die Alters- und Sozialrentner.

[66] Offensichtlich hatte der Schlieker-Konzern 1961 diese „Umschlags“-größe noch nicht erreicht; auch bei ihm handelte es sich, wie bei Krupp, um Liquiditätsschwierigkeiten, nicht um einen ,Bankrott; die Konkursquote im Konkursverfahren betrug 100 0/0. Welches ist das zugrundeliegende Rechtsprinzip für das staatliche Handeln im einen, für das staatliche Nicht­handeln im andern Fall?

[67] In der Weimarer Zeit wurde dafür von Carl Schmitt die Kennzeich­nung (quantitativ) „totaler Staat aus Schwäche" geprägt.

[68] E. Forsthoff, Von der sozialen zur technischen Realisation: Der Staat 9 (1970), S. 151 ff.; ders., Der Staat der Industriegesellschaft, 1971, S. 43 ff.

[69] Das ist nicht eine Meinung oder Ansicht, sondern ergibt sich mit not­wendiger Konsequenz aus der Zielsetzung (§ 1: gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht = sozialstaatliches Quadrilemma) und den Mitteln (anti­zyklische Haushaltspolitik und Haushaltsvollzug; Konjunkturausgleichs­rücklage bzw. Mehrausgaben; Kreditlimitierung; befristete Steuererhöhun­gen) des Stabilitätsgesetzes in Verbindung mit der Entscheidungsfreiheit der Wirtschaftssubjekte (Art. 2 I, 12 GG) und der verfassungsrechtlich abgesicherten Tarifautonomie (Art. 9 III GG). Die staatliche Einwirkungs­möglichkeit reicht hier nur bis zur (rechtlich unverbindlichen) „Konzer­tierten Aktion" (§ 3 StabG); konjunkturregulierende Steuererhöhungen sind politisch nur in ganz besonderen Ausnahmefällen, nicht als Regel­instrument einsetzbar.

[70] Was im Grunde nur eine logische Konsequenz ist, wenn der Staat als Selbstorganisation oder bloße Funktion der Gesellschaft begriffen wird, ohne eigenen allgemeinen Inhalt.

[71] Siehe oben Abschnitt I, S. 400 f.

[72] Carl Schmitt, Verfassungsrechtliche Aufsätze, 1958, S. 496 ff., 503 f.

[73] Vgl. Hermann Heller, Staatslehre, 1934, S. 137 f.

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