Ein Toast auf die Vernunft!
Ein Toast auf die Vernunft
Von Georg Sultan.
Tja, leider. Der Zeitgeist meint es gerade nicht besonders gut mit der Vernunft. Lang ist es her, dass Leute vom Range eines Voltaire und Kant sich für sie einsetzten. Die Vernunft ist heute überall in der Defensive. Sie muss sich vor allem in den verwöhnten und reichen Ländern der Erde gegen den Vorwurf der Gefühlskälte, des Unpatriotismus, der Langweiligkeit, der Besserwisserei, gar der regelrechten Arroganz gegenüber den Unvernünftigen verteidigen. Was ist schief gelaufen, dass der vernünftig auftretende Mensch heute so schlechte Karten hat?
Zunächst eine kurze Abgrenzung: Ich verteidige hier nicht den zweckrationalen Menschen, sondern ausschließlich den vernünftigen. Beide unterscheiden sich fundamental. Während der zweckrational handelnde Mensch (Max Weber sei Dank für diese unübertrefflich präzise Ausdrucksweise!) lediglich seine Zwecke verfolgt, muss sich der vernünftige Mensch mit seinem Verhalten vor dem Forum aller seiner übrigen Überzeugungen verantworten, insbesondere seiner moralischen Auffassungen. Der vernünftige Mensch bemüht sich folglich um ein konsistentes Verhalten. Der nur rationale Mensch kann auch ein Soziopath sein, sogar im Bewusstein seiner Asozialität noch genussvoll seine Zwecke verfolgen.
Die Zweckrationalität ist heute keineswegs im ideologischen Hintertreffen. Im Gegenteil, sie feiert fröhliche Urständ in Gestalt grenzenloser Erwerbsideologien, hartem Gepoche auf dem je eigenen Recht und überhaupt einem durchdringenden Ordnungs- und Effizienzzwang in allen Winkeln des Lebens. Selbstoptimierung hat Dauerkonjunktur, bis hin zu dem von Sloterdijk (in: "Du mußt dein Leben ändern") diagnostizierten, kuriosen Hang zum "Selbstüberstieg". Alle wollen superattraktiv und supererfolgreich sein. Die vielleicht abstoßendste Form der Zweckrationalität aber äußert sich im kommerziell geförderten Schlachtruf nach unbedingter Steigerung des jederzeitigen Genusses aller nur denkbaren Sinnesfreuden, vor allem natürlich der erotischen und sexuellen, aber auch der kulinarischen, sportlichen, oder einfach nur nach Zerstreuung durch so genannte Entspannung qua Fernsehen, Musik, Video und ständiger Kommunikation auf den „mobilen Endgeräten“.
Der vernünftige Mensch, oder sagen wir der ausgleichenden Geschlechtergleichberechtigung wegen besser: die vernünftige Menschin erscheint dagegen merkwürdig deplatziert. Sie ist tendenziell zurückhaltend, wenn andere bereits laut murren oder lachen. Sie widerspricht mit unerwarteter Bestimmtheit an Stellen, wo die Gesprächspartner wie selbstverständlich Zustimmung erwarten, obwohl sie inhaltlich nicht mehr ernstlich vertretbar ist. Die vernünftige Menschin überlegt sich, in welchem Umfange sie anderen Menschen ihre Probleme zumutet. Insbesondere gibt sie keine ungefragten Ratschläge. Sie ist nicht für die ganze Welt verantwortlich, sondern vor allem für ihr eigenes Verhalten. Sie konkurriert nicht heimlich um sozialen Rang und Anerkennung, sondern weiß, wo sie etwas beitragen möchte und dies auch wirklich kann. Darüber hinaus hält sie sich mit Interventionen zurück. Sie ist insgesamt ein eher unauffälliges Wesen, möchte dies selbst um den Preis einer gewissen sozialen Blässe zumindest sein, denn jede Art von Eitelkeit ist ihr abhold. Eitelkeit ist ihr der Urtyp von Unvernunft, also Dummheit und Aufdringlichkeit im Doppelpack. Das gilt es zu meiden.
Doch die vernünftige Menschin hat ein Problem. Ihr eignet nämlich eine an sich löbliche Eigenschaft, die wiederum dem rigoros zweckrationalen Zeitgenossen grundlegend suspekt ist. Dieser Stein des Anstoßes ist in Wirklichkeit eine ganze Kette von Dominosteinen, die einer nach dem anderen stehen oder fallen, je nachdem, wie man sie aufstellt. Zunächst ist die vernünftige Menschin lediglich über den Horizont reiner, eigener Nützlichkeit hinaus an den allgemeinen Umständen interessiert, unter denen wir leben. Sie hat Spaß am Verstehen der Welt aus der Vogelperspektive. So wird sie zur bildungsgeneigten Intellektuellen.
Das ist der erste Dominostein.
Intellektualität, so verstanden wie ich sie hier schildere, hat wohlgemerkt nichts mit höchnäsig-gebildeter Nörgelei zu tun. Bildung nützt der Ausprägung von Intellektualität zwar, sie ist aber weder dafür notwendig noch hinreichend. Vom Intellekt unterstützte Vernunft ist in der Tat eine kühle, gleichwohl sehr freundliche Angelegenheit. Sie ist im Kern ein Verstehenwollen, wohlwollende, aktive Aufmerksamkeit, und gegebenenfalls auch tatkräftige Solidarität. Denn Vernunft in diesem Sinne gedeiht aus dem Willen zur Aufrichtigkeit und moralischen Konsistenz.
Gibt es so etwas überhaupt? Sinniert hier womöglich ein verstaubter Pseudo-Schiller-Goethe in altbackenem Wortschmuck, der irgendwie aus seinem biedermeierlichen Rahmen gefallen ist? Ein schwerer Vorwurf, der kaum zu entkräften ist. Lassen wir ihn einfach stehen.
Steigen wir stattdessen ein Treppchen tiefer und schauen uns an, wo die eigentlichen Bruchlinien zwischen jener Person, die ich hier als ‚vernünftige Menschin’ beschreibe, und ihrer Umwelt verlaufen. Diese Umwelt ist im Vergleich zu ihr vielfach gespalten. Der größte Riss verläuft dabei als Abgrund zwischen dem Zwang zur Rationalität und dem komplementär drängenden Bedürfnis, sie umgehend abzuwerfen durch sofortigen Lebensgenuss und Entspannung. Dem auf diese Weise unfreien Zeitgenossen ist es unmöglich, diesen ihm unerträglichen Widerspruch aufzulösen. Es ist geradezu so, dass sich die beiden Seiten dieses Widerspruchs in ihm oder ihr umso intensiver steigern, je mehr man einer Seite zu genügen versucht. Das hatte schon Buddha erkannt, später die Stoiker.
Dieser Mechanismus ist aus der Sicht der intellektuellen Menschin ein veritabler Teufelskreis. Apropos Buddha: Man entkommt diesem Teufelskreis insbesondere nicht durch Askese-Übungen. Denn die Askese, sei es in Form von Gesundheitsdiäten, Schlankheitskuren, sportlichen, von niemandem geforderten Höchstleistungen, übertriebener Sparsamkeit, bigotter Frömmig- oder anderer Parteilichkeit und ähnlichem Zwangshandeln, ist nur durch äußerste Anspannung der in diesen Dingen sehr anspruchsvollen Zweckrationalität zu erreichen. Solche asketischen Bemühungen triggern unvermeidlich den umgekehrten, zunächst noch im Verborgenen, dann immer stärker pochenden und schließlich erneut mit Macht hervorbrechenden Genusswillen: Her mit dem Bier! Jetzt Sex! Schokolade! Ich hau’ mich aufs Motorrad und bin weg!
Das ist der zweite Dominostein.
Der Typ der vernünftigen Menschin ist heute bedenklich in der Minderheit. Zu stark ist die Werbung, zu hektisch das Zucken der ganzen Welt in ihren Gliedern, überwältigend der reißende Strom von allen Seiten auf uns eindringender, sensationeller Ereignisse. Die vernünftige Menschin versucht sich dagegen zu schützen. Dadurch ist sie wiederum dem ständigen Verdacht ausgesetzt, sie sei irgendwie… nun ja, wie soll man sagen… also vielleicht: nicht ganz normal. Jawohl, nicht ganz normal. Das soll keineswegs heißen, man halte sie für verrückt. Die Leute sind eher irritiert; sie verstehen nicht, was dieser modus intellectualis überhaupt ist, wie er sich anfühlt. Sie verwechseln die Vernunft mit ihrer eigenen angestrengten Zweckrationalität und halten die Vernunft für eine Fessel, halten sie für jenen Feind ihres ununterbrochenen Genuss-, Unterhaltungs- und Entspannungsbedürfnisses, den man wie ein gefährliches Insekt gut im Auge behalten muss. Sie sehen in der Vernunft nur Gefühlskälte, emotionale Verstocktheit, sinnen- und körperfremde Abstraktionssucht, unschöpferischen Regelgehorsam und ähnliches mehr. Dadurch erscheint ihnen die vernünftige Menschin eher wie ein Automat, wie eine Maschine.
Das ist der dritte Dominostein. - Weit gefehlt, so weit gefehlt, ihr Lieben!
Die Vernunft ist doch vor allem das, was man in früheren Zeiten serenitas nannte, also Heiterkeit, Gelassenheit, so weit wie möglich wohlwollende Offenheit – und natürlich auch Klugheit. Sie eröffnet überhaupt erst das Zuhören, Zuschauen und Verstehen in Zeiten konvulsivischer Überproduktion intensiver Meinungen, massenhaft künstlerischer Entäußerungen bei immer knapper werdendem Publikum und einem überbordenden Angebot an Erfolg garantierenden Handlungsprogrammen für jeden nur erdenklichen Zweck.
Ich würde deshalb am liebsten ein Spendenkonto oder etwas ähnliches eröffnen zur Untersützung der wenigen vernünftigen Menschinnen, die ich kenne. Sie sind aber zu unauffällig, das macht die Sache schwierig. Vor allem leiden sie zu wenig, schade. Es fehlt ihnen das, was das Mitleid der Leute anspricht. Sie bekommen keine Likes auf Facebook, weil sie ihre Seite nicht richtig pflegen. Sie sind nicht wirklich cool. Sie taugen einfach für keine Kampagne, ehrlich mal. Daran sind sie selber schuld. Sollen sie doch selbst schauen, wie weit sie mit ihrer blöden…, ach was weiß ich, kommen.
Zu dumm nur , dass ich selbst einer von ihnen bin.
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