Nietzsche ist tot. Und Kafka hat ihn getötet.

 

Nietsche und Kafka verweisen auf usn

Da wurde etwas ausgebrütet. Jetzt müssen wir damit klarkommen.

Heute Nacht befiel mich der Geist von Franz Kafka. Ganz real. Ich (männlich, 68 Jahre alt) träumte, dass ich ins Gefängnis komme, ortlos, grundlos. Ich hatte diesbezüglich keinen Vorwurf, sondern versuchte mich lediglich in die neue, unkomfortable Situation einzufinden. Die hässliche Traumzelle war ca. 4 m² groß, glatte, braunspeckige Wände ohne Fenster, darin zwei Pritschen, die fast den gesamten Raum einnahmen und nur 20 cm voneinander getrennt waren. Mein Zimmerkollege sollte demnächst eingeliefert werden. Beunruhigend war ferner, dass meine Zelle eine unverschlossene Metalltür zur Nachbarzelle mit vier Betten hatte, in der vier kahlrasierte, tätowierte Muskelpakete einquartiert waren und stumpfsinnig auf ihren Betten saßen. Sie warfen mir nur kurze, misstrauische Blicke zu. Ich überlegte, ob mir die Wärter zu Hilfe kommen würden, wenn sie mich zu vergewaltigen versuchen. Vermutlich nicht. Außerdem fürchtete ich mich vor der unendlichen Langeweile, die auf mich zukommen würde, weil ich meinen Laptop nicht mit in die Zelle nehmen durfte. Dann wachte ich besorgt auf. -

Der wirkliche Kafka war im Nachhinein unzufrieden mit dem Schicksal, das sein Protagonist Josef K. in "Der Prozess" erlitt. Er wird hingerichtet, ohne zu wissen, was ihm überhaupt vorgeworfen wurde. Dies ist der Grundtenor des Weltverhältnisses aller Erzählungen Kafkas: Die Welt ist grausam, vollkommen grundlos. Kafkas Größe liegt vielleicht gerade darin, dass er der Bedeutungslosigkeit des Individuums einen emotional enorm schillernden Rock anzog, statt es zu heroisieren. Seine Mitleidlosigkeit ist nicht Kälte und auch kein verstecktes Selbstmitleid, sondern schierer Realismus. Er ist kein Gegner der Moral wie Nietzsche, dessen Zarathustra noch im Pathos watet, sondern schildert den realisierten Übermenschen als eine jämmerliche Person, die noch nie an die Moral geglaubt hat. Er ist der erste, echte Post-Nietzscheaner, auf erschreckende Weise von allen Sinnillusionen befreit. Kafka sagt, ohne es auszusprechen: Niemand hat Gott getötet, weil es nie ein Wesen dieses Typs gab, das man überhaupt hätte töten können. Denn 'Gott' steht für den letzten, absoluten Sinn der Welt, und den könnte man ohnehin nicht töten, wenn es ihn denn gäbe. Das schwante schon Nietzsches guruhaftem Zarathustra.

Wer hilft uns, den verlorenen Weltsinn wiederzugewinnen?

Im Lichte des Personals in Kafkas Geschichten erscheint der moralische Nihilist Nietzsche als ein zaudernder Übergangsdenker, der zwar mit witzigen Bonmots und interessanten Argumenten aufwartet. Er konnte aber noch nicht wissen, was es heißt, einen Ersten Weltkrieg zu erleben: Absolute Sinnlosigkeit der Massen-Selbstvernichtung Europas. Und Kafka wusste noch nicht, was es bedeutet, gleich darauf noch einen Zweiten Weltkrieg über sich ergehen zu lassen: Noch einmal gesteigerte Massen-Selbstvernichtung, jetzt global und nicht nur militärisch, sondern auch noch mit multiplem, rassistischem Genozid. Nach diesem Schock plus zwei Atombombenabwürfen war zwar erst einmal Ruhe im positivistisch-nihilistisch-amoralischen Karton: Brav wurde die UNO gegründet, Menschenrechtserklärungen wurden verabschiedet, die Welt schwor Besserung. Unter der Oberfläche dieser neuen Friedlichkeit werkelten die Sowjetunion und die USA aber fleißig weiter an noch mächtigeren Massenvernichtungswaffen. Der Stachel unendlicher Aggression, den die Moral bändigen sollte - und damit auch der von Nietzsche so gescholtene christliche Gott - war keineswegs gezogen; er wurde nur temporär mit einem Gegenstachel entschärft. Das Ganze nannte sich 'Gleichgewicht der (Vernichtungs-)Kräfte'. Dann 1989 der Zerfall der Sowjetunion, dann der 11. September, gefolgt von zahllosen neuen Kriegen im Nahen Osten, dann Vladimir Putin, der sein 'Schwesterland' Ukraine mit ungeheurer Brutalität überfällt, begleitet von Vergewaltigungsrhetorik, dann Trump, der jetzt auch was vom Kuchen abhaben will und Grönland, Kanada und den Panama-Kanal erobern will. Darf's noch etwas mehr sein?

Kafka ist wieder auferstanden. Es ist kein Zufall, dass er zur Zeit weltweit ein so ungeheures Comeback erlebt. Das entspricht der Ungeheuerlichkeit der Zeiten, in denen wir leben. Wir befinden uns in einem Labyrinth undurchschaubarer Dynamiken, hier moralisch, dort ökonomisch, da militärisch, und hier am Ende wieder komplett verwirrt. Ich lande im Traum in einem Gefängnis, von Vergewaltigern bedroht, ohne Grund und subjektiv ohne Vorwurf. Aber die Dinge sind mir längst über den Kopf gewachsen. Das Grundproblem ist nicht die Gefängniszelle und nicht einmal, ob ich meinen Aufenthalt darin überleben werde, sondern die Frage, welchen Sinn das alles hat. Wer an einen festen Sinn der Welt und seines eigenen, kleinen Lebens glaubt, hält alles aus: Märtyrer sterben gerne in diesem Zustand. Nur: Wir sind größtenteils keine Märtyrer, denn wir haben unseren Nietzsche und seinen Vernichter Kafka schon mit unserer Muttermilch getrunken, selbst jene, die deren Werke nie gelesen haben. Niemand entkommt dem Geist seiner Zeit. Und der wabert inzwischen um den ganzen Globus.

Nicht finden. Erfinden!

Wie also zurückholen, was es offenbar nie gab? Ich denke - nach dem besagten Traum - dass man mit der Suche nach dem Weltsinn getrost aufhören kann. Wir werden ihn nicht finden. Ok, was man nicht finden kann, lässt sich allerdings - eventuell - erfinden. So redete schon der Ironiker Voltaire über Gott! Nun soll sich allerdings niemand einbilden, dass ich oder du oder wer auch immer allein im einsamen Stübchen den Weltsinn erfinden kann. Das endet dann wie bei Nietzsche oder Kafka, die ebenfalls notorische Stubenhocker waren. Die Erfindung von Sinn ist eine kollektive Angelegenheit, oder im aufgeblasenen, politischem Neusprech: 'eine gesellschaftliche Aufgabe!' Nun denn, dann schauen wir mal, wie sich diese global-gesellschaftliche Hausaufgabe lösen lässt. Tatsächlich bedarf es dazu am Ende doch einzelner Beiträge der Schüler:innen, die sozusagen als Vorschläge bei der Klassenlehrer:in eingereicht und öffentlich verlesen werden.

MoMo Berlin wird in diesem Jahr seine zweite Preisfrage stellen und öffentlich ausloben. Alles daran wird demokratisch und folglich etwas chaotisch sein: Die Ermittlung der eigentlichen Frage, die Zusammenstellung der Jury, schließlich die Ermittlung des schönsten, überzeugendsten, seltsamsten, beeindruckendsten Beitrages und am Ende die Preisverleihung. Vielleicht machen wir dann ja gemeinsam den ersten Schritt heraus aus der Welt Nietzsches und Kafkas. Die verhieß leider nichts Gutes. Aber so muss es ja nicht bleiben. In grammatischer Umkehrung jenes berühmten Satzes von Angela Merkel möchte ich deshalb fragen: 'Schaffen wir das?' Vielleicht. Warum eigentlich nicht? (ws)

Frühere Leitartikel

Die künstliche Gesellschaft

Die gesamte industrialisierte Welt befindet sich seit der Veröffentlichung so genannter Large language models und deren Fähigkeit, künstliche mediale Inhalte von bisher unbekannter Qualität zu erzeugen, in einer Art Rausch: Der künstliche Mensch scheint endlich vor der Tür zu stehen. Aber wie sollen wir reagieren: Herzlich willkommen oder Schreck lass' nach? Deiser Beitrag schlägt eine Perspektive auf die so genannte Künstliche Intelligenz vor, die bisher vollkommen übersehen wurde: Warum geht es eigentlich immer nur im das künstliche Individuum, nie um die künstliche Gesellschaft?

Weiterlesen …

Aller wahren, guten und schönen Dinge sind drei

Was haben Platon, der Kirchenvater Athanasius und Einstein gemeinsam? Alle drei erfanden, jeder auf seine Weise, ein äußerst kompaktes, metaphysisisches Modell dessen, was die Welt im Innersten zusammenhält.

Weiterlesen …

Was ist Nihilismus?

Das Leben braucht Halt. Es bedarf einer Stütze, die die Last des Daseins Atlas gleich zu tragen, in der Lage ist. Das Leben, welches zwischen Himmel und Erde wirkt, benötigt die steinernen Schultern des Titanen, um das Himmelszelt zu halten, sodass die Sterne am Firmament blinzeln und jeden Winkel der Erde beleuchten können. Der Wert dieser Fähigkeit kann nicht in der kontingenten phänomenal-erlebbaren Welt liegen, da jede Tatsache wiederum nur auf eine andere Tatsache verweist, sodass dieser Verweisungszusammenhang zu keinem Abschluss käme. Der Sinn verlöre sich bloß in einer ewigen Kaskade gegenseitiger Beziehungen oder er würde gar leer bleiben, weil alles von allem zehrte, ohne Nahrung zu bieten. Hieraus entfaltet sich der Glaube an die Notwendigkeit eines absoluten Wertes; einer Wahrheit, die dem zufälligen Nexus des Erlebten enthoben ist, sodass sich transitiv der Sinn von jenem zu diesem fortpflanzen könne.

Weiterlesen …

Die Demokratie als Wettbewerb der politischen Ideen

Die Demokratie ist nicht nur - wörtlich übersetzt - 'Volksherrschaft'. Die frühere Herrschaft des Adels oder eines Tyrannen einfach durch die Herrschaft eines Volkes zu ersetzen, wäre ein ziemlich untaugliche Idee. Denn 'das Volk' ist undefiniert, sowohl hinsichtlich seiner Mitglieder als auch hinsichtlich seiner inneren Struktur. Die Herrschaft des Volkes - heute: eine unvermeidlich diversen Gesellschaft, die sich ihren Staat gibt - ist nur möglich, wenn (a) ihre innere Vielfalt ein notwendiges Merkmal ihrer Freiheit ist und (b) diese Vielfalt die alte Politik als reinen Machtkampf in eine neue Politik des Wettbewerbs der politischen Gestaltungs- und Entwicklungsideen überführt.

Weiterlesen …

Erlösung - Das größte aller Versprechen

Das zentrale und wichtigste Versprechen fast aller großen Religionen (bis auf den Hinduismus und Daoismus) ist die Erlösung von den Leiden und der Mühsal des irdischen Lebens. Nur das Christentum hat dieses Glaubensmotiv allerdings so tief in den Köpfen des christlichen Kulturraums verankert, dass es sogar die große Säkularisierung seit der europäischen Aufklärung mühelos überlebt hat. Dies geschah auf eine gleichermaßen überraschende wie einfache Weise: Es wurde zum Fundament des modernen Fortschrittsbegriffs. Die Folgen dieses Wandels im Weltverhältnis waren durchschlagend.

Weiterlesen …

Parteien-Elend

Bereits im Jahr 1911 schrieb der deutsche Soziologe Robert Michels ein bis heute viel beachtetes Buch mit dem Titel: Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie. Untersuchungen über die oligarchischen Tendenzen des Gruppenlebens. Seine Erkenntnisse, gewonnen aus seiner damaligen Mitgliedschaft in der damaligen, stark links orientierten SPD. Was er dort erlebte, gilt nicht nur für alle politischen Parteien, sondern generell für alle weltanschaulichen und religiösen Verenigungen. Es lohnt, einen erneuten und konstruktiven Blick daraus zu werfen, wie solche Gebilde entstehen, sich wandeln und irgendwann auch wieder untergehen.

Weiterlesen …

Subjektive und objektive Wirklichkeit

Vor unseren Augen entfaltet sich eine Spaltung der Welt in vielen Dimensionen: politisch, sozial, weltanschaulich und sogar technisch. Das ist für viele Menschen sehr beunruhigend. Im Folgenden soll es um eine besonders intensive Form dieser Spaltungen gehen, nämlich um jene einer subjektiven und objektiven Sicht auf die Wirklichkeit. Manche(r) wird sich beim Lesen dieses Satzes vielleicht fragen: Gibt es einen solchen fundamentalen Unterschied überhaupt? Die sardonische Antwort auf diese Frage kann nur lauten: Versuche es doch einmal ohne diese Unterscheidung; dann wirst du entweder bald in einer geschlossenen psychiatrischen Abteilung landen. Das nennt man dann nämlich 'Psychose'. Oder du bekennst dich zur Tyrannei absoluter Objektivität von allem, was dir so im Kopf herum geht und verdammst jeden, der dein Weltbild nicht teilt, als Lügner. Beides sind sehr abschreckende Szenarien. Das sollte besser gehen.

Weiterlesen …

Visionen ./. Illusionen

Von dem früheren deutschen Bundeskanzler Helmut Schmidt ist der Spruch überliefert: "Wer Visionen hat, sollte zum Augenarzt gehen". Er meinte dies zwar nur im Hinblick auf die politische Sphäre, aber selbst dort ist der Spruch inhaltlich schlicht falsch. Viel treffender wäre es gewesen, wenn Schmidt von Illusionen geredet hätte, die sich Politiker:innen aus dem Kopf schlagen sollten. Dann aber wäre der sarkastische Verweis auf die Augenärzt:innen nicht mehr passend gewesen, sondern eher auf Psycholog:innen. Doch wie sieht es eigentlich mit dem gesellschaftlichen Wert von Illusionen aus? Sind sie womöglich wirklich wertlos oder sogar gefährlich?

Weiterlesen …

Über den Unterschied von Leid und Empörung

Leid und die Empörung sind vielfach miteinander verbunden. Im Grunde sollte es niemandem schwerfallen, zwischen beidem zu unterscheiden. Ein Problem entsteht allerdings dann, wenn Personen das Leiden anderer benutzen, um damit ihre eigenen Ziele zu verfolgen. Das kann einfach eine seltsame Lust an der Empörung sein; es kann aber auch andere Zwecke hinter der Empörung geben, vor denen man sich in Acht nehmen sollte.

Weiterlesen …

Ihr da oben, wir da unten? - War einmal...

Seit dem Aufblühen der Industrialisierung in Europa, also ungefähr seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, wurde die wichtigste politische Frontlinie zunächst in Europa, später in der ganzen Welt, definiert als die Gegnerschaft zwischen Kapitalisten und Arbeitern. Der Vorwurf Letzerer lautete, von Marx ausführlich kommentiert: Ihr Kapitalisten nehmt uns den Wert unserer Arbeit weg und haltet uns in Armut, um unsere Abhängigkeit von euch nicht zu schmälern. Dieser Gegensatz wurde seitdem keineswegs aufgehoben, auch wenn er sich in größeren Teilen der Welt erheblich gemildert hat. Er wurde allerdings überholt, und zwar weder von 'links', noch von 'rechts', sondern von einer neuen Frontlinie, die in zwei Dimensionen definiert ist: (a) dem Gegensatz zwischen Nationalisten und Universalisten und (b) dem Gegensatz zwischen demokratisch-rechtsstaatlichen und autoritären Regimes.

Weiterlesen …