Der ungesühnte Königinnenmord
Was mit der Mutter aller Wissenschaften während der Aufklärung geschah
Die fundamentalen Vorstellungen eines Kulturkreises über die Beschaffenheit der Welt ändern sich nur sehr selten. Als ‚abendländische Kultur’ bezeichnen wir heute jene Sammlung basaler Vorstellungen von der Welt, der vor allem durch die mittelalterliche Übernahme der ontologischen Modelle Platons und Aristoteles’ in das Fundament der christlichen Metaphysik Eingang fand. Es mag dahin gestellt bleiben, ob unsere damit einhergehende kulturelle Identität womöglich eher die Folge einer Vereinnahmung ganz fremder Kulturgüter ist, vollzogen durch die im Hochmittelalter zum Hegemon urbi et orbi aufgestiegene katholische Kirche. Ähnliches tat sie ja auch mit der jüdischen Religion. Bereits zu Zeiten von Platon und Aristoteles galt allerdings jenes spezifisch philosophische Denken, dessen Früchte wir heute als Metaphysik bezeichnen, als die Königsdisziplin aller geistigen Bemühung. Die dahinter stehende Grundüberzeugung lautete: Vor aller Sinneswahrnehmung und der Rede über sie gibt es eine Welt, die wir mit unserer Geburt bereits vorfinden und in ihren Grundzügen weder verändern können noch wollen. Sie verändert sich an der Oberfläche zwar ständig und manchmal sogar sehr stark. Aber das tut sie aus ihrer eigenen Dynamik heraus, nicht weil Menschen die Welt beliebig kommandieren könnten. Das dürfte common sense sein, seitdem Menschen miteinander reden.
Am Anfang der besagten griechischen Hochblüte stand jedenfalls eine jener seltenen Revolutionen im kollektiven Denken, die bis heute nachhallt. Sie spielte sich als ideengeschichtlicher Bruch zwischen den Antagonisten Parmenides, dem holistischen Vertreter eines Weltganzen, und dem ziemlich genau ein Jahrhundert nach ihm geborenen Demokrit ab, dem Kombinatoriker der Atome (kleinster und daher unteilbarer Partikel). Auf die Einzelheiten des Widerstreits ihrer Weltentwürfe will ich hier nicht weiter eingehen. Wichtig ist allerdings, dass beide ihre Auffassungen als ontologische Modelle vertraten, d.h. als Schilderungen der Welt-an-sich, und keineswegs nur als Darlegungen subjektiver Auffassungen von der Welt in den Köpfen der Menschen. In diesem Sinne wurde an ihren Modellen auch weiter gearbeitet. Sowohl die sog. Ideenlehre Platons als auch die kosmische Sphärentheorie und weltliche Teleologie des Aristoteles erhoben allesamt einen ontologischen Geltungsanspruch. Und auch das christliche Mittelalter hatte keinerlei Interesse daran, die Welt-an-sich nur zu einer unsicheren Illusion unserer Vorstellung von ihr herabzuwürdigen. Zwar war der göttliche Geist mitsamt allen seinen Handlungsplänen aus christlicher Sicht dem Menschen absolut unzugänglich. Das änderte aber nicht im Geringsten etwas daran, dass die christliche Metaphysik, wie schon ihre griechisch-antike Blaupause, vollkommen fraglos einen ontologischen Geltungsanspruch hatte.
Tatsächlich wäre es bis zum 18. Jahrhundert wohl jedem Menschen, nicht nur im abendländischen Kulturkreis, einfach verrückt erschienen, wenn jemand behauptet hätte, die Dinge seiner Umgebung wären an sich selbst gänzlich unerkennbar, und alles was wir von der Welt mitbekommen, sei im Grunde genommen nur von uns selbst ‚konstruiert’ bzw. hergerichtet. Genau dies ist allerdings der Kern einer geistesgeschichtlichen Wende in der abendländischen Metaphysik, die sich zum Ende jenes 18. Jahrhunderts in Europa abspielte. Nach einigen eher unbedeutenden Anläufen in diese Richtung war es Immanuel Kant, der 1781 ein schwerfälliges Buch unter dem Titel „Kritik der reinen Vernunft“ veröffentlichte und damit den Grundstein seiner sog. Tranzendentalphilosophie legte. Über dieses Buch sagt der deutsche Wikipedia-Eintrag: „Die 'KrV' wird als eines der einflussreichsten Werke in der Philosophiegeschichte betrachtet und kennzeichnet einen Wendepunkt und den Beginn der modernen Philosophie.“ Das scheint mir nicht übertrieben. Umso erstaunlicher ist es, dass die Wirkung dieses Buches kaum aufzuhalten war, obwohl das darin beschriebene Weltmodell nicht anders denn als philosophischer Coup d’état zu bezeichnen ist. Es ist ein Putsch gegen vollkommen indisponible Merkmale unser aller Weltverhältnis. Kant behauptet nichts Geringeres als die Unerkennbarkeit der Welt außerhalb unserer Köpfe. Sogar Raum und Zeit werden von ihm kurzerhand zu reinen Formen der Anschauung zurechtgestutzt, also – in heutiger Sprechweise – zu neurophysiologischen Funktionen unserer individuellen Gehirne.
Das sollte eigentlich aberwitzig genug sein, um niemanden auch nur im Entferntesten in die Gefahr zu bringen, eine solche intellektuelle Münchhauserei ernst zu nehmen. Und selbst wenn es jemand wagte, wird dies doch notwendig immer nur leere Gedankenspielerei bleiben. Denn unser aller reales Leben endete ziemlich schnell im Irrenhaus oder mit dem frühen Tod, wenn wir eine solche Vorstellung von der Welt tatsächlich in die Praxis umzusetzen versuchten. Sie ist real schlicht unmöglich, und das haben auch schon kurz nach Erscheinen des besagten Buches einige Zeitgenossen Kants sofort bemerkt. Egal. Das Buch trat seinen ersten Siegeszug in Gestalt der Radikalisierung der kantischen Grundidee im deutschen Idealismus und später auch in den philosophischen Entwicklungen anderer Ländern an. Seine Grundaussagen wurden erst abgeschüttelt, nachdem sie im Verlauf des 19. Jahrhunderts immer spekulativer gerieten und mit dem Aufstieg der modernen Naturwissenschaften mit deren Erkenntnissen nicht mehr vereinbar waren. An ihre Stelle trat ein neues, formallogisch basiertes Weltverständnis, initiiert durch die Werke von Gottlob Frege, Bertrand Russell und Northorp Whitehead, unterstützt von Ludwig Wittgenstein. Auch sie waren aber, was die von Kant ausgelöste sog. ‚transzendentale Wende’ in unser aller Schädelinnenraum betraf, eher unentschieden. Erst die Positivisten, am radikalsten der Wiener Kreis mit ihrem frühen Rudolf Carnap, wollten, nunmehr mit aller Gewalt, die Welt da draußen wieder retten, indem sie am liebsten nur noch in Protokollsätzen gesprochen hätten und jede andere Form der behauptenden Rede einfach für baren Unsinn erklärten.
Das war den intellektuellen Zeitgenossen dann aber doch zu rigide. Seltsamerweise nahmen sie diesmal die Absurdität der positivistischen Metaphysik sehr deutlich wahr, suchten und fanden den Ausweg aus dieser Sackgasse aber, man glaubt es kaum: bei Kant!, diesmal als sog. Analytische Philosophie, die im Wesentlichen eine Sprachphilosophie ist und die Metaphysik folglich genau dort enden lässt, wo auch die Sprache endet. Da war er wieder, der alte Wein des kantischen Putsches, in neuen Schläuchen. Nun will ich die erkenntnistheoretischen Verdienste der Analytischen Philosophie nicht schmälern. Kurios ist allerdings die Beharrlichkeit, mit der auch die Philosophen dieser Epoche neuerlich genau das leugneten, was bereits Kant geleugnet hatte, nämlich die Erkennbarkeit der Welt jenseits – nun ja, nunmehr der Sprache. Natürlich wussten die Großmeister der Analytischen Philosophie genau, wer ihr intellektueller Stammvater war, und groß hielten sie ihn in Ehren. Das ändert freilich nichts daran, dass ihre Metaphysik genau so wenig Bodenhaftung hatte wie schon die kantische. Ihre Ontologie versank im Treibsand der Sprache.
Wie konnte es sein, dass sich eine so abwegige Idee wie Kants Transzendentalphilosophie in den Köpfen so vieler kluger Menschen in immer wieder neuem Gewande einnistete? Nun, ich möchte mit Panajotis Kondylis die Vermutung wagen, dass es schlicht die geschichtlichen Umstände und Zwänge waren und damit der historische Zufall, die den kantischen Königinnenmord nicht nur an irgendeiner, sondern überhaupt an jeglicher Ontologie (im Sinne einer Grundlehre von der realen Welt) geschehen ließen. Und was einmal als Idee in die Welt gesetzt ist, entfaltet schnell ein sehr zähes Eigenleben. Der Grund hierfür ist vielleicht der seitdem immer wieder eingebildete Mangel an Alternativen - eingebildet deshalb, weil sich gleichzeitig die Naturwissenschaften, ungerührt von solchen Verwirrungen, mit großem Erfolg die reale Welt vornahmen; allerdings nicht primär auf philosophischem Terrain. Bis heute ist dieser intellektuelle Königinnenmord an der Ontologie als Mutter aller Wissenschaften ungesühnt. Aber vielleicht wird ja unter anderem durch diesen kleinen Artikel eine Wiederaufnahme des Verfahrens erreicht.
Wer sich mit der Geschichte der Aufklärung beschäftigt hat – und dies hat Panajotis Kondylis in seinem Standardwerk „Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus“, 1984, Neudruck im Meiner Verlag, 2002, auf anerkannt vorbildliche Weise getan –, der wird nicht umhin können zu sehen, dass die Epoche der Aufklärung in der Tat eine sehr revolutionäre Zeit war. Der alte ideologische Hegemon, den die Aufklärer und vorher schon die Rationalisten bekämpften, war die Metaphysik der christlichen Kirchen mit ihrer Sinnen- und Körperfeindlichkeit, ihrem aggressiven Widerstand gegen jede wissenschaftliche Evidenz, die nicht nahtlos in ihre Lehren passte. Dieser Kampf hatte sich schon lange vor Kant entzündet: Hobbes, Spinoza, Montaigne, Montesquieu und viele andere große Geister führten die ersten scharfen Streiche. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts schien der Kampf zugunsten der hauptsächlich französischen Aufklärer, diesen brillantesten Köpfen ihrer Zeit mit Voltaire als ihrer Speerspitze, schon fast entschieden. Doch leider gab es da noch ein unbearbeitetes und doch so ungemein wichtiges Feld, auf dem die christliche Ideologie und ihre Vertreter auf Erden nicht so leicht zu schlagen waren: der Entwurf eines allgemeinen, d.h. kosmisch gültigen Modells, wie die Welt realiter beschaffen sei. Zwar hatten Kopernikus, Kepler, Galilei und später Newton hier schon gute Vorarbeit geleistet. Doch es fehlte nach wie vor an einer Ontologie, die auch von den Alltagsdingen handelte. Denn schließlich besteht der Kosmos für uns vor allem aus den Dingen, die uns unmittelbar umgeben, nicht aus astronomischen Objekten und mathematisch bestimmbaren Planetenbahnen. Hier herrschte Ratlosigkeit. In diese Lücke sprang Kant mit seinem großen Gespür für deftige Wirkung.
Nun war Kant unbestritten ein sehr fähiger Kopf. Allerdings konnte auch er nicht einfach aus dem Hut zaubern, was nicht entweder trivial oder ohnehin schon von den christlichen Kirchen in ihrem eigenen ideologischen Sinne vereinnahmt war. Folglich tat er etwas, das man wohl nicht anders denn als untaugliche Ersetzung der ungeliebten alten, sprich: christlichen Ontologie beschreiben kann, dieses Ungetüm mit seinen irdischen und himmlischen Sphären plus Paradies und Hölle, mit seinem ganzen Panoptikum des Aus-eins-mach-drei-Gottes (Vater, Sohn und heiliger Geist) samt Teufel und Engeln, dazwischen die armen, weil unheilbar erbsündigen Menschen als Vermittler zwischen undurchschaubarem göttlichem Willen und fast nichtswürdiger irdischer Natur. Ein solches unendliches Labyrinth aus schon über Jahrhunderte gewachsenen Vorstellungen, so widersprüchlich und tyrannisch diese auch sein mochten, lässt sich nicht mehr reformieren. Das wusste Kant, und deshalb – und dies sind die mildernden Umstände, die wir ihm zugestehen wollen – durchschlug er das ganze wirre Erbe der alten, religiösen Ontologie mit einem einzigen Streich: ‚Da draußen’ gibt es zwar irgend etwas, aber ganz sicher nicht das, was die christliche Lehre uns weiszumachen versucht. Ich, der Herr Kant, enthalte mich im Übrigen genauerer Auskünfte über die Dinge an sich, damit mir die hohen Herren dieser Welt nicht zu sehr auf den Leib rücken. Kant wäre immerhin schon früh gerne ordentlich bestallter Professor in preußischen Diensten geworden. Die besagten Herren ließen sich damit aber sehr lange bitten. Folglich warf er zwar nur indirekt, doch keineswegs weniger wirksam, die gesamte christliche Ontologie in toto auf den Müllhaufen der Geschichte und erklärte stattdessen die Innenwelten unseres Verstandes und unserer Vernunft zum unhintergehbaren Fundament allen Nachdenkens über die Welt.
Philosophisch war dies ein Coup d’état, weil Kant durch seine Tat die Erkenntnistheorie vor die Ontologie stellte und damit letztere zur leeren Hülle degradierte. Dies war allerdings ein wahrer Pyrrhussieg des intellektuell-preußischen Feldherrn. Im Getümmel des gesellschaftlichen Kampfes sah er offenbar keinen anderen Ausweg als das Kind mit dem Bade auszuschütten. Denn von was soll eine Erkenntnistheorie überhaupt handeln, wenn sie gar nichts hat, das sich erkennen ließe, weil ihr die logisch vorangehende Ontologie genommen wurde? Nun sind jene Zeiten zwar schon lange vorbei. Ihre Ideen halten sich aber noch immer in vielen Köpfen. Die Metaphysik hatte ihre schwersten Zeiten schließlich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wo gleichzeitig zu philosophisch extremster Ausnüchterung verheerende staatliche Gewaltorgien, ‚Krieg’ genannt, in unvorstellbarem Ausmaße stattfanden. Nach 1945 verwechselte selbst noch ein Großmeister des Denkens wie Theodor W. Adorno in seiner ‚Negativen Dialektik’ Täter und Opfer und erklärte neuerlich jegliches Ontologisieren zum Brutkasten ideologischer Gewalt. Erst die letzten Jahrzehnte unserer Gegenwart brachten, zunächst noch schüchtern, eine neue Gesellschaftsfähigkeit ontologischer Modelle zurück in die öffentliche Diskussion.
Nun denn: Der Kant war’s. Wir sollten jetzt aufhören, weiterhin seinen verworrenen Produkten historischer Zufälle hinterherzulaufen, nur weil ihr Erfinde schon lange auf den Sockel philosophischer Heiligkeit gestellt wurde. Das war wohl das letzte, was er sich wünschte. Seien wir lieber wie er selbst: kritisch! (ws)