Die Aufrichtigkeit im Zeitalter technischer Lüge
Etwas ist faul im Staate Internet
Es sind nur wenige Urteile über das persönliche Verhalten von Menschen denkbar, die so uneingeschränkt positiv besetzt sind wie jenes, jemand habe sich aufrichtig verhalten.1 Wir schätzen die Aufrichtigkeit, weil sie der Kommunikation das enorm wichtige Attribut der Wahrheit verleiht. Sie ist der Garant für eine Art 'Bodenhaftung' der Person, die sich äußert. Es gibt sogar Situationen, in denen Aufrichtigkeit über das weitere Schicksal einer Person entscheiden kann, insbesondere dann, wenn jemand sich zuvor grob falsch verhalten hat. Dies ist z.B. vor dem Strafrichter der Fall, wenn die aufrichtige Reue des Täters eine erhebliche Milderung des Strafmaßes bewirken kann, oder auch im Streit zwischen den Partnern einer Intimbeziehung, wo das vorangehende Fehlverhalten die Beziehung zu zerstören droht, wenn sie oder er nicht aufrichtig dazu Stellung nimmt und sich gegebenenfalls glaubwürdig (ein anderes Wort für 'aufrichtig') entschuldigt.
Mit der Aufrichtigkeit scheint es im Zeitalter sozialer Netzwerke und der Allöffentlichkeit des Menschen, die sie mit sich bringen, allerdings nicht sehr weit her zu sein. Hier ist etwas grundsätzlich anders. Bei der Selbstdarstellung einer Person vor einer Gruppe, gar vor einer, deren einzelne Mitglieder man gar nicht mehr alle persönlich kennt, verwandelt sich die Aufrichtigkeit von einer Chance auf höhere Akzeptanz in ein erhebliches Risiko der Lächerlichkeit. Dies rührt daher, dass öffentliche Kommunikation immer auch Konkurrenz um die knappe Ressource öffentlicher Anerkennung ist. Man muss als jemand, der öffentlich kommuniziert, wie bei einer politischen Meinungsumfrage immer mitrechnen, wie das je eigene Verhalten sich insgesamt auf mein öffentlichen Bild auswirken könnte. Öffentliche Kommunikation ist folglich, um mit Axel Honneth zu sprechen, immer Kampf um Anerkennung. Da kann Aufrichtigkeit ein schwerer Fehler sein. Vielmehr ist nun taktisches Verhalten angesagt, und sei es gar in der Form gespielter Aufrichtigkeit.
Das Grundproblem ist hier offensichtlich eine andere Wahrnehmung des Anderen. Während in der intimen oder zumindest face-to-face-Kommunikation, sogar noch vor dem Strafrichter, der andere jemand ist, mit dem man sich zunmindest potenziell auf eine gemeinsame Sicht der Dinge verständigen kann, wird der Andere in der öffentlichen Kommunikation (die früher nur im politischen Raum gepflegt wurde) zum regelmäßig anonymen Wettbewerber. Dem Wettbewerber aber schuldet man keine Aufrichtigkeit. Seltsamerweise gehört zu den Regeln der öffentlichen Fairness allerlei, z.B. dass man nicht auf Fehlern und Schwächen des anderen herumreitet, die sachfremd sind, oder dass man nicht gehässig ist. Aufrichtigkeit im Sinne einer ehrlichen Auskunft über die eigene Befindlichkeit ist aber noch nie eine Regel fairen Wettbewerbs gewesen. Und Unaufrichtigkeit ist im Übrigen auch nicht gleich Lüge. Vielmehr ist es Geschicklichkeit. wenn nicht gar Tugend, dass frau beim Schminken die Hautunreinheiten oder Falten im Gesicht unaufällig überdeckt und beide Geschlechter leibliche Überfülle gerne durch ihre Kleidung zu vertuschen versuchen. Man wird auch von niemandem erwarten dürfen, dass er in seinen Facebook-Posts ständig auf dem Pfad der Aufrichtigkeit wandelt, wenn er dadurch massive öffentliche Nachteile zu befürchten hat.
War's das dann also mit der Aufrichtigkeit im öffentlichen Raum? Nun, nicht ganz. Das Problem ist nämlich, dass die öffentliche Kommunikation auch für Nicht-Politiker (insbesondere jüngere Menschen) in ihrer gesamten Alltagskommunikation nachweislich so stark zugenommen hat, dass damit auch der anteilige Druck, aufrichtig zu kommunizieren, zunächst unter dem Druck des sozialen Wettbewerbs entsprechend geringer ausfällt. Tendenziell wird jede Kommunikation schließlich zur öffentlichen in dem Sinne, dass man sich unwillkürlich überlegt, wie mein Verhalten wohl beurteilt würde, wenn "das jetzt alle sehen könnten." Die eigentlich bedrohte (Kontakt-)Art ist also gar nicht die Aufrichtigkeit, sondern die Intimität. Denn Aufrichtigkeit kann nur dort blühen und wird auch nur dort gefordert, wo man sich persönlich gegenübersteht, sitzt oder liegt - könnte man meinen.
Die bare Münze ist immer noch die erste Währung
Nun wäre es allerdings ein absolut müßiges Unterfangen, die Menschen zu mehr Intimität und damit zu mehr Aufrichtigkeit anzuhalten. Warum auch? Sie werden schon selbst wissen, was sie brauchen - könnte man neuerlich meinen. In diesen Dingen Ratschläge zu erteilen ist schwierig, zumal nicht sicher ist, unter welchen Umständen sie wirklich so gut sind, wie sie sich geben. Und doch: Es gibt ein Argument, das zwar nicht unbedingt für mehr Intimität, aber doch immerhin für mehr Aufrichtigkeit spricht, und zwar selbst im öffentlichen Raum. Dabei geht es keineswegs um Moral, also um irgendeine Verhaltens-Bringschuld des Individuum gegenüber seiner sozialen Umwelt. Vielmehr geht um ein ureigenes Bedürfnis des Menschen, das sogar noch vor seinem Kampf um Anerkennung rangiert. Dies ist das Bedürfnis nach Teilhabe, man könnte auch sagen: nach Mitgliedschaft in einer sozialen Gemeinschaft. Dass dieses Bedürfnis strukturell tiefer liegt als jenes nach Anerkennung, erkennt man leicht daran, dass wir unter gewöhnlichen Umständen eine schwankende Wertschätzung unserer Umgebung deutlich eher in Kauf nehmen werden als das Risiko, aus einer Gruppe, zu der wir bisher gehörten, ganz ausgeschlossen zu werden.
Die soziale Teilhabe ist nun allerdings subjektiv und objektiv davon abhängig, dass ich als Mitglied einer Gruppe zumindest in einigen wenigen Hinsichten als derjenige akzeptiert werde, der ich tatsächlich bin - 'tatsächlich' in dem Sinne, dass ich selbst der Meinung bin, das zu sein, was die anderen in dieser Hinsicht von mir halten. Subjektiv fordern wir dies, weil wir uns sonst wie Spione oder Verräter fühlen und obendrein schwer davon bedroht wären, jederzeit in unserer wahren Beschaffenheit erkannt zu werden und damit 'aufzufliegen'. Objektiv fordert jede Gemeinschaft eine solche 'wahre' Kenntnis ihrer Mitglieder im Sinne eines öffentlichen Wissens über sie, weil nur so stabile Sozialstrukturen, beispielsweise Vertrauen bei der Vergabe von Ämtern oder Erfolgsgewissheit bei der Übertragung von Aufgaben, aufrecht erhalten werden können. Dieses gegenseitige sich Kennen ist aber nur möglich, wenn die Mitglieder einer Gruppe aufrichtig über sich Auskunft geben, und zwar fortlaufend. Nur so können auch eventuell hochdynamische Situationen halbwegs erfolgreich kollektiv gemeistert werden.
Damit dreht sich der Spieß jedoch um. Wir müssen also selbst in der Öffentlichkeit aufrichtig sein... Dies zumindest in dem Umfange, wie dies zum Wohl der jeweiligen sozialen Gruppen implizit ständig erwartet wird und auch für unser Wohlbefinden in dieser Gruppe notwendig ist. Eine komplizierte Sache, denn der vorhin angesprochene soziale Wettbewerb ist damit ja nicht aus der Welt geschafft. Er bekommt vielmehr selbst Konkurrenz! Wir können aber nicht nur ständig konkurrieren, denn sonst ginge uns etwas verloren, was allem Geltungsdrang immer noch vorausgeht. Das ist die Gemeinschaft selbst. Dem steht auch nicht das Einsame-Wolf-Gefühl entgegen, dass wohl jeden von uns manchmal überfällt, wenn uns all die lieben Mitmenschen enorm auf die Nerven gehen. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein; er will es mit anderen zusammen essen. Die meisten von uns jedenfalls. Wäre dem nicht so, gäbe es überhaupt keine sozialen Netzwerke im Internet. Also: Probier's mal mit Auf-rich-tig-keit, wie bereits Balu und Mogli so schön intonierten. QED.
(ws / Kommentare erwünscht)
1 Das klingt ein bisschen nach dem ersten Satz des Ersten Abschnitts in Kants "Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" und ist auch so gemeint.