Der Nomos des Geistes
Der lange Weg zum Frieden
Im Jahr 1950 veröffentlichte Carl Schmitt eine seiner letzten Monographien mit dem Titel "Der Nomos der Erde". Das Buch ist - bei aller vordergründigen Gelehrsamkeit - seine Lektüre nur sehr bedingt wert, da es das Völkerrecht auf das Recht zum Krieg reduziert. Darüber hinaus bemüht sich Schmitt darin indirekt um eine Rechtfertigung Deutschlands für sein Verhalten im 1. Weltkrieg. Offenbar war er auch nach dem Ende des 2. Weltkrieges immer noch der Meinung, dass Krieg an sich unvermeidlich sei. Der mantraartig im besagten Buch repetierte Begriff ist jener des Raumes; seit 500 Jahren sei 'Raum' angeblich synonym zu 'einheitlicher Kulturraum' (bei ihm: ausschließlich Europa) zu verstehen. Ein solcher 'Raum' sei die eigentliche wichtige Größe, wenn es zu klären gilt, welche staatlichen Machtansprüche gegenüber ebensolchen Konkurrenten gerechtfertigt seien. Das Buch ist leider neuerlich aktuell insofern, als der Ungeist, der dahinter steht, auch heutzutage wieder fröhliche Urständ zu feiern scheint.
Nun könnte unter dem ursprünglichen Titel durchaus ein neues und sehr zeitgemäßes Buch erscheinen, das einen ganz anderen Inhalt hat. Der sprachliche Trick von Carl Schmitt ist es nämlich, das Wort 'Erde' mit dem Wort 'Boden' gleichzusetzen, mithin die Grundgesetze sozialer Ordnung auf die Regeln der physischen Landverteilung unseres Globus nach Maßgabe zivilisatorischer Rechtfertigungsgründe zu reduzieren. Tatsächlich aber ist es, insbesondere seit dem Ende von Hitler-Deutschland, der Gründung der UNO und der weltweiten Anerkennung der Menschenrechte, wesentlich sinnvoller, wenn überhaupt, vom "Nomos der Erde" als einer universellen sittlichen Ordnung aller menschlichen Gesellschaften auf unserem Planeten zu sprechen. Genau hier zeigen sich nun allerdings die alten Frontlinien, wie sie schon zur Mitte des 20. Jahrhunderts an vielen Orten ausgefochten wurden. Ihr Thema lautet: Ethnische und nationale Abschottung versus universelle Vernunft. 'Global' bedeutet den neuen Populisten etwas ganz anderes als 'universell': Ihr Aufbegehren ist zwar auf der ganzen Welt zu beobachten und insofern global; es ist aber gerade auf die soziale Absonderung, die Apotheose der Gegnerschaft und insofern genau gegen die Idee des Universalismus gerichtet.
Wider den groben Keil
Viel ist geredet worden über die Ursachen dieses Phänomens. Klar ist inzwischen, dass die Anhänger dieser Bewegung weder der ungebildetere, noch der ärmere Teil der Weltbevölkerung ist. Die Bruchlinie verläuft anderswo. Sucht man die Gemeinsamkeiten dieser Bewegung zwischen den USA unter Trump, den radikal-konservativen Polen, den xenophoben Ungarn unter Orban, den LePen-Anhängern in Frankreich, den radikalen deutschen AfDlern, den ewig in ihrem Nationalstolz verletzten Russen oder den vor wirtschaftlichem Erfolg aggressiv-stolzen chinesischen Nationalisten und anderen Gesellschaften, so scheint das zentrale Problem keineswegs eines des Kampfes um materielle Ressourcen zu sein. Vielmehr ist es eine ganz grundsätzliche Einstellung zur sozialen Herrschaft und ihrer Legitimation. Sie treibt gerade einen ziemlich groben Keil zwischen die Menschen der Welt. Die Rebellen stehen mit gänzliche unbegründetem Selbstbewusstsein gegen eine Ordnung auf, die sich seit dem 2. Weltkrieg gerade gerade gegen Carl Schmitt, Alfred Rosenberg und Konsorten, also gegen jede Mythologisierung sozialer Identität und ihre Bindung an 'Blut' (= ethnische Herkunft) und 'Boden' (= Verschmelzung mit der angeblich eigenen Erde) durchgesetzt hat. Diese geistige Nachkriegsordnung knüpft zentral an die beiden großen Aufklärungen Europas an: die erste antike Aufklärung im Athen von Sokrates bis Aristoteles und die zweite vor allem in Frankreich und England im 18. Jahrhundert. Sie beruft sich auf den zentralen Begriff der Vernunft.
Nun mag es bei genauer Nachfrage schwierig sein exakt zu bestimmen, was eine Vernunftordnung überhaupt ist. Jürgen Mittelstraß hat es in seiner lehrreichen Habilitationsschrift mit dem Titel "Neuzeit und Aufklärung. Studien zur Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft und Philosophie" (Walter de Gruyter, 1970) allerdings geschafft, zumindest einen Minimalkonsens zu definieren, was unter einer vernünftigen Sozialordnung zu verstehen ist: In einer solchen Gesellschaft ist jedes Detail der öffentlichen Ordnung grundsätzlich hinterfragbar und bedarf dann einer entsprechenden, nämlich vernünftigen Begründung. Als solche zählt allerdings nicht jede. Vielmehr sind als Begründungen der Umstände sozialer Ordnung und ihrer Veränderung nur solche Argumente zugelassen, die sich nicht einfach darauf berufen, dass es 'immer' schon so war, dass es so 'üblich', 'normal' etc. sei. Mittelstraß zeigt, dass solche Begründungen im vernünftigen Diskurs deshalb nicht zugelassen sind, weil sie in Wirklichkeit gar keine Begründungen sind, sondern lediglich ein Beharren auf dem jeweils eigenen Willen ohne Begründung. Zwar könnte ein Detail einer Sozialordnung sich nachweislich dadurch bewährt haben, dass es schon lange Bestand hat und in seinem Bereich auch erfolgreich war. Dann ist es aber gerade nicht die Dauer, die als Argument ins Feld geführt wird, sondern der soziale Erfolg einer solchen Regelung, worin auch immer dieser bestehen mag. Dieser wäre zu explizieren.
Gibt es eine universelle Vernunft?
Damit kommen wir zum Kern unserer Ausgangsfrage: Wenn der Nomos der Erde einer des Geistes und keiner von Blut und Boden sein soll, dann müssen wir das Mittelstraß'sche Argument, was als vernünftiger Diskurs zu gelten habe, noch um einen Bereich erweitern, an den er zur Zeit der Niederschrift seiner Arbeit offenbar gar nicht dachte. Dies betrifft die Frage, wie auch über die Grenzen der europäischen Kultur hinaus, d.h. universell eine Vernunft gedacht werden kann, die für Menschen unterschiedlichster kultureller Prägung akzeptabel ist. Dies aber berührt jenen Kern des Menschseins, der rein symbolischer Natur ist, nämlich seine soziale Identität. Wir wissen seit Ernst Tajfel (1919-1982) und neuerdings nachdrücklich aus dem Munde von Amartya Sen (*1933), dass Identität ein durch und durch soziokulturelles Konstrukt ist, und obendrein ein sehr komplexes, ständig changierendes Phänomen. Als einzelne Menschen haben wir in diesem Sinne gar keine fixe Identität, sondern bilden sie ständig neu, der jeweiligen Situation sich anpassend, immer nur um einen Überzeugungsmittelpunkt herum tanzend. Unsere Identität ist wie ein Gewicht, das an einem Gummiband um ein personales Zentrum kreist. Auch dieses Zentrum ist aber nicht wirklich fixiert, sondern schwankt mit dem Zeitgeist, ist unvermeidlich ein Konstrukt seiner jeweilige Epoche.
In einem solchen "Vielkörper-Problem", das noch nicht einmal in seiner mechanischen Gestalt berechenbar ist, geschweige denn in menschlichen Gesellschaften, ist die Behauptung universeller Vernunft folglich nur plausibel, wenn man von einigen wenigen gemeinsamen, dafür fundamentalen Minimalvoraussetzungen ausgehen kann. Diese könnten sein:
- Eine grundsätzlich empathische Einstellung gegenüber allen Mitmenschen, unabhängig davon, ob man sie wegen kultureller Unterschiede wirklich zu verstehen meint oder nicht.
- Das Anerkenntnis, dass man in seinem Verständnis anderer Menschen immer vor einer subjektiven Grenze des Verständnisses und der Einfühlung steht, die zu Irrtümern über den anderen führen kann.
- Das Anerkenntnis, dass soziale Normen nur in dem Umfange Geltung verlangen können, wie sie von den betroffenen Menschen zumindest überwiegend als moralisch gut beurteilt werden, worauf sich ein solches Urteil hinsichtlich emotional auch immer stützt.
Die ideologische Erhöhung partikularer Gewalt, gar zur Notwendigkeit des Krieges und als ein Recht der Völker zum Krieg stilisiert (siehe dazu beispielsweise den ultrarechten Beitrag von Günter Maschke in der Zeitschrift "Tumult" 1/2015; er ist ein Apologet seines Mentors Carl Schmitt, den Leo Strauss bereits 1941 als einen typischen Vertreter des deutschen kriegsverherrlichenden Nihilismus jener Zeit bezeichnete), ist damit nicht diskursfähig, wenn es um den neuen "Nomos der Erde" im Sinne einer geistig universellen Ordnung der Menschheit, trotz aller kulturellen Differenzen, geht.
Geduld, Geduld
Ein in diesem Sinne vernünftiger Mensch wird diejenigen Zeitgenossen, die sich einer Vernunft im hier umrissenen Sinne nachdrücklich verweigern, nicht umstimmen können. Sie sind letztlich Apologeten der reinen Gewalt. Ihnen müssen wir aktiv, aber geduldig standhalten. Gegengewalt ist nur in gesetzlich fundierter Form zulässig und nur in dem Sinne, wie es zur Abwehr illegitimer Gewalt notwendig ist. Umgekehrt gilt natürlich: Dem besseren Argument müssen auch wir weichen, ebenfalls ohne Gewalt. Das gehört zum Ethos der Vernunft.
Um aber standhalten zu können, bedarf es intellektueller Klarheit und auch Großzügigkeit. Der Nomos der Erde entspringt einem freundlichen Geist. (ws)
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