Platon on the run
Über ewig gekränkte Populisten und arrogante Eliten
Zwei Masken, keine Wahrheit
Seit dem Aufstieg so genannter Populisten in vielen Ländern der Welt fragt sich das erschüttert andersdenkende Publikum, wie der Aufstieg z.B. eines Donald Trump, der überraschende Ausgang des Brexit-Votums und der Machtzuwachs aggressiv-nationalistischer Politiker vom Schlage Recep Tayyip Erdoğans oder Jarosław Kaczyńskis möglich waren. Eine der naheliegendsten, wenn auch wohl unzureichenden Erklärungen macht die angeblich zunehmenden wirtschaftlichen Verwerfungen in den betroffenen Ländern dafür verantwortlich. Tatsächlich ist die wirtschaftliche Lage in den vielen betroffenen Ländern jedoch sehr unterschiedlich; nicht einmal bei der Mehrheit von Ihnen passt das ökonomische Erklärungsmuster.
Eine andere, ebenfalls beliebte Erklärung macht die bedrohte soziale Identität der Aufbegehrenden infolge angeblich überwältigender Migrationsströme vor allem aus armen Weltregionen in die wohlhabenderen namhaft. Gegen diese These spricht bereits, dass in vielen Fällen genau solche Gruppen dieses Argument vorbringen, die am wenigsten oder praktisch gar nicht von Migration betroffen sind, beispielsweise in Deutschland Sachsen oder Polen insgesamt, während in migrationsbetroffenen Regionen und Ländern die Zustimmung oder Ablehnung, und daraus folgend die Integration der Migranten, von viel komplexeren, häufig weit in die Geschichte zurückreichenden Umständen abhängt.
Ich halte es stattdessen für plausibler, von einem im Grunde einfachen Machtkampf innerhalb jener Gesellschaften auszugehen, wo die populistischen Revolutionen stattfinden. Auch solche Machtkämpfe haben natürlich ihre historischen Bedingungen. Die Aufbegehrenden geben allerdings selten zu, dass es ihnen im Grunde allein um Herrschaftsansprüche geht. Stattdessen schreien sie laut von Ungerechtigkeit, von Überfremdung, von der Rücksichtslosigkeit der herrschenden Eliten etc. Viele ihrer Vorwürfe mögen sogar stimmen. Sie sind aber nicht das wirkliche Motiv ihres Aufstands. Das verhehlen sie. In der Geschichte ist es üblich, als Wettbewerber um die politische Macht, wenn man nicht am Ende zu Mitteln der reinen Gewalt greift, andere Gründe als das reine Machtinteresse vorzuschieben, um leichter die Gunst des Publikums zu erlangen. Davon sollten wir uns nicht täuschen lassen. Der Kampf um die Macht hat viele Gesichter. Dahinter steht aber meist das immergleiche und simple Motiv: Jetzt wollen wir der Boss sein.
Im Folgenden will ich auf ein typisches Beispiel solcher machtpolitischer Strategie der neuen Populisten eingehen, wie es sich gerade in England zeigt.
Ein intellektuelles Kuckuksei
In England ist dieser Tage ein Buch von David Goodhart mit dem Titel The Road to Somewhere. The Populist Revolt and the Future of Politics[1] in aller Munde. Es bemüht sich zunächst nach einer komplexeren Antwort auf die Frage nach den Hintergründen des neuen Populismus. David Goodhart ist ein in England bekannter Globalisierungsgegner und Freund nationaler Identität. Seine negative These lautet zunächst, dass die alte Parteilichkeit innerhalb der heutigen Industriegesellschaften in ‚rechte' und ‚linke' Lager überholt sei. Er erklärt die neue politische Bruchlinie in der Welt stattdessen als Folge arroganter Abgehobenheit einer selbsternannten, internationalistischen Elite, die sich über alle Formen geographischer/historischer Identität absichtlich hinwegsetzt und stattdessen mit stolzgeschwellter Brust auf ihre Examenszeugnisse von berühmten und teuren Universitäten verweist, um damit ihren globalen Führungsanspruch zu begründen. Diese Anywheres fühlen sich moralisch angeblich niemandem mehr verpflichtet und bevormunden, so sein Fazit, die Mehrheit der übrigen Menschen unter anderem, indem sie systematisch alle nicht ‚smarten‘ (heißt: noch materiell rückgebundenen) Kompetenzen der Somewheres mit Verachtung strafen. Dies betrifft insbesondere handwerkliches Können, aber auch alle ihrer lokalen Sitten und Gebräuche (einschließlich der Religionen): In der dieser Elite unterstellten Arroganz bedarf jede Handarbeit selbstverständlich der Führung und Anleitung durch theoretische Intelligenz (also der Führung durch eben diese Eliten). Sitten, Gebräuche und Religion seien bestenfalls unterhaltsam, meistens aber schädlich, weil sie die ökonomische Effizienz der Arbeit der ‚Unteren‘ mindern.
Gegen diese vorgebliche Frechheit wehrt sich laut Goodhart seit einigen Jahren das nicht-intellektuelle Publikum. Es fühlt sich durch ein solches elitäres Verhalten seiner Identität beraubt und kollektiv auf höchst beleidigende Weise abgewertet. David Goodhart presst dieses – übrigens keineswegs neue – Erklärungsmuster der gegenwärtigen ‚Revolution‘ in die einfache begriffliche Dichotomie der Somewheres (das sind die irgendwo noch in einer überkommenen Kultur verwurzelten, angeblich zunehmend entrechteten Menschen, die nicht zu diesen Eliten gehören) und der Anywheres (also jene identitätslosen und folglich frivolen Gesellen der selbsternannten Eliten).[2] Wir sollten allerdings nicht vergessen, dass ein solcher Vorwurf passgenau auch der Kern z.B. der nationalsozialistischen Propaganda gegen das ‚bolschewistische Judentum‘ und letztlich auch der giftige Hintergrund ihres gesamten Antisemitismus ist: Damals wie heute war ihr Gegner der kosmopolitisch angeblich abgehobene ‚Plutokrat‘, wie diese Eliten zur Nazizeit genannt wurden, und in der Folge überhaupt jede nicht heimatverliebte Intellektualität. ‚Der Jude‘ galt den Nazis als Prototyp dieses arroganten Kosmopoliten. PolPot ließ in Kambodscha später sogar Zentausende Brillenträger erschlagen, einfach weil sie womöglich so frech waren zu lesen. Diese Spielart des Populismus ist reiner Intellektuellenneid, der nicht selten mörderisch wird.
David Goodhart gibt sich dagegen feiner; immerhin ist er selbst einer von der Sorte, die er kritisiert. Er ist in seinen Argumenten wohl informiert, erst im Ergebnis unterkomplex. Er ist auch kein Hetzer vom Schlage mancher Anhänger des gegenwärtigen amerikanischen, russischen oder türkischen Präsidenten. In seiner faktischen Analyse mag er sogar in vielen Punkten Recht haben. Die Frage ist allerdings – und die beantwortet er nicht – ob die angeblich entrechteten Somewheres tatsächlich auch moralisch auf der besseren Seite des Kampfes um die politische Macht stehen. Goodhart empfiehlt in seinem etwas verlogen anmutenden Resümee lediglich, dass man auf die armen Somewheres doch mehr hören, sie ernster nehmen müsse, sie nicht einfach arrogant beiseiteschieben und als dumm hinstellen dürfe etc. Auch hierin hat er sicherlich Recht, wenn auch weit allgemeiner als vom ihm beabsichtigt: Arroganz ist auch umgekehrt im Verhältnis der bildungsschwächeren Schichten gegenüber ihren intellektuelleren Herren abzulehnen. Die Geschichte kennt nicht nur viele solcher letzteren Beispiele (unter anderem die französische, die russische und die chinesische Revolution; sie alle wurden zwar von Intellektuellen angeführt, ihre siegreiche Aggression stützte sich aber gänzlich auf die Kräfte jener ‚Unteren', die ‚die Oberen‘ tödlich verachteten). Die gesamte politische Theorie, nicht nur in Europa, seit den Anfängen der politischen Theorie vor zweieinhalbtausend Jahren, warnt durchgängig vor dem Aufstand der ungebildeten Massen, vor der ‚Pöbelherrschaft‘. Diese sei die wirklich allerletzte Verfallsstufe jeglicher politischer Kultur und führe letztlich zum Krieg aller gegen alle, weil die soziale Ordnung dabei insgesamt verloren gehe. Darum ist bis vor zwei, dreihundert Jahren auch keine einzige Gesellschaft auf der ganzen Welt auf die Idee gekommen, Demokratie wirklich in dem Sinne zu praktizieren, wie wir sie heute verstehen. Auch die attische ‚Volksherrschaft‘ war in Wirklichkeit nur eine Herrschaft einer eher kleinen Minderheit. Eine Voll-Demokratie, wie sie die westlich orientierten Länder heute praktizieren, wäre für die meisten Gesellschaften der Vergangenheit ein abwegiger Gedanke gewesen.
Das (Un-)Wissen der Alten
Am pointiertesten hat dies Platon in seiner Politeia auf den Punkt gebracht, indem er fordert, dass die Philosophen die Regierungsgeschäfte zu führen hätten, denn sie seien als die vernünftigen Weisen (im Gegensatz zu den nur tapferen Soldaten und den lediglich von Leidentschaften getriebenen Bauern) ‚eigentlich‘ doch die einzigen, die das überhaupt verdient hätten, und zwar gerade wegen ihrer intellektuellen Fähigkeiten. Wenn dem nun wirklich so wäre, so scheint es gerade heute ziemlich rätselhaft, wieso sich so viele Menschen gegen eine Herrschaft von Menschen auflehnen, denen sie nicht etwa einen Mangel an Wissen und instrumenteller Vernunft vorwerfen, sondern genau umgekehrt eine Bevormundung infolge ihres Überschusses solcher Fähigkeiten gegenüber dem ‚gemeinen‘ Menschen. Wie kann das sein?
Nun: Platon hatte Unrecht. Wissen allein berechtigt nicht zur Ausübung politischer Macht. In der politischen Geschichte der Menschheit durften die Intellektuellen bestenfalls ihre mächtigen Herren beraten. Fast nie und nirgends waren sie selbst die Herrscher. Das beweisen sowohl Konfuzius, der Schwierigkeiten hatte, die ungehobelten Fürsten jener Vorläuferstaaten des heutigen China von seiner Weisheit zu überzeugen, wie auch noch Karl V., der Analphabet war und sich jedes Schriftstück von entsprechenden Notaren lesen bzw. aufsetzen lassen musste. Auch der intelligenzschwache letzte deutsche Kaiser, Wilhelm II., würde heutzutage sicher keine Stelle bei Goldman Sachs oder Google bekommen. Zu dumm, zu aufgeblasen. Dennoch: Wie kann es sein, dass fast nirgends jemals Platons Ideal in Erfüllung ging, obwohl seine Forderung zumindest nach überlegener Vernunft doch prima facie sehr begründet klingt und es inzwischen auch nicht an klugen Leuten mangelt, deren Wissen weit über den Durchschnitt hinausgeht?
Die Antwort auf diese Frage dürfte ein wichtiger Teil der Antwort auf die Frage nach den tieferen Ursachen des heutigen Populismus seien: Wissen allein legitimiert noch keine Machtausübung. Der Vorwurf der Populisten an die Eliten lautet, folgt man Goodhart, im Kern: Ihr seid nur schlau, nicht gut. Daraus folgt wiederum (und darin hat Goodhart wohl Recht; er sagt es nur nicht ausdrücklich), dass die heutige weltweite Populismus-Krise im Wesentlichen keine ökonomische, sondern eine Herrschaftskrise ist. Die weniger Wissenden wehren sich gegen den Herrschaftsanspruch der mehr Wissenden, weil diese ihr Wissen eiennützig missbrauchen. Auf den Schwertern der Angreifer steht allerdings nicht dies, sondern ‚Nationale Identität!‘, ‚Unsere Kultur!‘, ‚Unsere Werte!‘ und schließlich das unvermeidliche ‚Ausländer 'raus!'. Und mit diesen Parolen erschlagen sie ihre Gegner keineswegs erst, nachdem sie zuvor gründlich geprüft haben, ob viele Mitglieder der von ihnen bekämpften Eliten nicht vielleicht auch irgendeine gleichwertige Identität, eine Kultur und ebenfalls glaubwürdige Werte zu bieten haben, ja tatsächlich das Gemeinwohl zumindest besser vertreten, als sie, die Somewheres, es könnten. Sie wollen ihre Gegner mit dem schlichten Argument verjagen, dass ihre ‚künstliche Intelligenz‘, ihre von Algorithmen gesteuerte Schlauheit und ihr Egoismus grundsätzlich unerträglich seien – so als wären die Somewhere-Angreifer weniger egoistisch oder auf bessere Weise intelligent.
Sie sind es vermutlich nicht. Woher auch? Dennoch ist ihre Forderung nach Legitimierung von politischer Herrschaft berechtigt. Jede soziale Macht besteht nur so lange, wie so zumindest von der Mehrheit der Unterworfenen anerkannt wird; das gehört zu den Grundeinsichten aller politischen Theorie. Die Revolutionäre müssten den Anywheres deshalb die Chance geben, ihre Herrschaft zu rechtfertigen und sich im fairen Wettbewerb bemühen zu zeigen, dass sie es besser könnten. Das ist der Kern der modernen Demokratie. Der empörte Populist hat hierfür aber keine Zeit. In seiner Wut will er Köpfe rollen sehen als Kompensation für seine gefühlte lebenslange Entwertung, seine empörende Machtlosigkeit.
Politische Herrschaft ist immer eine Zumutung
Die besagte Dialektik der Legitimität politischer Herrschaft ist so simpel, dass sie noch zu allen Zeiten und an allen Orten der Welt begriffen wurde, in Europa vielleicht am deutlichsten von Thomas Hobbes: Herrschaft ist notwendig und auch moralisch gut, wenn sie letztlich für alle, also insbesondere für die Beherrschten, zu einem besseren Leben führt als eine Gesellschaft ohne jene Herrschaftsstrukturen. Die heute vielerorts so verfluchten intellektuellen Eliten müssen sich also keineswegs dafür rechtfertigen, dass sie hochwertige Universitätsexamina absolviert haben und besser programmieren können als ein Industriearbeiter. Im Gegenteil, dies ist eine Voraussetzung dafür, dass sie in der heutigen komplexen Welt wirklich zur Herrschaft taugen. Es ist aber nicht die einzige und vielleicht nicht einmal die wichtigste Voraussetzung. Am wichtigsten ist der plausible Nachweis, dass sie tatsächlich im Gemeinwohlinteresse handeln.
Auf diesen Nachweis wollen die Aufständischen in der Regel leider nicht warten, genauso wenig wie umgekehrt größere Teile der Eliten in der Tat beharrlich und bewusst gemeinwohlschädlich handeln. Wie immer in Revolutionen meinen nun die Angreifer, die Zeit für Plaudereien sei längst abgelaufen und der Beweis der Unredlichkeit der Eliten abschließend erbracht. Die alten Eliten gehörten deshalb sofort ‚gejagt‘ (um mit Herrn Gauland zu sprechen), und wenn das noch nicht reicht, spielen viele der Revolutionäre auch mit gewalttätigen Gedanken. Sie fühlen sich dabei derart im Recht, dass sie geflissentlich ausblenden, dass die Geschichte viele Beispielen parat hält, was passiert, wenn wirklich die Jakobiner, die Bolschewisten oder die Nazis (die Liste lässt sich beliebig verlängern) an die Macht kommen.
Platon hatte also insoweit Unrecht, als Weisheit nicht unbedingt auch moralische Integrität bedeutet, zumindest nicht im heutigen Sinne des Wortes. Weisheit sollte auch nicht mit technokratischem Wissen verwechselt werden. Gute Politik ist sicherlich mehr als Algorithmen und schlaue Finanzjongliererei. Sie lässt sich aber ebenso wenig durch ein schlichtes Weniger an Bildung und Wissen ersetzen. Den Gestaltern der Politik, also den Mächtigen, sollte man deshalb niemals ihre tatsächliche Kompetenz vorwerfen, selbst wenn es weh tut, dass man diese Kompetenz selbst nicht hat und vielleicht auch niemals erlangen kann.
Das Publikum kann aber verlangen (und tut es heute, wenn man es lässt, normalerweise auch im Wege freier Wahlen), dass die Eliten ihre Macht ausschließlich zum Wohle der gesamten Gesellschaft einsetzen. Diese erforderliche Selbstbeschränkung muss auch ständig kontrolliert werden. Die institutionellen Begriffe hierfür lauten ‚Rechtsstaat‘ und ‚Checks and Balances‘. Jede Revolution aber, die über diese Forderung hinausgeht, delegitimiert sich letztlich aus denselben Gründen, mit denen sie den bekämpften Eliten deren Recht auf Herrschaft abspricht.
Wohl doch ein Klassenkampf
Goodhard (und viele andere) meinen, der globale Aufstand der so genannten Populisten habe die alte Einteilung der Politik in links und rechts hinter sich gelassen. Dies stimmt wohl nur, wenn man solche Begriffe als Platzhalter für Reiche und Arme oder Kapitalisten und Lohnarbeiter versteht. Geht man jedoch etwas weiter zurück in der Geschichte, so kommt das alte Marx'sche Diktum in den Sinn, dass alle menschliche Geschichte ein Kampf der unteren gegen die oberen Klassen sei. Das dürfte auch heute noch zutreffen, nur dass es diesmal nicht das Geld ist, dass die Klassenzugehörigkeit bestimmt, sondern technisches Wissen, basierend auf entsprechender Bildung.
Nun denn: Der Kampf um die Macht setzt vor allem Mäßigung auf allen Seiten voraus, wenn er am Ende nicht alle Beteiligten schlechter als zuvor stellen soll. Diese Mäßigung unterscheidet sich sehr auf den jeweiligen Parteiseiten. Die Eliten sollten sich klugerweise dem Imperativ des Gemeinwohls unterwerfen, wenn sie nicht gejagt werden wollen. Die Beherrschten müssen umgekehrt einsehen, dass es besser für sie selbst ist, wenn sie die politische Herrschaft anderen überlassen, die es besser können als sie selbst. Man lese hierzu beispielsweise Lorenz von Stein, der bereits im 19. Jahrhundert diese sehr gründliche Lehre aus der blutigen französischen Revolution und ihren Nachwehen zog. Er wusste, wovon er sprach. (ws)
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[1] Erschienen bei Hurst Publishers, London 2017.
[2] Eine sehr gründliche Kritik des Buches findet sich unter https://www.theguardian.com/books/2017/mar/22/the-road-to-somewhere-david-goodhart-populist-revolt-future-politics
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