Der Mensch lebt nicht von Macht allein
Es gibt so vieles zu entdecken...
Eines der ältesten Ideologeme betreffend die Handlungsmotivation des Menschen behauptet, es sei hauptsächlich das Streben nach Macht, was ihn antreibe. Seit Tukydides in der Antike über Machiavelli bis an die Pforten der Moderne mit Nietzsches notorischem Begriff des "Willens zur Macht", schließlich zeitgenössisch z.B. bei Panajotis Kondylis (siehe sein radikales Buch "Macht und Entscheidung") wird das Machtstreben, meist als soziale Ausformung des so genannten Selbsterhaltungstriebs, auf den Thron der Vielfalt menschlicher Verhaltensmotivation gehoben.
Derlei Behauptungen und Theorien sind in vielerlei Hinsicht verdächtig. Zunächst ist auffällig, dass solche Auffassungen praktisch ausschließlich von Männern vorgetragen werden, und dass diese Männer meines Wissens nirgends reflektieren, ob es nicht eine Art männlicher Macke oder, feiner ausgedrückt, psychischer Verarmung sein könnte, was sie dort behaupten. Ein zweiter Einwand betrifft die kulturelle und epochale Abhängigkeit. Leute, die von "dem Menschen" als einem Machttier reden, behaupten damit eine Art anthropologischer Konstante, d.h. eine Motivationsstruktur, die unabhängig von Zeiten, Orten und kulturellen Umständen ist. Hier wäre empirische und philologische Forschung angesagt um zu überprüfen, ob Frauen, andere Kulturen und andere Zeiten nicht ganz andere Auffassungen zum angeblich stärksten aller sozialen menschlichen Triebe hatten bzw. haben.
Indessen genügt einfaches Nachdenken und eine Durchmusterung der eigenen Lebenserfahrung, um zumindest einige andere Aspekte ins Spiel zu bringen, die den Absolutheitsanspruch des Selbsterhaltungs- bzw. Machtstrebens von seinem ideologischen Sockel zu stoßen. Folgende Illustration beansprucht keinerlei Vollständigkeit. Sie zeigt aber doch mit allgemein nachvollziehbarer Plausibilität, dass es zahlreiche Motivationsfelder gibt, die uns im Alltag antreiben:
Je nach Umständen und persönlicher Neigung mischen sich die hier genannten Handlungsmotive überdies in großer Vielfalt. Dabei lässt sich keineswegs leugnen, dass die Selbsterhaltung eine zentrale Rolle im Handeln und - allgemeiner - dem gesamten Verhalten des Menschen spielt. Es ist aber nicht einzusehen, wieso sich das Selbsterhaltungsstreben im sozialen Zusammenhang nur als Machtstreben äußern soll. Der Drang nach Selbsterhaltung findet sich vielmehr in vielerlei Gestalt auch in den anderen Motivationsfeldern wieder.
Gretchen heute: "Nun sag', wie hast Du's mit der Politik?"
Ein Vertreter der eingangs genannten These, der soziale Mensch strebe vor allem nach Macht, könnte sich allerdings darauf zurückziehen, dass seine These durchaus gelte, allerdings nur in einem etwas eingeschränkteren Sinne. Sie betreffe insbesondere das Gebiet des öffentlichen Meinungskampfes, sprich: der Politik. Allein, auch dies ist nicht plausibel. Sicher wird niemand ernsthaft bestreiten, dass Politiker (alte Terminologie: "Herrscher") oft sogar mit äußerst groben bis brutalen Mitteln um eine Erweiterung ihrer Macht bemüht waren und sind. Kein Machthaber kann jedoch tun und lassen, was er will, ohne eine ganz überwiegende Mehrheit der Beherrschten zumindest soweit auf seiner Seite zu haben, dass er nicht bei nächster Gelegenheit umgebracht wird.
Dies gelingt nur, wenn die zu allen Zeiten und in allen Kulturen umfassende Dynamik des gesamten jeweiligen Kollektivs, sei dies ein kleiner Sportverein oder eine Massengesellschaft, so strukturiert ist, dass konkurrierende ideologische Fragen des Weltbilds (z.B. der Geschlechterrollen oder der Religion) ausgetragen werden können und nicht nur unterdrückt werden. Gleiches gilt für die Erwerbs- und Geltungskonkurrenz der meisten Mitglieder eines Kollektivs. Eine vollständige Unterdrückung aller sozialen Dynamiken wird kein Herrscher auf Dauer überleben. Solche Kräfte müssen folglich organisiert werden, und dies führt historisch und kulturübergreifend praktisch immer und überall zu einer dynamischen Struktur, die weit über das individuelle Machtstreben hinausgeht. In der heutigen Situation moderner, industrieller Massengesellschaften ließe sich eines solche Struktur folgendermaßen darstellen:
Hier zeigt sich deutlich, dass die kollektiven Strukturen sozialer Dynamik von vornherein auch die anderen, oben genannten Bedürfnisse, also nicht nur das Machtstreben des Individums berücksichtigen müssen. Sie gehen deshalb weit über das individuelle Machtbedürnis hinaus.
Das vorstehend Gesagte ist freilich nicht mehr als eine Skizze. Gleichwohl sollte sie bereits taugen, um alle jene zum Nachdenken zu bringen, die mit dem letztlich sozialdarwinistischen Vorschlaghammer im Kopf meinen, es käme allein auf die Durchsetzungskraft des Individuums an, was zwischen Menschen zählt. Es bedarf keiner weiteren Erläuterung, dass eine solche Auffassung nicht einmal den Titel "Recht des Stärkeren" verdient, denn alles Recht ist gerade das, was der reinen Stärke von Individuen und Gruppen Grenzen setzt. Wer also den Gott des reinen Machtstrebens anbetet, der zeigt nicht nur, dass er ein recht armes Bild vom Menschen hat, sondern er vergisst auch, dass er oder sie selbst in einer solchen vollständig rechtlosen Sozialität nur ziemlich geringe Aussicht auf Erfüllung, ja letztlich Überleben hat. Das wusste schon Thomas Hobbes, und mit ihm begann bereits von 400 Jahren jene politische Neuzeit, in der wir bis heute leben.
Der Mensch lebt eben nicht von Macht allein. (ws)
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