Die Welt als Hochseil (2. Teil)
Im Spannungsfeld von kollektiver Herkunft und individueller Zukunft
Im ersten Teil dieses Beitrages versuchte ich zu zeigen, dass sich die Welt menschlicher Vorstellungen und des praktischen Zusammenleben notwendig zwischen existenziellen Extrema aufspannt, um uns als Welt überhaupt gegeben zu sein. Das resultierende Spannungsfeld eröffnet sich dabei in ganz grundsätzlichen Dimensionen. Es präsentiert sich uns auch als Dichotomien unserer Vorstellung, z.B. jene von Teil und Ganzem, von natürlicher Gesetzlichkeit bzw. göttlicher Autorität und menschlicher Freiheit, von wahr und falsch oder von gut und böse. Immer ist jeder von uns aufgefordert, die Balance zwischen den Extrempunkten zu finden. Sie werden uns von unserer Kultur und unserem je aktuellen Lebenszusammenhang aufgedrängt, wie bei einem Akrobaten, der auf einem Hochseil über dem Abgrund der Orientierungslosigkeit balanciert. Vom Akrobaten unterscheidet uns allerdings die existenzielle Notwendigkeit, mit der wir die jeweils geforderte Balance zu suchen haben. Wir sind nicht frei, uns auf diesen Skalen zwischen den Extremen zu positionieren. Verweigern wir die Balance, so stürzen wir in die Verwirrung ab.
Die soziogenetisch vielleicht wichtigste Dimension solcher existenziellen Dichotomien ist jene unserer vollständigen Bestimmung als Mitglieder eines sozialen Kollektivs einerseits gegenüber unserer absoluten Individualität andererseits. Anthropologisch scheint sich die Identität des Individuums nach heutigem Kenntnisstand mehr aus ihrer vorgängigen Zugehörigkeit zum jeweiligen Kollektiv entwickelt zu haben. Darin wurden wir ursprünglich allesamt hineingeboren. Der Primat des Individuums vor dem Kollektiv ist dagegen historisch nicht nur relativ jung, sondern auch in den verschiedenen Kulturen der Welt sehr unterschiedlich stark ausgeprägt. Die westliche Kultur ist vielleicht diejenige, die von allen überhaupt am stärksten den Vorrang des Individuums vor dem Kollektiv behauptet. Als Folge davon sind ihre Mitglieder aber auch am nachhaltigsten jener Notwendigkeit zur Balance, jenem Zwang zur Suche einer dynamisch-stabilen Position zwischen den Extrema reiner Kollektivität und reiner, solitärer Individualität ausgesetzt.
Die Frau als unfreiwillige Entdeckerin der Individualität
Nun ist die anthropologische Bestimmung der Herkunft des Individuums aus dem Kollektiv so lange unschlüssig, wie wir nicht einen grundsätzlichen, fundamentalen Entwicklungsanstoß aufzeigen können, der die Entwicklung eines Bewusstseins von Individualität im Gegensatz zum Kollektiv überhaupt erst in Gang setzte. Hier wiederum liegt es nahe, eine Parallele zu entsprechenden theoretischen Überlegungen zur Entwicklung der Sprache aus der mütterlich-kommunikativen Fürsorge für das jahrelang noch nicht allein lebensfähige Kleinkind zu ziehen[1]. Meine These lautet hier: Die exotribalen[2], patrilinearen Heiratstraditionen fast aller menschlichen Kulturen sind der Keim des Bewusstseins menschlicher Individualität infolge existenzieller Fremdheit. Denn der Wechsel - fast überall - der Frauen von ihrem Herkunftskollektiv in ein ihnen zunächst völlig fremdes, neues Kollektiv als Folge eines exotribalen sexuellen Bindungszwanges kann man psychosozial nicht anders als Identitätsschock für jede einzelne der betroffenen Frauen verstehen. Dies umso stärker, als man behauptet, dass die ursprüngliche Identität eines jeden Menschen auf seiner sozialen Genese in seinem Herkunftskollektiv beruht.
Die Folge dieses Schocks ist die existenzielle Notwendigkeit einer Vermittlung in jedem Einzelfall zwischen der aufgezwungenen Einzelheit als Einsamkeit in fremder Umgebung (nämlich dem ihr unbekannten Zielkollektiv) einerseits und den positiven Möglichkeiten innerhalb dieses neuen Kollektivs andererseits. Damit wäre der Ursprung des existenziellen Bewusstseins menschlicher Individualität vor allem all jenen Frauen gutzuschreiben, denen infolge des exotribalen Bindungszwanges ihrer jeweiligen Kultur auch eine sozial fundamentale Neuorientierung zugemutet wurde. Deren Aufdringlichkeit lässt sich wohl kaum überschätzen. Und ja: Es waren nachweislich ganz überwiegend die Frauen, denen diese grundlegende Entwicklungsaufgabe gestellt wurde.
Anders als bei unseren nächsten tierischen Verwandten spielt hierbei das menschliche Kognitionsvermögen eine zentrale Rolle, und das führt am Ende zur kommunikativen Einschreibung dieser Erfahrung in die generationsübergreifend konservierten Identitätsnarrative des gesamten Zielkollektivs.
Die Notwendigkeit lebenslanger Übung im Gleichgewicht
Auf den gemeinsam von Philosophie und Soziologie beackerten Projektionsflächen menschlicher Existenz zeigt sich die vielfältige Auseinandersetzung mit der Spannung zwischen Individuum und Kollektiv seit etwas mehr als einhundert Jahren besonders deutlich im Widerspruch des methodologischen Individualismus (der als Maxime immerfort Max Weber zugesprochen wird, obwohl Weber, abgesehen von ihrer einmaligen, wenn auch sehr berühmt gewordenen Erwähnung am Anfang von ‚Wirtschaft und Gesellschaft’, selbst praktisch nirgends dieser Maxime gefolgt ist) zu ihren unterschiedlich formulierten Gegensätzen, z.B. dem Strukturalismus oder dem Kommunitarismus, die allesamt auf die eine oder andere Art die vorrangige Determination des einzelnen Menschen in der sozialen Umwelt, in der er lebt, erkennen.
Nach meiner vorangehenden Darstellung jener notwendigen Balance zwischen den Extrema des Individuellen und des Kollektiven hat es nun keinen Sinn, ihren Ausgleich in Gestalt einer schlichten Aufhebung des Widerspruchs zu suchen. Denn diese Extrema spannen überhaupt erst den Erfahrungsraum auf, der eine Positionierung im Spannungsfeld des Widersprüchlichen gleichzeitig erzwingt und erlaubt. Vielmehr ist es die nie ganz endende, dynamische Synthese, die sowohl vom Kollektiv in seinen Traditionen und Riten, als auch vom Individuum in seiner alltäglichen Integration ständig geleistet werden muss, die das eigentliche Potenzial einer solchen Konfiguration eröffnet.
Welterzeugung ist Möglichkeitserzeugung. Erst indem wir uns diesem Spannungsfeld stellen, eröffnen wir uns seine speziellen Möglichkeiten, und zwar reale Wirkungsmöglichkeiten, d.h. soziale Potenz.
Doch was hält das Individuum zurück, diese Potenz nur zum Zweck eigener Machtvollkommenheit zu maximieren? Warum überwindet es die Schlucht zwischen Unterwerfung unter das Kollektiv und Einzelinteresse nicht durch die Maxime des Vorranges allein seines Einzelinteresses? Vielleicht sind wir, jeder Einzelne von uns, nicht stark genug, eine solche Maxime wirklich durchzuhalten, nicht einmal in der Vorstellung, auch wenn wir immer wieder von unserer individuellen Allmacht träumen und sie am Ende, sozusagen hilfsweise, um die Sehnsucht danach nicht ganz aufgeben zu müssen, auf unsere Götter projizieren.
Die Erfahrungsgemeinschaft als Ergebnis des Widerspruchs der Extreme
Stattdessen stützen wir uns, auch weil wir letztlich gar keine andere Quelle unserer eigenen Orientierung haben, auf die praktische und dauerhafte Erfahrungsgemeinschaft mit anderen Individuen. Mit ‚Erfahrungsgemeinschaft’ meine ich die labile Fortschreibung gemeinsamer Erfahrung im Spannungsfeld von Individuum und Kollektiv. Die Erfahrungsgemeinschaft ist keineswegs nur Praxis, sondern in Gestalt des beständig wachsenden individuellen und kollektiven Vorrats an gemeinsamen Erlebnissen und dem daraus abgeleiteten, synthetischen Narrativ eines umfassenden Ereigniszusammenhanges als ihre jeweilige Geschichte auch eine symbolische Gemeinschaft. Sie bildet sich nach kulturell ganz unterschiedlichen Regeln einer spezifisch sozialen Prozesslogik und verleiht ihr, wenn sie wie ein großer Strom das Ergebnis des Zusammenflusses vieler kleiner Erfahrungsnebenflüsse ist, unter Umständen sogar eine mächtige, über Tausende von Jahren reichende Kontinuität, die wiederum zur reichen Quelle immer neuer Individuen wird, die lebenslang um ihre Balance auf dem Hochseil ihrer je eigenen Existenz ringen.
Anmerkungen:
[1] Zum gegenwärtigen Stand anthropologischer Entwicklungstheorien mit weiteren Literaturangaben siehe zusammenfassend mein Handout zur MoMo-Veranstaltung am 23.02.2014 (Download).
[2] Der Ausdruck 'exotribal' bedeutet wörtlich lediglich 'außerhalb des Stammes'. Er wird hier jedoch in dem weiteren Sinne von 'außerhalb der eigenen Herkunftsgemeinschaft' gebraucht, was auch das Verlassen der bis dahin eigenen Familie, des bis dahin eigenen Clans etc. mit einbezieht.
(Autor: Wolfgang Sohst)
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